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Oberstudienrat Fritz Weiß, Mathematiklehrer am Rotteck-Gymnasium Freiburg, sollte sich an diesem sonnigen Montagmorgen um acht Uhr erneut sehr einsam im Klassenzimmer fühlen. Mit dem Anstieg der Temperaturen nahm die Anzahl der Schüler, die den Unterricht besuchten, rapide ab. Irgendwie lohnte es sich nicht mehr, zur Schule zu gehen, spätestens ab zwölf Uhr war hitzefrei. Und in ein paar Wochen begannen eh die Ferien.
»Hast du eigentlich Bock auf Mathe? Oder sollen wir lieber etwas anderes unternehmen?«, fragte der angehende Abiturient Sascha seinen Mitschüler und besten Freund Tom. Sie hatten sich wie immer morgens getroffen, um gemeinsam zur Schule zu gehen.
»Wenn du mich jetzt schon so fragst, nein.« Toms Antwort kam nicht wirklich überraschend. Den Drang, mathematischen Geheimnissen auf die Spur zu kommen, hatten die beiden sechzehnjährigen Pennäler seit Beginn ihrer hoffnungsvollen gymnasialen Laufbahn noch nie verspürt. Und bis zum Abi waren es schließlich noch ein paar Tage hin. Überhaupt. Wer brauchte schon Algebra und Geometrie?
»Chillen wir stattdessen im Stadtgarten?«, schlug Sascha hoffnungsvoll vor.
»Geht klar.« Die beiden Jungs schlenderten gemütlich nebeneinander her.
»Aber vorher schauen wir noch bei Starbucks vorbei. Ich brauch erst etwas zum Wachwerden. Ich zahl auch.« Tom konnte sich diese Großzügigkeit leisten. Er hatte am Wochenende mal wieder im »Schlappen« gejobbt. Und da er sowohl über strahlend blaue Augen als auch über einen gut trainierten Oberkörper verfügte, konnte sich sein Trinkgeld, das er hauptsächlich von den weiblichen Gästen bekam, durchaus sehen lassen.
Trotz der frühen Morgenstunde herrschte schon lebhafter Betrieb in einem der beliebtesten Kaffeetempel Freiburgs. Unter den Besuchern waren bemerkenswert viele Jugendliche. Die meisten Plätze waren bereits besetzt. Offensichtlich waren Sascha und Tom heute nicht die Einzigen, die keine Lust auf Bildung verspürten. Die beiden stellten sich geduldig in der langen Warteschlange an.
Nach dem obligatorischen Frage-und-Antwort-Spiel, ohne das kein Kunde im Starbucks an seinen Cappuccino kam – »groß, mittel oder klein? Mit einer einfachen oder doppelten Portion Espresso? Mit oder ohne Zucker? Mit oder ohne Schokostreusel?« –, verließen die beiden Mathematikverweigerer den Coffeeshop mit zwei Pappbechern in der Hand und machten sich Richtung Stadtgarten auf. Sie überquerten den Karlssteg, unter dem sich wie immer zahllose Autos durchquälten.
»Setzen wir uns zum Donald Duck?«, fragte Tom, als sie den Stadtgarten betraten. Sascha nickte. Ihm war jeder Platz recht. Hauptsache, es war kein Klassenzimmer.
Besagter Donald Duck war die steinerne Figur eines wackeren Erpels, die mitten im Teich stand. Das Federvieh hatte einst im Zweiten Weltkrieg vor dem Bombenangriff gewarnt und damit einigen Freiburgern das Leben gerettet, die sich dank seines aufgeregten Geschnatters rechtzeitig in den nahe gelegenen Luftschutzbunker im Schlossberg retten konnten. Als Dank wurde der Ente für ihr heldenhaftes Verhalten ein steinernes Ehrenmal im Stadtgarten gesetzt. Ob die Geschichte tatsächlich stimmte, wussten die beiden Schüler nicht. Aber Saschas Oma hatte sie ihnen oft genug erzählt. Und die musste es schließlich wissen.
