Bevor Phelan von dem Haus wegfuhr, warf er einen Blick über die Schulter und da hörte er die Rufe. Er sah eine Bewegung hinter den Bäumen, dann kam Rudy wild winkend die Rampe heruntergelaufen und rief gellend um Hilfe. Zusammen rannten sie zurück ins Haus, während Rudy irgendetwas von Wiederbelebung stotterte. Ja, ja, er habe gesagt, es wäre ein Segen, wenn Raffies Herz aufhören würde zu schlagen, aber er könne ihn nicht einfach so gehen lassen, ohne es wenigstens versucht zu haben, das müsse man doch, oder –
Ja, das müsse man, sagte Phelan.
Auf dem Teppich in Raffies Zimmer lag ein Kissen. Der tragbare Fernseher auf der Kommode brabbelte leise vor sich hin, in der Ecke stand ein Schaukelstuhl. Raffies Kopf lag flach auf der Matratze, der Pony war ihm aus dem Gesicht gefallen, der Mund stand offen. Eines der Augen war offen, das andere geschlossen. Phelans Nase kräuselte sich bei dem Gestank.
»Es ist das Herz, oder?«, rief Rudy. »Oder?«
»Rufen Sie einen Krankenwagen, schnell.«
Rudy rannte aus dem Zimmer. Schnell tastete Phelan Raffies warmen Hals nach einem Puls ab, fand keinen.
Er versuchte es trotzdem. Machte Mund-zu-Mund-Beatmung, Herzdruckmassage, drei Minuten, nichts. Rudy stand hinter ihm, murmelte vor sich hin. Sechs Minuten, Phelan betete, dass der Rettungswagen endlich kam. Es dau-erte fast zehn Minuten, bis sie die Sirenen hörten und Rudy hinausrannte, damit sie wegen der vielen Bäume nicht an dem Haus vorbeifuhren.
Phelan kniete neben Raffie, sah die bläulichen Lippen, die rissigen Mundwinkel, das offene, blutunterlaufene Auge mit der erweiterten, starren Pupille. Er zog das untere Lid nach unten, sah die roten Flecken, die auf geplatzte Kapillaren schließen ließen. Auch unter dem Oberlid waren Flecken. Hinweise auf Ersticken oder Überanstrengung. Phelan verzog das Gesicht. Der arme Raffie – er hatte gelitten. Verzweifelt musste er nach Atem gerungen haben, als das Herz ins Stocken kam und dann ganz aufhörte zu schlagen.
Stiefel polterten über die Rampe und ein dreiköpfiges Rettungsteam übernahm. Der Leiter ging neben Raffie in die Hocke, suchte nach dem Puls, musterte sein Gesicht, die Fingerspitzen. Er warf Phelan einen fragenden Blick zu. »Haben Sie versucht, ihn wiederzubeleben?«
»Ungefähr zehn Minuten«, sagte Phelan. Er erwiderte den Blick. Sie dachten beide dasselbe. Dann sahen sie zu Rudy, der sich an eine Wand drückte, um nicht im Weg zu stehen, sein Gesicht zu einer Maske des Schmerzes verzogen.
Einer der Sanitäter stülpte eine Atemmaske über Raffies Nase und Mund, schob ihm ein Kissen unter den Kopf und begann mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Nach fünf Minuten hörte er auf und sagte etwas zu seinem Kollegen hinter ihm, der sich schnell zu Rudy drehte. »Könnte ich Ihr Telefon benutzen, Sir?«, fragte er und rannte in die Richtung, in die Rudy deutete. Der Sanitäter fuhr mit den Wiederbelebungsmaßnahmen fort, bis sein Kollege zurück ins Zimmer kam und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Mit gebeugtem Kopf hörte der Sanitäter zu. Dann stand er auf und wandte sich Rudy zu, der immer noch an der Wand lehnte.
