Das Team hielt vor dem Vorgarten des Hauses Nummer elf eine kurze Lagebesprechung ab. In der bitteren Kälte bildete ihr Atem kleine Dunstwölkchen, und Jonah fasste sich um seinetwillen wie um ihretwillen so kurz wie möglich.

»Ich fahre mit Juliette zu Alex’ Freundin«, erklärte er O’Malley und Lightman. »Domnall, Sie nehmen Louise Reakes mit zur Polizeistation, um ihre Aussage aufzunehmen. Und achten Sie darauf, dass sie in dem Protokoll das Motorengeräusch erwähnt. Ben, ich möchte, dass Sie diese Freundin von Louise darüber befragen, ob sie beim Verlassen des Hauses etwas Merkwürdiges gesehen hat. Louise glaubt, dass das so gegen Mitternacht war. Und Domnall, können Sie herausfinden, wann es gestern Nacht geschneit hat? Wir haben Abdrücke, die wahrscheinlich von dem Opfer stammen und entstanden sind, als es bereits aufgehört hatte zu schneien. Das engt unser Zeitfenster hoffentlich ein, bevor wir die Überwachungskameras auswerten. Im Augenblick betrachten wir die Zeit zwischen zwölf und vier, und wir haben bisher zwei Aussagen über laute Motorengeräusche in der Nacht.«

Lightman nickte. »Der Nachbar in Nummer neun meint außerdem, dass er von einer zuknallenden Tür geweckt wurde. Er glaubt, es wäre das Haus der Reakes gewesen, aber ich würde nicht ausschließen, dass es sich um eine Wagentür gehandelt hat.«

»Laut Louises bisheriger Aussage hat niemand mehr nach Mitternacht ihr Haus verlassen oder betreten«, sagte Jonah. »Das könnte also durchaus interessant sein.«

Sie gingen zu ihren Wagen. Jonah startete den Mondeo und

 

Als sie vor Alex Plaskitts Haus ankamen, wurde der morgendliche Verkehr gerade dichter. Das Haus lag in der Alma Road, kaum eine Meile von der Stelle entfernt, wo Alex’ Leiche gefunden worden war.

Jonah fand es immer schwierig, sich in diesem Teil der Stadt zu orientieren. Genau wie im Viertel The Polygon auf der anderen Seite von Southampton sah es im Grunde überall gleich aus, mit identischen, dicht an den Straßen stehenden Doppelhäusern aus rotem Backstein mit kleinen weißen Verzierungen.

Diese Gegend lag definitiv eine Sprosse tiefer auf der Wohlstandsleiter als Saints Close, doch Jonah mochte diese älteren, bescheideneren Gebäude deutlich lieber. Viele der Bewohner auf dieser Straßenseite hatten bunte Gartenmöbel und Pflanzentöpfe in ihre winzigen, von Mauern umgebenen Vorgärten gestellt, die unter der feinen Schneeschicht an diesem Morgen etwas von einer Weihnachtskartenidylle hatten.

Hanson folgte ihm zur Haustür und wirkte weniger nervös, als er erwartet hätte. Dies war erst das zweite Mal, dass seine Detective Constable eine Todesnachricht überbringen sollte. Vorausgesetzt natürlich, dass Alex’ Freundin tatsächlich hier wohnte, wie die Mitteilungen auf seinem Handy nahelegten.

Die schlimmste aller möglichen Nachrichten überbringen zu müssen, war zermürbend und hörte nie auf, zermürbend zu sein. Man fand bloß Wege, damit umzugehen.

Offenbar hatte Hanson einige davon schnell gelernt. Gezielt betrachtete sie jedes Detail des Hauses und der Straße, als ob sie sich alles genau einprägen und sich so von dem Bevorstehenden ablenken wollte.

Jonah drückte auf die altmodische Klingel und hörte sofort eilige

Als sie sich schließlich ganz öffnete, gab sie den Blick frei auf einen relativ kleinen, schmächtigen Mann von etwa dreißig Jahren, der gerade einen Autoschlüssel auf den Tisch im Flur legte. Für einen so frühen Samstagmorgen war er recht förmlich gekleidet, offenes weißes Hemd mit feinen Streifen und stonewashed Jeans. Dunkle müde Augen. Schwarzes hochgegeltes Haar, bronzefarbener Teint.

Er legte eine Hand an den Türrahmen, und Jonah bemerkte den Ehering.

