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Während kurz darauf städtische Mitarbeiter, die von einer empörten Stadtgartenbesucherin verständigt worden waren, schleunigst die Puppen von den Bäumen holten, griff Magdalena Schulze-Kerkeling bei der Erziehung ihres Sohnes mal wieder zum äußersten Mittel.

»Matthäus, du weißt genau, dass ich mich nicht wohlfühle, wenn du zu anderen Kindern Mistkäfer sagst.« Jedes Wort wurde von ihr so überdeutlich artikuliert, dass es auch alle anderen Anwohner der Spielstraße mitbekamen. Ob sie wollten oder nicht. Matthäus, Ursache besagten Unwohlseins, zeigte sich nur mäßig beeindruckt. Im Gegensatz zu einer älteren Dame, die den Dialog, der sich auf der Straße abspielte, interessiert verfolgte, während sie im Vorgarten eifrig braune Blättchen von ihren Rosen entfernte.

»Wir haben das doch erst gestern ausdiskutiert, dass böse Wörter negative Schwingungen verursachen«, versuchte Magdalena Schulze-Kerkeling erneut ihr Glück, an die Gefühle ihres Sprösslings zu appellieren. Der Zehnjährige, der eine viel zu große Brille trug, zeigte den Kindern auf dem Spielplatz noch einmal entschlossen den Stinkefinger, bevor er seiner Mutter widerwillig hinterhertrabte. Kreischende Kleinkinder gingen Matthäus einfach auf die Nerven. Er nervte lieber selbst. Bevorzugt Erwachsene, die sich leichtsinnigerweise in seiner Nähe aufhielten.

»In der Wiehre verstehen sie es einfach hervorragend, mit Kindern umzugehen«, murmelte Katharina Müller, die nicht zum ersten Mal auf ihrem Balkon unfreiwillige Zeugin dieser einfühlsamen Erziehungsmethoden wurde, vor sich hin. Gegenüber ihrer Wohnung befand sich zu ihrem großen Leidwesen ein Kinderspielplatz. An den verzogenen Bälgern, die sich dort lautstark mit ihren Sandschäufelchen auf die Köpfe schlugen, hätte sich selbst die RTL-Super-Nanny die Zähne ausgebissen.

Besagter Stadtteil, in dem Katharina seit einigen Jahren lebte, war selbst in der Ökostadt Freiburg, die sich mit dem Titel »Green City« schmückte, berüchtigt. Er zeichnete sich neben prächtigen und völlig überteuerten Altbauwohnungen vor allem durch einen überdurchschnittlich hohen Bewohneranteil an Akademikern, kompromisslosen Veganern, militanten Nichtrauchern und Grünen-Wählern aus. Was wiederum im Widerspruch zu den alten VW-Bussen stand, mit denen Katharinas Nachbarn ungerührt die Umwelt verpesteten. Gegen den gewaltigen CO2-Ausstoß halfen auch die aufgepinselten Sonnenblumen nichts, mit denen der Lack der verrosteten Familienkutschen verziert war. Die Wiehre war eben eine kleine Welt für sich.

Übertroffen an Ökospießertum wurde der Stadtteil nur noch vom Freiburger Vauban-Viertel, das kollektiv mit Nahwärme den Winter überstand. Eine Kollegin, die auf Wohnungssuche war, hatte Katharina erzählt, dass sie in der dort neu gebauten Solarsiedlung ein halbwegs erschwingliches Appartement hätte mieten können. Vorausgesetzt, sie wäre bereit gewesen, ihr Auto zu verkaufen. Die Kollegin hatte dankend abgelehnt und war mit ihrem weißen Alfa Romeo vor so viel Umweltbewusstsein geflüchtet.

Magdalena Schulze-Kerkelings Blick wanderte nach oben. »Ah, Katharina! Gut, dass ich dich sehe. Kannst du heute Abend zu mir kommen? Du hast doch bestimmt nichts vor.« Magdalena redete einfach weiter, bevor Katharina protestieren konnte. »Offensichtlich hast du ja schon wieder frei.« Ihre Nachbarin kicherte. »So gut wie du wollte ich es mal haben. Ich würde meine Vormittage auch gern auf dem Balkon verbringen. Kein Wunder, dass du immer so braun bist. Aber vergiss nicht: Zu viel Sonne gibt Falten.«

