Kapitel 21
James war ein riesiges Arschloch, schlimmer ging es wahrscheinlich kaum. Er hatte mich derart verletzt mit seinem beschissenen Verhalten, dass ich ihn erst einmal nicht mehr sehen wollte. Kurzerhand hatte ich mich vor einigen Wochen im Heavenly’s
krankgemeldet und keine Nachrichten mehr beantwortet. Nicht einmal die von Stella. Ich konnte es nicht ertragen, diesen ganzen Schwachsinn zu hören, und wollte es zudem auch nicht. Die einzige Person, mit der ich redete, war meine Schwester. Wir standen wieder am Anfang. Jetzt kam allerdings noch hinzu, dass mein Herz nicht mehr nur blutete, sondern auch noch vollkommen gebrochen war.
James hatte mir den Lohn nicht gestrichen, zum Glück. Aber ich wusste, ich musste irgendwann wieder arbeiten, egal ob im Club oder einem neuen Job. Wohl eher zwei neue Jobs, denn so ein Gehalt würde ich nirgends anders erhalten. Es war allein meine Entscheidung. Dina hatte mir nicht ein einziges Mal vorgeschrieben, was ich tun sollte. Sie würde mich immer lieben. Ein kleiner Lichtblick in meinem grauen Leben blieb außerdem Casper. Dieser Hund brachte uns jeden Tag zum Lachen und schenkte uns unheimlich viel Liebe. Tiere waren wirklich wundervolle Wesen. Heute wollte ich mit meiner Schwester Tote Mädchen lügen nicht
schauen. Dina saß bereits auf der Couch und ich holte die Eiscreme aus dem Kühlfach. Mit zwei Löffeln bewaffnet ging ich zu ihr ins Wohnzimmer.
Der Tod unserer Eltern war nun knapp ein halbes Jahr her und genau zu dieser Zeit lernte ich James kennen. Ich liebte ihn nach wie vor und dachte immer
an ihn. Aber wenn er auch etwas für mich empfinden sollte, dann ließ er es sich nicht mehr anmerken. Dina schrieb noch immer mit Aiden und ich gönnte es ihr. Zu hören, was sie zusammen unternahmen, tat allerdings weh und führte mir vor Augen, was ich nicht hatte. Ich schämte mich für diese Gefühle, konnte sie jedoch nicht verhindern.
Nach einigen weiteren Tage hatte ich langsam keine Lust mehr, mich in meiner Traurigkeit zu suhlen. Außerdem hatte ich beschlossen, zurück ins Heavenly’s
zu gehen, da es zu schwer werden würde, neue Arbeit zu finden. Weiterhin mochte ich die Leute dort. Und die Bezahlung war einfach zu gut. Zuerst würde ich jedoch meine Eltern besuchen.
Beim Friedhof angekommen sah ich, dass frische Blumen am Grab standen, die nicht von uns dort abgelegt worden waren. Weiße Rosen. Vor dem Grab ging ich in die Hocke. Im Dämmerlicht konnte man kaum die Schrift auf dem Stein erkennen, doch ich wusste genau, was dort eingraviert war. Auf dem Friedhof herrschte eine Totenstille. Niemand war hier. Hatte ich jedenfalls gedacht. Solange, bis ich Schritte auf dem knirschenden Kiesboden hörte, mich suchend umdrehte und eine Frau erkennen konnte. Sie hielt weiße Rosen in der Hand und drapierte diese gerade neben einem Stein in etwas Entfernung.
Es war Avery. Sie erkannte mich im gleichen Moment und lächelte mich durch den Tränenschleier ihrer Augen an. An welchem Grab stand sie?
Ich ging zu ihr und umarmte sie. Avery konnte nichts für die Handlungen ihres Sohns und das würde ich sie auch niemals spüren lassen. So war ich nicht.
Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und als ich auf den Grabstein schaute, wusste ich, wem sie die Blumen gebracht hatte: Frank Torres. James Vater.
Ihre Stimme klang brüchig.
»Heute ist es vier Jahre her. Einerseits vermisse ich ihn, denn er war der einzige Mensch, der mich geliebt hat. Auf der anderen Seite bin ich froh, dass er tot ist. So schrecklich das auch klingt. Er war kein guter Mann, Kaycee. Ich hatte ihn einst geliebt, aber er war die Ausgeburt der Hölle.«
Beruhigend strich ich über ihre Schulter, wollte ihr Trost spenden. Avery war so eine tolle Frau. Es war ein Unding, dass sie jemand so zerbrochen hatte. Ich sagte nichts, hörte nur zu.
