»Er ist es, oder?« Aufgeregt sah Delpha Phelan an, als er das Büro betrat. »Jim Anderson ist Rodney.«

Er bedeutete ihr, ihm zu folgen, und sie rollte einen Mandantenstuhl zu seinem Schreibtisch und setzte sich ihm gegenüber.

»Ja«, sagte er. »Er ist es.«

»Sparrow.«

»Sparrow. Zumindest hat er nicht widersprochen, als ich ihn so angeredet habe.«

»Ich könnte Bell anrufen, vielleicht geht er ja an den Apparat. Oder wir könnten länger im Büro bleiben und darauf warten, dass er sich meldet.«

Phelan erwiderte nichts.

Das Leuchten in Delphas Augen erlosch. »Was ist?«

»Wir konnten nicht lange reden. Er hat mich eingeladen wiederzukommen. Aber –« Phelan berichtete ihr von dem Gespräch mit Sparrow alias Jim Anderson und Sparrows schlechter Meinung über ihren Mandanten. Berichtete von Raffie.

»Raffie. Klingt nach einem kleinen Jungen. Aber er ist kein Junge mehr. Haben Sie ihn sich genauer ansehen können?« Ihre Stimme wurde scharf. »So ist das. Dann war das in dem schwarzen Auto hinter dem Bellas Hess also ein Schnüffler.«

»Gut möglich, und wenn, dann weiß Bell auch über seinen Bruder Bescheid. Falls mich unser lieber Kollege heute verfolgt hat. Ich habe allerdings nichts von ihm bemerkt. Die Sache ist die –«

»Die Sache ist die, dass wir vielleicht nicht auf der Seite unseres Mandanten sind.«

Phelan sah ihr in die Augen. »Wir haben Bell vertraglich zugesichert, dass wir seinen Bruder suchen und ihm mitteilen, wo er ist. Ein Vertrag ist ein Vertrag. So wie ein Versprechen ein Versprechen ist.«

»Ist schon klar, Tom. Aber wenn Ihre Kumpels Bonnie und Clyde Sie nach der Adresse von der Bank Ihres Daddys fragen, geben Sie sie ihnen auch nicht. Erinnern Sie sich an Mr Wally, meinen Lehrer in Gatesville?«

»Jep« – Phelan zerknüllte den Sportteil der gestrigen Zeitung und warf ihn in den Abfallkorb – »ich erinnere mich an Mr Wally.«

Sie ignorierte seinen genervten Ton und lehnte sich auf dem Mandantenstuhl mit der hohen Lehne zurück. »Okay. Mr Wally hat uns ständig irgendwelche Regeln und Vorschriften gepredigt. Er hat aber auch gesagt, dass das nicht alles in Stein gemeißelt ist. Wenn ich das richtig sehe, ist Ihnen Mr Anderson sympathischer als Mr Bell.«

»Ja, kann man so sagen«, erwiderte Phelan leise.

»Die Frage ist also, ob wir Bell sagen, wo sein Bruder ist. Nachdem wir dafür bezahlt wurden, es ihm zu sagen.« Nicht, dass sie unbedingt einer Meinung mit ihm war, aber es gefiel ihr, dass Tom sagte, ein Versprechen sei ein Versprechen. Es gefiel ihr, dass er sich in der Zwickmühle sah.

»Wenn der andere Privatdetektiv Sparrow gefunden hat, dann ist es egal, was wir tun.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wenn nicht, dann sollten Sie sich erst mal Sparrows Geschichte anhören.«

Phelan starrte an ihr vorbei. »Da fällt mir was ein.« Er erinnerte sie an den Elliott-Fall, bei dem ein ganzes Vermögen an einer Standardformulierung in einem Arbeitsvertrag hing. »Haben Sie den Vertrag mit Bell zur Hand?«

Delpha ging zum Aktenschrank, zog eine Akte heraus und ging darin lesend zu Phelans Schreibtisch zurück. Sie setzte sich und las die erste Seite durch. Zum ersten Mal achtete sie auf das, was da geschrieben stand, und nicht nur auf die leeren Stellen, die ausgefüllt werden mussten. »Woher haben Sie den Vertrag eigentlich?«

»Von einer Detektei in Houston. Ich hab ihnen erzählt, dass einer in meiner Werkstatt mich bestiehlt und ich nicht wüsste, wer, und gesagt, dass ich den unterschriebenen Vertrag wieder mitbringen würde, wenn mein Partner mit allem einverstanden wäre. Eine Sekretärin hat den Vertrag mit meinem Geschäftsnamen und der Adresse abgetippt.«

»Verstehe. Okay, lesen Sie den Abschnitt unter ›Umfang der Tätigkeit‹.«

Phelan überflog die sechs oder sieben Zeilen, die mit dem Satz endeten: Die Parteien sind sich darin einig, dass die folgenden Ermittlungen von dem Mandanten gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags in Auftrag gegeben und vom Auftragnehmer erbracht werden und es im Übrigen allein im Ermessen des Auftragnehmers liegt, wann und wie diese Ermittlungen durchgeführt werden.

»Wann und wie …«, wiederholte Phelan und seine Stimme klang schon munterer, »diese Ermittlungen durchgeführt werden. Das ist ja ein Ding!«

»Eben.« Delpha legte den Vertrag zurück in die Mappe und die Mappe in den Schrank. Sie konnten mit Bell verfahren, wie sie es für richtig hielten.

