Mittlerweile hatte sich eine Art Routine eingeschlichen. Vier Wochen arbeitete ich nun schon in der Bar und Stella und ich waren gute Freundinnen geworden, die sich über alles aussprechen konnten.
In den Pausen, oder auch, wenn wir wenig zu tun hatten, plauderten wir die ganze Zeit miteinander. Tatsächlich konnte ich mit ihr so viel lachen, wie bisher mit niemandem. Das war ein großartiges Gefühl. Stella hatte mir einiges über ihre kleine, fünfjährige Tochter Mina erzählt. Minas Vater hatte die beiden verlassen, weil er seine Freiheit nicht aufgeben hatte wollen. Dabei bedeutete ein Kind doch nicht automatisch Gefangenschaft. Wie konnte man nur so herzlos sein? Irgendwie hatte ich oft das Gefühl, dass manche schlichtweg keinen einzigen Gedanken daran verloren, was sie anderen mit ihren Handlungen antaten. Jeden verdammten Tag dachte ich an meine Eltern. Langsam wurde es leichter für mich, darüber zu reden und nicht jedes Mal wieder in Tränen auszubrechen. Aber innerlich schrie mein Herz, wenn mich jemand darauf ansprach.
Meine Oma hatten wir gestern zum Airport gebracht, weil sie leider wieder zurück nach Deutschland musste. Schließlich gab es auch dort Verpflichtungen, um die sie sich kümmern musste. Das Geschwätz der Leute darüber, wie unsere Grandma uns jetzt schon wieder allein lassen konnte, war mir leider bereits zu Ohren gekommen. Wieso kümmerten sich nicht alle einfach um ihren eigenen Scheiß?
Langsam entwickelte sich das Ganze zu einem Horrorszenario. Klar, wir waren schon immer keine Einheimischen gewesen, und das wussten die Leute hier, aber seitdem Charlie so einen Mist über mich erzählt hatte und dann auch noch meine Eltern gestorben waren, wurden wir zum Gesprächsthema Nummer eins auserkoren.
Gerade machte ich mich fertig, denn ich wollte zum Friedhof, um meine Eltern zu besuchen. Wie absurd das klang, nicht wahr? Vor zweieinhalb Monaten hatten wir immer zusammen am Tisch gesessen und gemeinsam zu Abend gegessen.
Als ich mit einem frischen Strauß weißer Lilien beim Friedhof eintraf, erfasste mich wieder diese unendliche Traurigkeit. Es würde wahrscheinlich nie aufhören, weh zu tun. Dann waren da noch meine Gefühle zu James, die ich versuchte, zu ignorieren. Der Monat ohne seine Nähe hatte mir zugesetzt und ich schämte mich für das, was ich getan hatte. Was musste er nun über mich denken? Dass ich genauso eine Schlampe war, wie Charlie gesagt hatte? Es fühlte sich scheiße an. Die letzten Wochen waren wir uns komplett aus dem Weg gegangen – ich aus Scham und er, weil er sicher dachte, ich sei billig zu haben. Mit einem frustrierten Seufzer schüttelte ich diese Gedanken von mir ab und ging zum Grab meiner Eltern. Stellte die Blumen in eine Vase, welche ich neben ihrem Gedenkstein platziert hatte.
Eheleute Josef und Susanne Moore
Ruht in Frieden
Dies stand in weißen Buchstaben auf dem Grabstein geschrieben.
Das Witzige war, dass wir einen amerikanischen Nachnamen trugen, weil unser verstorbener Opa hier seine Wurzeln hatte. William Moore war in der Zeit des Kalten Krieges als Soldat nach Deutschland gekommen. Nach seiner Versetzung dorthin hatten sich meine Großeltern kennengelernt. Meinem Vater war der Lebenstraum von Amerika also irgendwie in die Wiege gelegt worden.
Jetzt ruhten meine beiden Eltern auf einem Friedhof in Queens Creek, Arizona. Was für ein Schicksal.