»Du weißt noch gar nicht, was er James angetan hat, oder?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich weiß so gut wie gar nichts, Avery. Es tut mir leid.«
»Mein Sohn hat es nicht erzählt? Natürlich nicht«. Sie lachte zynisch auf.
»Nur, dass er zum Kämpfen gezwungen wurde und er mit diesen Clubs etwas verändern will.«
Tief holte sie Luft und setzte dann zum Sprechen an. »Ich war neunzehn Jahre alt, als mich Frank gekauft hat.«
»Gekauft?!«
Ungläubig legte ich die Stirn in Falten und Avery nickte.
»Er wollte etwas Exotisches und ich entsprach wohl seinen Vorstellungen.« Als ich nach wie vor dreinschaute, als spräche sie eine andere Sprache, erklärte sie weiter:
»Menschenhandel. Man hat mich damals verschleppt. Ich hatte keine Familie und die Männer daher leichtes Spiel. Frank war gut zu mir, zumindest soweit es ging. Aber zu anderen war er ein Teufel. Ihm fehlte ein würdiger Erbe, den ich ihm gebären sollte. Mein erstes Kind war allerdings ein Mädchen. Nicht das, was sich Frank vorgestellt hatte. Er befahl mir, es abzutreiben.«
Sie stockte kurz, knetete mit leerem Blick ihre Hände.
»Mein armes Baby … doch dann kam James und er war das Beste, was mir in meinem Leben je passiert ist. Er gab mir wieder Hoffnung. Ich dachte, Frank würde mit der Geburt seines Sohnes weicher werden, aber er sah nur den Gewinn, den James ihm bringen konnte. Also ließ er ihn trainieren. Hart. Jeden Tag. Ihn scherte es nicht, dass unser Sohn blutig und verletzt nach Hause kam. Dass er Brüche davongetragen hatte. Dass seine Seele litt. Daher sage ich nicht einfach nur so, dass Frank Torres die Ausgeburt der Hölle war. Er hatte mir das Schönste in meinem Leben geschenkt und es mir zugleich wieder genommen, meine Tochter ermordet und meinen Sohn zerstört.« Man spürte die Wut, die in ihr loderte, und sie begann zu zittern. »Ich habe versucht, mich umzubringen, Kaycee. Ich konnte dieses Leben nicht mehr ertragen. Und das Schlimmste? James war es, der mich gefunden hat. Seitdem versucht er, mich vor allem zu beschützen, dabei ist er es doch, der Schutz braucht. Ich weiß nicht, was er getan hat. Aber bitte gib ihm noch eine Chance. Du warst das Beste, was meinem Sohn je passiert ist.«
Voller Hoffnung sah sie mich an.
Ihre Worte bestärkten mich in dem, was ich vorhatte: wieder im Club zu arbeiten. Ich hatte James nun schon so lange nicht mehr gesehen und es war an der Zeit, dies jetzt zu ändern. Schnell brachte ich Avery noch zu dem Auto, in dem Marie auf sie wartete, dann ging ich zu meinem eigenen Wagen und fuhr nach Hause, um meine Arbeitskleidung anzuziehen.
Mir tat es unglaublich leid, was passiert war, und wieder einmal wurde mir bewusst, welche Grausamkeiten in dieser Welt lauerten. Frank Torres hatte seine Familie zu Grunde gerichtet – und war damit auch noch unbehelligt davongekommen. Ich schüttelte meinen Kopf. Die Menschen beschäftigten sich mit Technik, Reisen, der neuesten Mode und den coolsten Trends, blendeten jedoch die unbequemen Themen völlig aus. Sie wurden moderner und gleichzeitig immer einsamer. Ich wollte nicht so sein.
Ich wollte mich dem stellen.
Und das würde ich jetzt tun.
Nach fast fünf Wochen betrat ich wieder die Höhle des Löwen, alias das Heavenly’s
. Ein Großteil meiner Kolleginnen und Kollegen nickte mir erstaunlicherweise freundlich zu. Mein Blick fiel auf die linke Seite des Clubs – der Bereich, in dem ich normalerweise arbeitete.
Stella stand dort hinter der Bar, allerdings allein. Als hätte sie meine Anwesenheit gespürt, sah sie auf. Ihre Augen leuchteten erfreut. Lächelnd ließ sie die ganze Arbeit liegen und kam auf mich zu.
