Kapitel 2
Es waren genau acht Tage, sieben Stunden und zwanzig Minuten vergangen, seit sich unser Leben durch den tragischen Tod unserer Eltern komplett verändert hatte. Heute war der Tag der Beerdigung. Darina und ich trugen beide schwarze Kleidung. Doch selbst das schwärzeste Schwarz wäre nicht dunkel genug gewesen, um unsere Trauer zu verdeutlichen.
Gerade steuerten wir die Haustür an. Kurz bevor wir sie erreichten, hielt ich noch einmal inne und meine Schwester am Arm fest. Eine Strähne hatte sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst und ich platzierte diese vorsichtig wieder dort, wo sie hingehörte.
»Danke«, kam leise über ihre zarten Lippen.
Ich umfasste ihre Wange, damit sie mich ansehen musste.
»Wir schaffen das gemeinsam, hörst du?«
Sie nickte mir dankbar zu und ich gab ihr noch einen Kuss auf die Stirn. Diese harte Zeit hatte uns noch mehr als früher zusammengeschweißt. Ein letztes Mal blickte ich mich in dem großen Spiegel im Flur an und atmete geräuschvoll aus. Mein Kleid war knielang und ab der Taille ausgestellt, meine Füße steckten in schwarzen Pumps, die jetzt schon schmerzten. Das lange Haar trug ich offen und leicht gewellt und meine dunkel geschminkten Augen schrien förmlich nach Trübsal. Seit dem Tod unserer Eltern hatten sowohl Dina als auch ich keinen anderen Farbton mehr getragen. Es war einfach ein Zeichen unseres Leidensweges.
Die Bestattung sollte nur im engsten Kreis der Familie stattfinden, den Kollegen meiner Eltern hatte ich abgesagt. Ich konnte so etwas gerade echt nicht ertragen. Es gab zu viele Leute, die einfach auf einer Beerdigung auftauchten und so taten, als würde man sich ein Leben lang kennen. Das war die bittere Wahrheit. Auch, wenn sie schmerzte. Der Mensch war ein Wesen, was sich auch zu den ungünstigsten Momenten wichtigtun musste.
Nachdem wir auf dem Friedhof von Queens Creek angekommen waren, blickte ich mich um und verschaffte mir einen Überblick. Das Gelände wirkte sehr gepflegt. Glatt hätte es als Park durchgehen können.
Wir nahmen in der Kapelle in der ersten Reihe Platz und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als ich die Särge vorne stehen sah. Jetzt wurde mir erst richtig bewusst, dass ich Mum und Dad nie wieder in den Arm nehmen können würde. Ihre seelenlosen Körper lagen dort vorne, keine drei Meter von mir entfernt, in einem kalten Holzsarg. Es würde nie wieder Späße geben, nie wieder Ausflüge, kein gemeinsames Essen und nie wieder würde ich ihre Liebe spüren. Alles, was uns jetzt noch blieb, waren die Erinnerungen an die schönen Augenblicke mit ihnen.
Die Tür ging erneut auf. Instinktiv drehte ich mich um und riss beim Anblick der Person, die gerade eingetreten war, die Augen auf: Oma Tana. Seit ihrem Streit mit meinem Vater hatten wir keinen Kontakt mehr zu Oma. Wie es zu diesem gekommen war, wusste ich nicht. Als Oma uns sah, kam sie schnurstracks auf uns zugelaufen. Sie war noch gar nicht richtig bei uns, da sagte sie auch schon außer Atem:
»Ach, meine Mäuse … es tut mir so unendlich leid. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, nachdem ich davon erfahren habe. Die Polizei hat mich erst vor drei Tagen benachrichtigt!« Kurz holte sie Luft und ihre zuvor noch aufgebrachte Stimme wurde leiser, brüchiger. »Ich habe euch so vermisst. Ich werde erstmal bleiben, um euch zu unterstützen.« Sie drückte uns beide fest an sich. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln und liefen ihr über die Wangen. Ihr Schluchzen war herzzerreißend.
Alles in mir zog sich zusammen. Aber zumindest sollten wir jetzt nicht mehr allein mit unserer Trauer sein. Ich war unendlich froh, dass sie nun hier war. Jetzt würde alles besser werden.
Die Trauerrede gefiel mir sehr gut und würdigte meine Eltern.
Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so viel geweint zu haben, wie in dieser halben Stunde. Aber es tat gut. Alles, was ich die letzten Tage unterdrückt hatte, drängte nun an die Oberfläche. Es war, als hätte sich ein Ventil geöffnet. Dina erging es ähnlich. Mit zittrigen Händen schob ich ihr ein Taschentuch nach dem anderen zu und strich ihr beruhigend über den Rücken.