»Sir, wir können ihn ins Krankenhaus bringen, wenn Sie das wollen. Aber wir haben mit dem Arzt gesprochen, und so wie es aussieht … es tut uns leid –«
»Ja, verstehe«, Rudy trat einen Schritt vor, ging zum Bett. »Sie haben es versucht«, sagte er. Er deutete mit dem Kopf zu Phelan. »Er hat es versucht. Ich weiß. Er ist gegangen.«
Der Sanitäter streckte die Hand aus, um ihn zu stützen, aber Rudy bemerkte es nicht. Er hatte sich bereits neben dem Bett auf die Knie niedergelassen. Die Männer blickten sich an, dann gingen sie hinaus. Phelan blieb noch so lange in dem Zimmer, bis er sicher war, dass mit Rudy alles in Ordnung war.
Der alte Mann beugte sich zu Raffie, legte seine Wange auf seine Brust. »Mein Junge«, sagte er. »Mein lieber, lieber Junge.« Er hatte die Augen fest geschlossen.
Phelan ging zu den Sanitätern in die Küche und sagte ihnen, er werde bei Rudy bleiben und ihm dabei helfen, alles Nötige in die Wege zu leiten. Einer der Sanitäter reichte ihm einen Knopf. »Geben Sie ihm das«, sagte er. »Das lag im Bett. Unter den Leuten von den Bestattungsunternehmen gibt es so einige Langfinger …« Der Papagei krächzte einen seiner Evergreens und alle drehten sich zu ihm um. Die Männer nickten Phelan zu und zogen ab.
Phelan blickte auf seine Hand. Es war kein Knopf.
Es war eine Münze. Eine Goldmünze mit zwei Gesichtern darauf.
Es traf ihn wie ein Schlag, fuhr wie eine Axt durch seine Brust. Er lief den Flur hinunter, blieb an der Tür zur Veranda stehen und sah hinaus. Die Fliegengittertür knarrte in den Angeln und schwang zum Garten mit den Bäumen und dem Tümpel hin auf. Sie war nicht verschlossen gewesen. Brennend fuhr die Axt in seinen Bauch. Es musste passiert sein, während Phelan und Rudy in dem anderen Zimmer waren. Er hatte dafür gesorgt, dass der Alte sich etwas ausruhte, weil er nach dem Streit mit Ugo so schlecht ausgesehen hatte. Sie redeten. Sie redeten, während Ugo Raffie die Luft abschnürte … seinem eigenen Kind.
Phelan rief auf dem Revier an und bat darum, einen Streifenwagen zu schicken, dann setzte er sich an den Frühstückstisch neben das Telefon.
Nach einer Weile ging er zurück in das Schlafzimmer, wo Rudy immer noch mit dem Kopf an Raffie geschmiegt neben dem Bett kniete. Phelan half Rudy auf die Beine und trat einen Schritt zur Seite, damit der alte Mann den Schaukelstuhl neben das Bett schieben konnte. Er knipste den Fernseher aus. In ihm schwärte es. Rudy setzte sich und legte eine Hand auf Raffies Kopf, strich zärtlich und ruhig seine Haare glatt, so als könnte Raffie es noch spüren. Phelan wollte nicht derjenige sein, der ihm diesen Frieden raubte. Leise summte Rudy das Lied, das Phelan ihn schon einmal hatte singen hören. Dann fing er leise an zu schaukeln. Phelan reichte ihm ein Taschentuch und Rudy wischte sich über die Wangen. »Ich sollte … ich sollte wohl ein Bestattungsunternehmen anrufen.«
Phelan dachte daran, was die Polizei sagen würde, und antwortete, dass keine Eile bestünde.
Rudy nickte, offenbar hatte er genau das hören wollen, und nahm die Hand seines Neffen.
Die Haut von Raffies bleichem Gesicht sah gespannt aus. Bläuliche Verfärbungen konnten sich noch nach dem Tod bilden, überall dort an Gesicht und Körper, wo Druck ausgeübt worden war, bevor das Herz ausgesetzt hatte. Damit kannte Phelan sich nicht besonders gut aus. Bei der Army hatte er es mit anderen Verletzungen zu tun gehabt.
Das Lächeln, das Lachen, die kindliche Begeisterung hatten Raffie jung gemacht. Der Mann auf dem Bett sah nicht mehr wie ein Junge aus.