Issa, dachte er und wusste nicht genau, wieso er angenommen hatte, dass Alex’ Partner eine Frau sein würde.

Der Blick aus den dunklen Augen zuckte zwischen ihm und Hanson hin und her, und Jonah sagte leise: »Ich glaube, dies ist das Haus von Alex Plaskitt.«

Er registrierte die Beinahe-Nichtreaktion, an die er inzwischen gewöhnt war. Die Reglosigkeit von Issas Körper, das minimale Aufflackern seines Blicks.

»Sind Sie vielleicht Issa?«, versuchte es Jonah neu.

»Ja. Was ist denn?«

»Dürfen wir reinkommen?«, fragte Jonah.

Wie fast jeder in dieser Situation, wusste Issa schon, was Jonah sagen würde. Jonah erkannte es daran, wie Issas Körper am Türrahmen zusammensackte und wie unkoordiniert er sie in das bunte Wohnzimmer führte.

Jeder Zweifel daran, dass sie die richtige Person angetroffen hatten, zerstreute sich, als Jonah auf dem mit Kissen beladenen Futon Platz nahm. Ein Foto mit Chromrahmen auf dem Tisch neben ihm zeigte Issa und ihr Opfer in Hochzeitskleidung. Sie grinsten in die Kamera. Alex’ Kopf, gut fünfzehn Zentimeter über Issas. Er hatte einen Arm um die Schulter des kleineren Mannes gelegt und wirkte auch etwa doppelt so breit wie sein Gatte.

Issa runzelte die Stirn und schlug eine Hand vor den Mund.

»Wie es aussieht, wurde er überfallen«, sagte Jonah vorsichtig. »Er wurde vor einem Wohnhaus gefunden.«

Issa warf ihm einen seltsam stechenden Blick zu. »Vor welchem Wohnhaus?«

»Einem Haus in Saints Close«, sagte Hanson beruhigend. »Kennen Sie die Straße?«

Issa schüttelte sofort den Kopf, stand auf und ging abrupt zu einem Schreibtisch. Mit heftig zitternder Hand nahm er ein Handy.

»Er sollte nach Hause kommen«, sagte er. »Ich habe versucht, ihn anzurufen.«

Und dann fing er an zu weinen.

 

»Bitte nehmen Sie hier Platz«, erklärte O’Malley Louise Reakes, die mittlerweile mit einem Jerseykleid und einem mit Fell gefütterten Parka bekleidet in dem Vernehmungsraum saß. Er stellte einen großen Becher Tee vor ihr auf den Tisch. »Wir nehmen Ihre Aussage auf, sobald Sergeant Lightman zurück ist.«

»Danke«, sagte Louise. Sie streckte die Hand nach dem Becher aus, ließ sie dann aber wieder sinken und starrte reglos auf den Dampf.

»Wann kommt Ihr Mann zurück?«, fragte O’Malley, als er daran dachte, dass sie vielleicht allein nach Hause zurückkehren und an der Stelle vorbeigehen musste, an der ein junger Mann gestorben war. Sie könnte Unterstützung gebrauchen.

Sie hob langsam den Blick und sagte: »Ich weiß nicht genau. Irgendwann am Nachmittag, glaube ich.«

»Wo ist er?«

»In Genf.«

»Ah, also ziemlich weit weg«, sagte O’Malley leise. »Er macht sich bestimmt Sorgen um Sie.«

O’Malley ertappte sich dabei, ihren Blick mit einem ähnlichen Gesichtsausdruck zu erwidern. »Sie haben ihm keine Nachricht geschickt oder irgendwas?«

Louise schüttelte den Kopf, blickte auf das Handy, das sie vor sich auf den Tisch gelegt hatte, und verschränkte hektisch die Arme vor der Brust. »Nein. Ich wusste nicht genau, ob ich das tun sollte.«

»Also, ich würde es machen«, sagte O’Malley leise. »Sie werden sich besser fühlen, nachdem Sie darüber gesprochen haben.«

 

Lightman hatte ein paarmal erfolglos versucht, Louises Freundin April zu erreichen. Am Ende beschloss er, zu ihrer Wohnung am Admiral’s Quay zu fahren. Sie lag im neuen Ocean-Village-Quartier an den Docks, einem Neubauprojekt, in dem die Wohnungen deutlich über seiner Preisklasse lagen, wie er wusste, weil er einmal gelangweilt in einem Prospekt geblättert hatte.