Schließlich gingen wir nach draußen, um ihre Särge zu Grabe zu lassen. Das Wetter verhöhnte uns, denn es regte nun in Strömen. Wie im Film. Ein Glück hatten wir Schirme in meinem Kofferraum. Ich holte sie schnell und reichte Dina einen, die in der Kapelle auf mich gewartet hatte. Zusammen mit Grandma und den Angestellten des Friedhofs gingen wir in Richtung der Gräber. Der geteerte Weg endete und meine Pumps sanken in den aufgeweichten Untergrund, der aus Sand und Matsch bestand. Kleine Steine knirschten unter meinen Sohlen und es schien, als würde die Natur mit uns trauern. Mich fröstelte es. Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Nun musste ich stark sein, auch wenn es schwer sein würde. An dem Doppelgrab angekommen schloss ich meine Augen, versuchte, meine Atmung zu beruhigen, und hörte Dina erneut bitterlich neben mir weinen. Ich drehte mich zu Oma und sah, dass sie still mit uns litt. So wie wir unseren Vater verloren hatten, so hatte sie ihren Sohn verloren. Ich ging als erste ans Grab, als die Särge eingelassen worden waren, und nahm eine Hand voll roter Rosenblüten. Ein Zeichen der unendlichen Liebe. Mit wässrigen Augen bückte ich mich herunter und streute sie auf das dunkle Holz.
War das hier wirklich real? Würde ich gleich aus diesem Albtraum aufwachen?
Sekunden vergingen, doch nichts dergleichen geschah.
Langsam erhob ich mich, wischte mir mit dem Ärmel über das Gesicht und ging zu den Bäumen am Rand. Während ich dort auf die anderen wartete, spürte ich plötzlich Blicke auf mir. Ich suchte das Gelände ab, sah auf Anhieb aber niemanden. Drehte ich nun völlig durch? Gerade wollte ich mich abwenden, da bemerkte ich einen dunkel gekleideten Mann, der einige Meter entfernt von mir stand. Er war groß, breit gebaut und starrte direkt zu mir. Da einige Strähnen unter der Kapuze seiner Lederjacke hervorschauten, konnte ich erahnen, dass er dunkle Haare haben musste. Sein Gesicht war aufgrund des diesigen Wetters und der Entfernung nicht zu erkennen. Lediglich seine hellen Augen stachen deutlich hervor. Immer wieder suchten wir unwillkürlich Blickkontakt zueinander. Irgendetwas an ihm sagte mir, dass er wusste, was ich empfand. Sofort hatte ich eine Art Verbundenheit gespürt. Da war dieses Verständnis in seinen Augen. Ob er den Schmerz kannte, der mich seit Tagen zerfraß? Ob er ihn selbst schon einmal erlebt hatte? Ich presste die Lippen aufeinander und wandte mich ab, um zum Grab zu sehen. Gerade begannen die Angestellten, die Särge hinabzulassen und sie mit Erde zu bedecken. Als ich wieder nach dem Mann sehen wollte, war er verschwunden.
Die Beerdigung war vorbei. Viel zu schnell. Und doch nicht schnell genug.
Dina und ich fuhren vor und Oma folgte uns in einem Leihwagen. Meine Schwester seufzte leise neben mir:
»Weißt du, Kaycee, wenn du arbeiten bist, fühle ich mich so allein. Ähm … « hoffnungsvoll schielte sie zu mir herüber. »Vielleicht könnten wir uns einen Hund holen. Du wünschst dir doch auch schon länger einen. Ich weiß, es ist nicht der beste Zeitpunkt und du denkst, ich spinne, aber Tiere geben einem so viel Liebe.«
Ich sah meine Schwester kurz mit gerunzelter Stirn an, bevor ich meinen Blick wieder auf die Straße richtete.
Wieso kam sie ausgerechnet jetzt auf diese Idee? Es stimmte, dass sie oft auf sich gestellt war, aber irgendwer musste eben Geld verdienen und die Rechnungen bezahlen. Trotzdem war mir bewusst, dass sie recht hatte. Gerade Hunde waren extrem treue Tiere und gaben einem sehr viel Liebe zurück. Und durch das Spazierengehen und Kümmern kam man auf andere Gedanken. Ich lächelte verhalten.
»Wir können uns ja mal in den Tierheimen in der Nähe umhören und schauen, ob dort der richtige Hund auf uns wartet.«
Sie nickte erfreut und endlich sah ich das erste Mal seit langem ein kleines Glitzern in ihren Augen. Schon diese kleine Emotion sagte mir, dass es die richtige Entscheidung war.
Zuhause angekommen redeten wir unendlich lange mit unserer Grandma, erzählten ihr alles, was in den letzten Jahren passiert war. Schütten ihr unsere Herzen aus und ließen den Tränen freien Lauf. Alle drei saßen wir hier in unserem Wohnzimmer und wussten nicht, wieso wir so lange keinen Kontakt gehalten hatten. Es war traurig, aber nun würde es wieder anders werden. Ich vermisste meine Familie. Doch würde es für uns in Frage kommen, nach Deutschland zurückzukehren? Nach all dem? Wir hatten hier unser Leben aufgebaut und ich konnte mir nicht mehr wirklich vorstellen, wieder umzuziehen. Hier hatten wir das Haus, was meine Eltern abbezahlt hatten. Hier waren ihre Körper begraben. Es würde eine schwere Entscheidung werden, die ich zum Glück nicht sofort treffen musste. Die Zeit verging wie im Flug, bis ich mich schließlich verabschiedete, um ins Bett zu gehen.
Als ich einschlief, hatte ich diesen fremden Mann vor Augen. Seinen durchdringenden, wissenden Blick. Ihn würde ich so schnell nicht vergessen können.