»Oh mein Gott, Kaycee! Endlich bist du wieder da. Ich habe dir bestimmt über hundert Nachrichten geschickt. Wie geht es dir?«
»Ganz okay, denke ich. Und ich habe alle deine Nachrichten gelesen, aber ich konnte nicht antworten. Es tut mir leid, Stella. Es war einfach alles zu viel letztes Mal.«
»Ich verstehe dich und bin dir auch nicht böse oder so. Natürlich war ich traurig, dass du dich nie gemeldet hast. James ist seitdem wie ausgewechselt, Kaycee. Mit keinem will er reden und er wirkt so niedergeschlagen.«
Sie sah mir in die Augen, als wollte sie mir irgendeine Reaktion entlocken oder meine Emotionen erforschen.
Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte, denn James trug selbst Schuld an seiner Situation. Ich liebte ihn noch immer, doch er hatte mich tief verletzt. Er hatte mich belogen, mich hintergangen und mir wichtige Tatsachen verschwiegen. Das schmerzte mehr als die Wahrheit, oder?
»Ich werde mit ihm reden«, erwiderte ich nickend.
»Da wird er sich sicher freuen. Geh am besten gleich zu ihm, Kaycee. Ich kann seine maulige und schlechtgelaunte Art langsam nicht mehr ertragen. Das Beste von seinem Selbst fehlt seit fünf Wochen.«
Ich nickte ihr zu und war voller Hoffnung, dass doch noch alles gut werden könnte zwischen uns. Lächelnd machte ich mich auf den Weg zu seinem Büro. Ich klopfte an der Tür an, die einen Spalt breit aufsprang.
Sie war gar nicht richtig verschlossen. Doch ich wünschte, sie wäre es gewesen. Denn nun hörte ich eine Stimme, die ich schon zu oft gehört, aber nicht wirklich vermisste hatte. Sie sagte etwas Unverständliches zu James und ich drückte meine Hände auf das kühle Holz, um die Tür weiter öffnen zu können. Der Anblick, der sich mir in diesem Moment bot, war kaum zu ertragen. Charlie lag nackt mit weit gespreizten Beinen auf James’ Schreibtisch und stöhnte leise. James stand vor Charlie und schob offenbar seinen Schwanz in sie. Ich konnte es nicht genau sehen, doch die Bewegung war eindeutig.
Was zur Hölle?
Es war, als hätte jemand einen Eimer mit Eiswasser über mich geschüttet. Wie eingefroren stand ich dort, wusste nicht, was ich tun sollte. Hatte ich dumme Kuh wirklich gedacht, dass er auf mich gewartet hätte?
Nein, definitiv nicht.
Er war in seinem Büro, rammte seinen Schwanz in meine ehemals beste Freundin und vögelte sie um den Verstand. Mir wurde übel und ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Am liebsten wäre ich schreiend davonlaufen.
Und dann drehte James auch noch seinen Kopf zu Tür.
Er erkannte mich, starrte mich an und riss die Augen auf, als wäre ich ein verfickter Geist. Gerade wollte er sich aus Charlie zurückziehen, da schrie sie:
»Verdammt nochmal, mach weiter, James! Hör nicht auf …«
Fast hätte ich mich übergeben. Ich konnte es nicht mehr ertragen, japste nach Luft. Tränen liefen über meine Wangen. Aus meiner Kehle löste sich ein leiser hilfloser Schluchzer, der jedoch von dem widerwärtigen Gestöhne von Charlie übertönt wurde.
James war kreidebleich.
Ich machte auf dem Absatz kehrt und lief zum Ausgang. Rannte, als sei der Teufel hinter mir her. Als könnte ich vor dem fliehen, was ich eben beobachtet hatte. Wütend schleuderte ich meine High Heels von den Füßen, um mich noch schneller von der Szenerie entfernen zu können. Stella stand im Flur, sah mich und legte die Stirn in Falten. Ich schüttelte nur den Kopf und hetzte zu meinem Auto. Niemand hielt mich auf. Niemand hätte den Schmerz in meiner Brust lindern können.
Ich fuhr los und spürte, wie mein Herz endgültig zerschmetterte. So viel zu James und mir.
James Torres hatte mein Herz und meine Unschuld gestohlen.
Ich hatte alles auf eine Karte gesetzt und alles
verloren.