Kapitel 20
Die erste Zeit über sagte Stella nichts, dann meinte sie:
»Er hat dir nie gesagt, wo er wohnt, oder?«
»Nein, hat er nicht. Und er wollte mir auch seine Mutter noch nicht vorstellen. Aber auch wenn wir uns erst wenige Monate kennen, ist er alles für mich, Stella. Nur bin ich ihm anscheinend nicht so wichtig wie er mir. Vielleicht hätte ich mich nie auf das Ganze einlassen sollen. Er verschweigt mir so viel.« Wütende Tränen traten mir in die Augen. Ich versuchte, sie schnell wegzublinzeln, sonst hätte ich gleich ein Problem beim Autofahren. Tief atmete ich durch.
»Das ist Blödsinn, Kaycee. Du bist das Beste, was ihm passiert ist. Er ist nur so unglaublich kompliziert und hatte seit Jahren keine Beziehung mehr. Wahrscheinlich hat er es einfach verlernt, nicht alles nur mit sich selbst auszumachen. Und selbst mit Lilly war es ganz anders als mit dir jetzt. Glaub mir.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also erwiderte ich überhaupt nichts. Damals, nach dem ersten Vorfall mit diesem komischen Typen, hatte sie auch über eine Lilly gesprochen. Was war mit ihr geschehen? Vielleicht würde James es mir eines Tages erzählen, im Moment glaubte ich da allerdings nicht wirklich dran. »Egal, Stella. Lass uns das Thema ein anderes Mal fortsetzen, ich habe keine Lust mehr, darüber zu reden.«
Sie sah zu mir herüber und ich merkte, wie sie versuchte, aus mir schlau zu werden, doch das würde sie nicht schaffen.
Ich hatte keinen Bock mehr auf diese Spielchen und war froh, dass wir endlich bei Stellas Apartment eintrafen.
»Es tut mir leid, Kay. Ich hoffe, du wirst ihn verstehen. Und ich kann dir versichern, dass er es ernst mit dir meint.«
»Gute Nacht, Stella«, sagte ich kurzangebunden. Ich wollte sie nicht verletzen, aber ich wusste keine Antwort auf diesen Mist. Immer wieder kamen von allen nur Ausreden und die Aussage, dass James es ja nicht so wollte. So langsam glaubte ich ihnen kein Wort mehr. Sie hielten mich doch zum Narren!
Sie wollte noch etwas sagen, aber ich schüttelte nur den Kopf. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, fädelte ich mich wieder in den Verkehr Richtung Norden ein. Genervt trat ich das Gaspedal des Mercedes durch. Ich hatte keine Lust mehr, wusste nicht, was ich von all dem halten sollte, und fühlte mich allein. So allein wie lange nicht mehr. Ich konnte mit niemandem reden. Mein Herz wurde schwer, als ich erkannte, dass ich wahrscheinlich zu viel in diese Beziehung , oder wie auch immer man es betiteln wollte, investiert hatte. So schnell wie sich meine Gedanken drehten, raste ich auch über die Straßen.
Ich kam vierzig Minuten später am Haus von James’ Mum an und parkte das Auto in der Auffahrt. Mrs. Torres hatte mir einen Schlüssel gegeben – glücklicherweise. Eigentlich wollte ich mich nur noch unter meiner Decke verkriechen und nichts mehr hören oder sehen. Doch James’ Mutter konnte nichts dafür, daher wollte ich sie nicht spüren lassen, was mit mir los war. Leise betrat ich das Gebäude und sah, dass noch Licht im Wohnzimmer brannte. Mrs. Torres saß auf der Couch und schien ein wachendes Auge über den schlafenden James zu haben. Als sie mich hörte, stand sie auf und kam auf mich zu.
»Wie schnell sind Sie gefahren? Man benötigt eigentlich deutlich länger, um von Stella hierher zu kommen.« Beunruhigt hob sie die Brauen.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Es war kaum Verkehr,« log ich sie an. Die Straßen von Phoenix waren nie leer, aber das verschwieg ich ihr lieber.
»Komm, meine Liebe, lass uns einen Tee trinken und dann reden.«
Ich folgte ihr in die Küche, wo sie den Wasserkocher anstellte und zwei Tassen mit einer Teemischung befüllte. Sie stellte uns beiden jeweils eine Tasse auf den Tisch und ließ sich mir gegenüber auf einem Stuhl nieder.
»Danke, Mrs. Torres.«
»Sag Avery zu mir. Und du musst mich nicht siezen. Erzähl mir von dir! Wie habt ihr euch kennengelernt? Und woher kommst du?«
Ich nahm kein Blatt vor den Mund und beantwortete all ihre Fragen. Als ich an dem Punkt ankam, wo ich ihr vom Tod meiner Eltern berichten musste, der ja immerhin der Grund meiner Jobsuche bei James war, schossen mir Tränen in die Augen. Ich konnte sie nicht aufhalten.
»Es tut mir leid, Avery. Kleinen Moment.« Angestrengt schluckte ich den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, herunter. »Du kennst sicher die Nachrichten von vor knapp fünf Monaten? Der tragische Autounfall und der Suizid?« Ich wischte mir die aufkommenden Tränen mit meinem Ärmel weg.
»Ich denke, jeder kennt diese Nachrichten. Sie wurden überall und Wochen lang gezeigt,« sagte Avery.
»Das waren meine Eltern …«
Schockiert riss sie die Augen auf und kam zu mir, um mich in den Arm zu nehmen. Meine Tränen liefen mir über die Wangen und alles, was ich so gut zu verstecken versucht hatte, drängte sich wieder an die Oberfläche.
Irgendwann versiegten sie jedoch.
»Es tut mir leid … es ist einfach unheimlich schwer. Seitdem sind Darina und ich allein. So habe ich auch James kennengelernt, weil ich ihn um einen Job gebeten habe. Darina hat Krebs und ich brauchte das Geld.« Ich blickte in ihre Augen und sah, dass auch diese nass waren.
»Dir muss nichts leidtun, Liebes. Das Schicksal ist manchmal so schrecklich. Aber ich bin froh, dass James jetzt so eine tolle Frau gefunden hat. Ihr passt sehr gut zusammen.«
Wir redeten noch ein wenig weiter, dann verabschiedete sich Avery ins Bett, denn ihre Tabletten, die sie vorhin eingenommen hatte, wirkten langsam und machten sie müde.
Ich setzte mich auf die Couch gegenüber von James, beobachtete ihn eine Weile. Wut und Sorge kämpften gleichermaßen in meiner Magengrube um die Oberhand. Was sollte ich nur fühlen? Da ich so müde von diesem beschissenen Tag war, legte ich mich ein wenig hin und schlief sofort ein.