Es hatte Delpha gerührt, dass Phelan sie so eindringlich gebeten hatte, ins Rosemont zu fahren, aber dafür war sie viel zu aufgekratzt. Sie saß in einiger Entfernung von Rudy Sparrows Haus in dem Dart. Um kurz vor fünf hielt ein goldfarbener Galaxie am Straßenrand, ein Kennzeichen aus Louisiana, 59R498 Sportman’s Paradise, und ein kräftiger, blasser Mann mit weißem Haarkranz ging zu der Rampe. Wenn das Xavier Bell war, dann hatte er seine Kostümierung abgelegt, die braunen Haare und den Schnurrbart, die Sonnenbrille und den Hut. Sie hätte nicht beschwören können, dass er es war, aber wer sollte es sonst sein. Sieben Minuten später tauchte Phelan in der Straße auf. Er stellte den Chevelle ab und stieg aus, nickte Delpha zu, deutete auf das Haus und ging zur Tür.

Würde Tom Zeuge eines überfälligen Friedensschlusses werden oder Schiedsrichter bei einer Rauferei unter alten Männern? Beides erschien ihr gleich wahrscheinlich. Wenigstens hatte sie vollgetankt. Delpha drehte den Zündschlüssel und ließ den Motor laufen, was die Temperatur im Auto noch weiter in die Höhe trieb. Viel los war nicht auf der Straße. Sie könnte jetzt in der heruntergekühlten Lobby des Rosemont sitzen und sich die Watergate-Anhörungen anschauen. Stattdessen hockte sie seit vier Uhr bei heruntergekurbelten Fenstern in der Gluthitze herum. Der Schweiß lief ihr an den Seiten runter, ihre Bluse war klitschnass und ihr Hintern klebte auf dem Sitz.

Zwanzig vor sechs stakste der Mann mit dem bleichen Gesicht zwischen den Bäumen links von der Holzrampe hervor. Er rutschte hinters Lenkrad des goldfarbenen Autos und fuhr mit quietschenden Reifen los.

Sie legte den Gang ein. Sie hatte noch nie jemanden beschattet, aber so schwer konnte es nicht sein, man durfte nur das andere Auto nicht verlieren und gleichzeitig von dessen Fahrer nicht entdeckt werden. Vor allem Ersteres, also blieb sie eine Autolänge hinter dem Galaxie. Folgte ihm auf der I-10E in die Stadt, auf der es auch ins Büro ging. Der Galaxie verließ den Freeway und fuhr auf die Willow Street, passierte Downtown und bog in der Fannin Street auf einen Parkplatz neben dem Jefferson Theatre. Delpha ging vom Gas und ihr Hintermann hupte und überholte sie.

Keiner stieg aus dem Galaxie aus. Aus dem Fahrerfenster ringelte sich Rauch.

Sie behielt das Auto auf dem Parkplatz im Blick, passte eine Lücke im Verkehr ab und fuhr auf die andere Seite der Pearl, wo sie parken konnte. Sie drehte sich auf ihrem Sitz um und wartete. Als ein Bus hielt, fluchte sie aus Sorge, dass der Mann nicht mehr in seinem Auto sitzen könnte, sobald der Bus wieder losfuhr.

Kurz vor halb sieben öffnete sich jedoch die Fahrertür und er stieg aus. Eindeutig das richtige Alter. Sobald er auf den Bürgersteig getreten war und auf das Kino zuging, schlüpfte Delpha aus dem Dart und huschte über die Straße. Er kaufte eine Eintrittskarte am Kassenhäuschen, über dem eine Laufschrift Ein Fremder ohne Namen Clint Eastwood ankündigte. Mit gesenktem Kopf steuerte Delpha auf die Leuchtreklame des Jefferson an der Gebäudeecke zu.

