Ein paar Fragen an Mel Wallis de Vries über Wer den Kürzeren zieht
Wie sind Sie auf die Idee für dieses Buch gekommen?
Eigentlich trage ich diese Idee schon seit Jahren mit mir herum. Was fast niemand weiß, ist, dass ich Biologie studiert habe. Das Verhaltensexperiment The Third Wave wurde in meinem Studium besprochen, und es ließ mich nicht mehr los. Wie würde ich mich in einer solchen Situation verhalten? Würde ich mich auch mitreißen lassen? Oder wäre ich so gefestigt, dass ich diesem Gruppendruck gewachsen wäre? Von Letzterem war ich eigentlich immer ausgegangen ...
Wie war es für Sie, dieses Buch zu schreiben?
Ich fand es ziemlich irre. Meistens arbeite ich die Erzähllinien vorher aus, und schon bevor ich mit dem Schreiben anfange, weiß ich genau, was in jedem Kapitel geschieht. Aber bei Wer den Kürzeren zieht habe ich das absichtlich nicht getan. Ich wollte »erfahren«, was mit mir als Autorin in dieser Hütte geschehen würde. Ich wollte mehr oder weniger mein eigenes Verhalten erforschen. Und das war manchmal ganz schön heftig. Ich wollte so gern die Heldin oder die Anführerin werden, aber wenn ich ganz ehrlich bin, hatte ich vor allem Angst. Und ich fühlte mich wirklich grässlich, als ich Anne heimlich das letzte Restchen Wasser austrinken ließ, ohne dass sie es mit jemandem geteilt hatte. Vor allem, weil ich es ihr nicht einmal übel nehmen konnte.
Warum fanden Sie es wichtig, dieses Buch zu schreiben?
Als ich nach einem Thema für mein neues Buch suchte, stieg diese Idee wieder auf. Und es fühlte sich in dieser Zeit aktueller an denn je: Wer ist man in einer Welt, die sich rasend schnell verändert und immer härter wird? Eine Welt, in der Menschen immer weniger Verständnis füreinander aufbringen können? Inwiefern lässt man sich selbst von der Meinung und den Ansichten anderer mitreißen? Und inwiefern traut man sich, man selbst zu sein?
Auch nette Menschen können sich mitreißen lassen, die falschen Entscheidungen treffen und die falschen Dinge tun. In jedem von uns steckt vielleicht eine Anne, Maxime oder Lizzy oder ein Sami, Daniel oder Vincent. Und im Vorfeld kann man nur schwer sagen, wer nun in einem zum Vorschein kommt. Und wer glaubt, sich nie mitreißen zu lassen, liegt falsch. Auch die Schüler*innen von The Third Wave waren davon überzeugt ...
Es muss auch nicht immer zu einem Krieg führen. Es kann auch auf kleiner Skala passieren, wie in der eigenen Schule. Nicht jede Meinung über andere ist berechtigt, und nur selten ist Hass gerechtfertigt. Wie nett wir zueinander sind, bestimmen wir letzten Endes selbst. Wir haben täglich die Chance, Held*innen zu werden – oder Mitläufer*innen.
Worum geht es eigentlich genau im Verhaltensexperiment The Third Wave?
The Third Wave war ein Experiment unter Ron Jones, Geschichtslehrer an der Cubberley High School in Palo Alto im US-Bundesstaat Kalifornien, im Jahr 1967. Bei seinen Schülern und Schülerinnen herrschte großes Unverständnis über Nazi-Deutschland und wie es dazu hatte kommen können. Jones wollte mit diesem Experiment zeigen, dass jeder und jede unter Einfluss von anderen oder in einem bestimmten Kontext dazu in der Lage wäre, Schlechtes zu tun.
Jones brachte seinen Schüler*innen zum Beispiel eine richtige Sitzposition bei und wie sie diszipliniert den Klassenraum zu betreten hatten. Später führte er den Namen The Third Wave ein (der auf die Annahme verwies, dass die dritte Welle in der Brandung immer kräftiger ist als die erste und die zweite), er schuf ein größeres vorherrschendes Gruppengefühl und ein diszipliniertes Ganzes. Seine Schüler*innen lernten außerdem einen speziellen Gruß, mit dem sie sich auch außerhalb des Geschichtsunterrichts begrüßten.
Schüler und Schülerinnen aus anderen Klassen schlossen sich der Bewegung ebenfalls an. Jones merkte, dass seine Klasse motiviert war und die Schüler*innen auch bessere Leistungen erbrachten als andere, die der Bewegung nicht angehörten. Mitglieder*innen bekamen auch immer mehr Aufträge von Jones, etwa ein Logo zu entwerfen und eine Fahne. Außerdem sollten sie die Ordnung in der Schule überwachen. Jones brachte ihnen bei, wie man andere als Mitglieder*innen anwerben konnte.
Nach drei Tagen hatte die Bewegung schon mehr als zweihundert Mitglieder*innen. Jones beschlich das Gefühl, dass dieses Experiment ein wenig aus dem Ruder lief, und er rief alle Mitglieder*innen am nächsten Tag zusammen. Er hatte für dieses Treffen die Wahl einer nationalen Führung angekündigt; stattdessen enthüllte er, dass die Schüler*innen Teil eines Experiments gewesen waren und dass sie – ohne es zu wissen – die Atmosphäre der Überlegenheit nachgestellt hatten, die zur Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland geführt hatte.
Wusstest du, dass dieses Verhaltensexperiment schon zweimal verfilmt wurde? Der amerikanische Film The Wave war die erste Verfilmung 1981. Im Jahr 2008 erschien der deutsche Film Die Welle . Dieser Film hat mehrere Preise gewonnen und wurde vielfach nominiert. Du kannst ihn dir noch immer auf DVD anschauen. Die Netflix-Serie Wir sind die Welle basiert zum Teil auf The Wave .