Als sie zurückkam, erzählte sie ihm, dass sie am Tag zuvor mit einem Detective in Jacksonville gesprochen hatte, um zu erfahren, ob ein Rodney Harris und/oder Xavier Bell beziehungsweise Sparrow im Jahr 1969 aktenkundig geworden waren. Der Cop habe sie für eine Reporterin gehalten. »Wissen Sie, was Hintergrundinformationen von einer vertraulichen Quelle sind?«

Phelan hatte sein Feuerzeug herausgeholt, zog genüsslich an einer Zigarette und lehnte sich auf seinem Drehstuhl zurück. »Ist was aus dem Journalismus. Hab ich im Zusammenhang mit Watergate gehört. Es bedeutet, dass der Reporter wichtige Informationen erhält, aber den Namen desjenigen nicht preisgeben darf, von dem er sie hat.« Er sah auf. »War es das, was Sie gemacht haben?« Er lächelte. »Wichtige Informationen gesammelt? Dann haben Sie entweder echt viel von Ihrem Mr Wally gelernt oder Sie sind ein Naturtalent.«

»Egal was, es hat sich nicht gelohnt. Er hat mir erzählt, dass 1969 ein Supermarktangestellter verschwunden ist. Ist irgendwann als Skelett wiederaufgetaucht. Aber Informationen zu einem Harris oder Bell oder Sparrow hatte der Idiot nicht. Ich hatte gedacht, dass wir das, was gerade passiert, vielleicht besser verstehen würden, wenn wir mehr über das frühere Verhältnis der beiden wüssten.«

»Delpha.«

»Was?«

»Rechnen Sie nicht damit, dass der eine der Gute ist und der andere der Böse. Hier geht’s um Familienstreitigkeiten.«

»Das weiß ich. Ich will nur ein bisschen klarer sehen.«

»Und die Sache wird immer nebulöser. Hat vielleicht jemand mit einem neuen Auftrag angerufen?«

»Unser Telefon ist rund um die Uhr besetzt.« Sie bedachte Phelan mit einem bescheidenen Lächeln, damit er wusste, dass sie keinen Scherz machte. Auch wenn sie es tat, ein bisschen.

Einige Stunden darauf rief tatsächlich jemand an. Eine zögernde Männerstimme wollte, dass sie die Richtigkeit einer Todesanzeige überprüften. Auf Delphas Nachfrage hin wurde die Stimme noch zögerlicher. Er werde es sich überlegen, vielleicht riefe er noch mal an, danke, auf Wiederhören. Sie musste an eine Maus denken, die sie eines Abends beim Geschirrspülen in der Küche entdeckt hatte. Die Maus verschwand, kaum dass sie einen Schritt auf sie zumachte.

Hoffnungsvoll fragte Phelan, wer angerufen hatte, sie musste ihn enttäuschen. Gegen halb fünf trat er mit in Falten gelegter Stirn in ihr Zimmer und erklärte ihr, er überlege, ins Happy Hour auf der Crockett Street zu gehen. »Haben Sie vielleicht Lust auf einen Drink?«

Sie sah ihn an.

»Stimmt, die Bewährungsauflagen, tut mir leid. Okay, wenn irgendjemand anruft, der was will, inklusive Ihres neuen Kumpels aus Jacksonville, können Sie mir ja eine Nachricht auf dem Schreibtisch hinterlassen. Morgen werd ich noch mal mit Anderson sprechen. Je nachdem was dabei rauskommt, werden wir unseren Ermessensspielraum voll ausschöpfen. Aber jetzt würde ich gerne erst mal über Ihre Gehaltserhöhung reden.«

»Ich will nicht, dass das Büro meinetwegen pleitegeht. Der Job ist mir wichtiger als eine Gehaltserhöhung.«

»Verstehe.« Er schwieg einen Moment, dann ergriff er wieder das Wort. »Dieses Werbeschreiben von Ihnen … ist was dabei rausgekommen?« Daran hatte Delpha an dem Tag gearbeitet, als Dennis Deeterman im Büro aufgetaucht war.

»Nein. Aber vielleicht kommt ja noch was.«

»Schicken Sie eins an die Staatsanwaltschaft. Ich weiß schon, dass die am liebsten Ex-Cops anheuern, aber probieren können wir’s ja mal. Und zahlen Sie sich einen Dollar mehr pro Stunde aus.«

Sie presste die Lippen zusammen. »Das ist sehr freundlich, aber –«

Er musterte sie. »Sie trauen mir nicht zu, das zu stemmen, oder? Zweihundert mehr im Monat.«

Sie senkte den Blick, stützte die Stirn in die Hand. Sprach mit der Schreibtischplatte.

»Ich trau niemandem, Tom. Nehmen Sie’s mir nicht übel.«

Phelan kniff die Augenbrauen noch fester zusammen. In einer Art Übersprunghandlung strich er über die Tischplatte und stieß dabei gegen das kleine rote Wörterbuch, das an der Kante lag. Er erwischte es gerade noch, bevor es auf den Boden fiel, und legte es zurück. Murmelte: »Okay« und machte sich auf den Weg zu der Bar.