Vor den Schaukästen blieb sie stehen und tat so, als würde sie das Poster mit den beiden verliebten Strandspaziergängern betrachten: Heute Abend lief in der Spätvorstellung die Vorpremiere von So wie wir waren. Sie wagte es und warf einen Blick zu dem Kassenhäuschen. Der Mann sammelte gerade sein Wechselgeld ein und sah die Straße rauf und runter. Als er sich in Delphas Richtung drehte, konnte sie ihn genau erkennen. Schnell hob sie eine Hand vors Gesicht und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. Wandte sich ab und tat so, als würde sie ihr Spiegelbild im Schaukasten mustern, während sie dachte: Xavier Bell.

Hugh Sparrow.

Ugo Passeri.

Tom.

Tom Phelan war noch in dem Haus. Tom und Rudy und Rudys lachender Freund, Ugos Sohn. Das Treffen musste die Brüder so aufgeregt haben, dass Ugo von dem Haus weggerast war – aber, sagte sie sich, wenn er jetzt ins Kino ging, war sicher nichts Schlimmeres vorgefallen.

Dann fiel ihr Toms Theorie ein, was Ugo in seinem Leben alles angerichtet haben könnte. Ein im Sand vergrabenes Kleinkind, hingeschlachtete Soldaten, eine verschwundene Ehefrau, die Überreste eines Supermarktangestellten. Es war Ende September, die Stadt ein Glutofen, und in ihrer Brust breitete sich Eiseskälte aus.

Ein paar Minuten lang stand sie auf dem glitzernden Billigterrazzo vor dem Kino. Dann trat sie an das Kassenhäuschen und beugte sich zu der Kartenverkäuferin vor, eine Brünette mit grauem Haaransatz.

»’tschuldigung, ich bin hier grad zufällig vorbeigekommen und hab meinen Onkel gesehen, der ältere Herr, der eben eine Karte gekauft hat. Er hatte meiner Tante versprochen, heute Abend zum AA-Treffen zu gehen.« Delpha machte eine unglückliche Miene. »Ich befürchte, er schwänzt öfter mal und kommt stattdessen hierher.«

Ohne den Kopf zu heben, sah die Frau Delpha an. »Seit Tagen. Schaut sich die Filme alle zweimal an. Er hat erzählt, dass er auch ins Gaylynn Twin geht. Falls es Sie beruhigt, hier finden zwar keine AA-Treffen statt, aber dafür ist im Kino auch kein Alkohol erlaubt. Ich hoffe nur, Ihr Onkel schmuggelt nicht heimlich eine Flasche rein.«

Hinter Delpha bildete sich eine Schlange. Sie sah die Kartenverkäuferin noch betroffener an. »Wann ist der Film zu Ende?«

»Fünf vor neun. Dann folgt die Vorpremiere. Was fürs Gemüt. Wenn Sie den Clint Eastwood sehen wollen, das ist eine Art Western, ziemlich brutal.«

Nein, selbst wenn bei Rudy nichts passiert sein sollte, sie wollte nicht mit einem Mann im Kino sitzen, der vielleicht seine kleine Schwester unter Sand erstickt hatte. Sie hatte noch genug an Dennis Deeterman zu knapsen. Offenbar war sie nach wie vor so sehr mit ihm beschäftigt, dass Aileen seinen Geist gesehen oder ihn gespürt oder gerochen hatte – wie auch immer. Deeterman, der in das Büro trat, Arme wie Greifer. Augen, die herumschossen, um sicherzugehen, dass Delpha allein war. Leere Augen, in denen im nächsten Moment heller Zorn aufflammte.

Ihr Zurückweichen.

Der bullige Mann plötzlich über ihr, das Messer gezückt.

Dieses Mal war sie nicht in der Falle. Aber wieder breitete sich eisige Taubheit in ihr aus, obwohl die Wärme des Bürgersteigs durch die Sohlen ihrer flachen Schuhe drang. Dieses Mal war Hilfe in Reichweite. Oder?

»Schätzchen, hinter Ihnen warten Leute. Wollen Sie jetzt eine Karte oder nicht?«

Delpha schüttelte den Kopf.