Das Erdgeschoss erinnerte an ein Hotel. Es gab eine Bar, einen Portier und einen Aufzug, für dessen Betrieb man einen besonderen Schlüssel brauchte. Lightman überredete den Portier, April Dumont zu wecken und ihm Zutritt zu dem Fahrstuhl zu gewähren. Der ergraute Mann lehnte sich durch die Tür und drückte auf den Knopf für die oberste Etage, bevor er den Kopf neigte und sich abwandte. Die ganze Prozedur machte Lightman verlegen.

Wie sich herausstellte, nahm Aprils Wohnung das komplette Dachgeschoss ein. Er trat aus dem Aufzug in einen Flur mit nur einer Tür. Der Raum war goldfarben beleuchtet und musterhausmäßig möbliert, fand Lightman. Es gab kaum Anzeichen dafür, dass hier tatsächlich jemand wohnte. Es war eine vollkommen andere Welt als Louise Reakes’ solides Einfamilienhaus, und Lightman fragte sich, womit April ihren Lebensunterhalt verdiente.

Die Tür wurde geöffnet, bevor er sie erreichte, und eine blonde

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie geweckt habe«, sagte Lightman und blieb ein Stück vor ihr stehen. Er empfand das unvermeidliche Unbehagen, das einen beschlich, wenn man einer äußerst spärlich bekleideten Frau gegenüberstand. Also tat er, was er meistens tat, und blendete alles aus, was nicht dazu diente, sein Gegenüber einzuordnen. Er bemerkte ihren Akzent, der den rollenden Singsang einer Amerikanerin aus dem tiefen Süden oder dem Mittleren Westen hatte. Er bemerkte das unter ihren Augen verschmierte Make-up. Den glasigen Blick. Das Tattoo knapp über dem Ausschnitt ihres Negligés. »Ich muss Ihnen nur zwei oder drei kurze Fragen zu gestern Abend stellen.«

»Gestern Abend?«, fragte April.

»Heute Morgen wurde im Vorgarten eines Hauses in Saints Close ein junger Mann tot aufgefunden«, erklärte Lightman ihr. »Soweit ich weiß, waren Sie gestern Abend dort.«

»Was zum Teufel …?«, fragte April. Sie machte einen Schritt zurück und sagte unvermittelt: »Okay, kommen Sie einen Moment rein. Ich bin allein …«

Er folgte ihr in einen riesigen hellen Wohnzimmerbereich mit modernen blockartigen Stühlen, bodentiefen Fenstern und Hafenblick auf zwei Seiten. Genau wie der Flur sah der Raum beinahe unbewohnt aus. Nur zwei benutzte Gläser, eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug auf dem Couchtisch störten den Musterhauseffekt.

April warf sich mit einem sehr leisen Stöhnen auf eins der Sofas.

»Okay. Schon besser.« Sie strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Entschuldigen Sie. Womöglich habe ich es gestern mit dem Tequila übertrieben. Bitte sprechen Sie langsam.«

»Selbstverständlich«, sagte Lightman. »Es sollte nicht lange dauern. Wir möchten lediglich klären, um welche Uhrzeit Sie das Haus verlassen haben und ob Sie etwas Merkwürdiges gesehen oder gehört haben.«

»War zu diesem Zeitpunkt irgendjemand vor dem Haus?«

»Ich habe niemanden gesehen«, sagte April und fokussierte ihren Blick auf ihn. »Hey, ist mit Louise alles in Ordnung? Sie sagten, man hätte vor ihrem Haus einen Toten gefunden? Im Garten?«

»Ja, Louise geht es offenbar so weit gut, aber den Toten zu finden, war natürlich ein Schock.«

»Meine Güte.« Aprils Miene verfinsterte sich. »Ich schick ihr eine Nachricht.«

»Haben Sie jemanden herumfahren hören?«, fuhr Lightman fort. »Irgendwelche seltsamen Geräusche?«

Nach einer weiteren Pause schüttelte April den Kopf. »Nein. Das Taxi hat mit Standlicht und ausgeschaltetem Motor vor dem Haus gewartet, man sollte meinen, wir hätten etwas bemerkt, wenn … Erinnert Louise sich daran, etwas gehört zu haben?«

»Nichts Konkretes«, antwortete Lightman.

April nickte sehr langsam. »Scheiße«, sagte sie. »Das ist das verdammt Letzte, was Louise braucht. Das Letzte.«