Der Stadtgarten war an diesem sonnigen Montagmorgen noch menschenleer. Auf der großen Wiese, wo nachmittags Mütter mit ihren Kindern Ball spielen und damit die halb nackten Sonnenanbeter nerven würden, war noch niemand zu sehen. Auch Vertreter der akademischen Szene machten sich rar – die waren um diese frühe Uhrzeit in Freiburgs Stadtbild genauso häufig anzutreffen wie Königspinguine an der Copacabana. Es schien also alles in bester Ordnung zu sein.
Doch an diesem Morgen störte etwas die Idylle. »Siehst du, was ich sehe? Oder ist das eine Fata Morgana? Wäre doch möglich bei der Affenhitze.« Tom schaute Sascha durch seine schwarz getönte Sonnenbrille fragend an. An einem der alten Bäume baumelte etwas, das dort definitiv nicht hingehörte.
Die beiden Jungs näherten sich neugierig. Das Objekt entpuppte sich als Schaufensterpuppe, bekleidet mit grasgrünen Bermudas, einem ausgewaschenen gelben T-Shirt und einer Spielzeug-Plastikkamera um den Hals. Sie war mit einem Strick an einem Ast aufgeknüpft worden.
»Äh?« Sascha fehlten die Worte. Die beiden betrachteten verblüfft die seltsame Puppe, deren grellrot bemalte Fingernägel im krassen Gegensatz zu ihren weißen Plastikhänden standen. Dabei entdeckten sie die grüne Papptafel, die ihr jemand auf die Brust geheftet hatte. »Wir haben genug von euch Touristen. Macht euren Lärm und Dreck woanders. ›Die Freiburger‹«, las Tom laut vor.
»Du liebe Zeit. Da hängen noch mehr von der Sorte.« Sascha deutete mit dem Zeigefinger auf eine alte Eiche. Dort schaukelte eine Plastikblondine mit gelbem Sonnenhut verträumt vor sich hin. Irgendjemand hatte sie in ein billiges Blümchenkleid gesteckt, das schon lange aus der Mode gekommen war. Sie trug ebenfalls ein Schild um den Hals. Auch weiter hinten hing eine Puppe an einem Ast. Sie richtete ihren starren Blick auf die Enten, die ungerührt auf dem Teich ihre Runden drehten.
Sascha fand den Anblick überhaupt nicht lustig. Er wandte sich etwas verunsichert an seinen Mitschüler. »Hast du eine Ahnung, was das soll?«
Tom zuckte mit den Achseln. »Wer weiß? Möglicherweise hat sich hier ein Künstler ausgetobt. Die haben oft verrückte Ideen. Vielleicht ist das so eine Art Installation. Es gibt ja auch Leute, die Bäume mit Plastikfolien verhüllen.« Toms Eltern hatten ihm Fotos von einer Kunstaktion in der Fondation Beyeler in Riehen gezeigt, wo das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude einhundertachtundsiebzig Bäume mit Plastikfolien verhüllt hatte. Tom mochte die Bilder. Ganz im Gegensatz zu dem, was er jetzt vor Augen hatte. Die Szenerie wirkte geradezu unheimlich. Die Puppen sahen sehr, sehr echt aus. Wie Menschen eben.
Den beiden Gymnasiasten war die Sache äußerst suspekt, auch wenn sie es nicht zugegeben hätten. Wie üblich traf Tom eine Entscheidung: »Komm, lass uns lieber von hier verschwinden. Sonst heißt es wieder, wir waren das.« Die beiden verließen eiligst den Stadtgarten, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Und was machen wir jetzt?«, erkundigte sich Tom, immer noch unternehmungslustig. So leicht ließ er sich nicht aus der Fassung bringen.
Doch Sascha war die Lust auf die große Freiheit vergangen. »Lass uns lieber in Mathe gehen. Sonst hängt uns unser Oberstudienrat auf, wenn wir gar nicht mehr erscheinen.« Er pfefferte entschlossen seinen leeren Becher in einen Papierkorb. »Jetzt müssen wir uns nur noch etwas einfallen lassen, warum wir zu spät und ohne Hausaufgaben auftauchen.«
Tom grinste und rückte seine Sonnenbrille zurecht. »Wir sagen einfach, wir hätten mit Puppen gespielt und dabei die Zeit vergessen. Das glaubt er uns bestimmt.«