Katharina grummelte leise vor sich hin. Was wusste schon Magdalena Schulze-Kerkeling von Katharinas Arbeitsalltag. Sie hatte am Wochenende in der Redaktion Dienst geschoben und feierte heute ihre Überstunden ab. Katharina war nicht bekannt, dass ihre Nachbarin einer geregelten Arbeit nachging. Vielmehr verbrachte Magdalena die meiste Zeit damit, völlig überflüssige Ratgeber zu lesen, die so vielversprechende Titel wie »So spreche ich mit Engeln« trugen. Erst kürzlich schwärmte Magdalena von einem Seminar, das ihr endlich die Augen geöffnet habe. Was hatte sie darüber noch mal erzählt? Katharina versuchte, sich zu erinnern. Richtig, der Mensch unterscheide sich nur durch sein Bewusstsein von Steinen. Für diese Erleuchtung hatte ihre Nachbarin fünfhundert Euro bezahlt. Woher sie das Geld nahm, war Katharina ein Rätsel. Sie wusste nur, dass Magdalena gelegentlich in einem kleinen Geschäft in Freiburg jobbte, dessen Sortiment hauptsächlich aus Heilsteinen, ätherischen Ölen und ähnlichem Unsinn bestand. Vermutlich kam das Geld, mit dem sie Freiburgs Esoterikszene unterstützte, von Matthäus’ Erzeuger, den noch nie jemand gesehen hatte.

Bevor Katharina eine pampige Antwort geben konnte, plapperte Magdalena Schulze-Kerkeling munter weiter. »Da du offensichtlich nicht arbeiten musst, hilfst du mir bestimmt gern bei den Vorbereitungen für unser Nachbarschaftsfest. Bei dem tollen Wetter können wir uns doch am Samstagabend gemütlich im Garten zusammensetzen.« Katharina zuckte entsetzt zusammen. Doch Magdalena war nicht mehr zu bremsen. »Das wird richtig toll, wenn wir uns alle besser kennenlernen. Schließlich sind wir Nachbarn.« Magdalena schaute erwartungsvoll zu Katharina hoch. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte es sich die alleinerziehende Mutter in den Kopf gesetzt, die Schwingungen in der Straße positiv zu beeinflussen.

Katharina stöhnte innerlich auf. Die Frau hatte einfach zu viel Zeit, um sich so einen Blödsinn auszudenken. Als sie das letzte Mal zu einem Besuch bei ihr genötigt worden war, war ihr nicht klar gewesen, dass diese mit ihren verrückten Freundinnen geplant hatte, den Sommer stimmungsvoll zu begrüßen. Allerdings nicht mit einem Grillfest wie normale Menschen, sondern mit einem Tanz in weißen, wallenden Gewändern. Das Spektakel fand zur großen Freude der Studenten, die nebenan im Wohnheim hausten, im Garten statt. Die angehenden Akademiker bereicherten die sphärischen Klänge, zu denen die Damen elfengleich die Arme Richtung Vollmond streckten, mit fetziger Rockmusik. Was wiederum die Tänzerinnen empfindlich aus dem esoterischen Takt brachte. Beide Parteien schieden in dieser sternenklaren Nacht nicht als Freunde. Daran konnte auch gutes Zureden der hinzugerufenen Polizeibeamten nichts ändern.

Gut, ein Nachbarschaftsfest konnte wohl kaum solche Formen wilder Ekstase annehmen, hoffte Katharina. Ganz sicher war sie sich aber nicht.

»Okay, ich schaue bei dir vorbei. Viel Zeit habe ich aber nicht. Wäre es gegen zwanzig Uhr in Ordnung?« Es war.

»Herr Österreicher hat ebenfalls versprochen, dass er bei der Planung hilft«, setzte Magdalena noch eins drauf. »Den kennst du doch. Ihr habt ja schon beruflich miteinander zu tun gehabt. Mit dem müsstest du dich eigentlich gut verstehen.«

Was angesichts der Tatsache, dass Katharina und Markus Österreicher, der eine alte Luxusvilla in der Wiehre sein Eigen nannte, schon seit geraumer Zeit kein Wort mehr miteinander wechselten, doch sehr optimistisch war. Denn Katharina, die sich ihren Lebensunterhalt als Journalistin beim Regio-Kurier, einer kleinen Freiburger Zeitung, verdiente, hatte schon einige Zusammenstöße mit dem stadtbekannten Schauspieler hinter sich gebracht. Sie hielt ihn für einen aufgeblasenen Wichtigtuer, der sein Spießertum unter seiner stets schwarzen Kleidung und hinter hohlen Sponti-Sprüchen verbarg. Abgesehen davon war er als Darsteller völlig talentfrei. Und dieser Meinung hatte sie in einem ihrer Artikel über einen seiner zwischenzeitlich eher seltenen Bühnenauftritte deutlich Ausdruck verliehen. Was ihr Österreicher bis heute nicht verziehen hatte. Seither strafte er die Vertreterin der schreibenden Zunft, von der er sowieso nichts hielt, mit Nichtachtung.

Katharina resignierte. Gegen ihre überspannte Nachbarin kam sie einfach nicht an. Und für einen Rückzieher in Sachen Gartenfest war es jetzt eh schon zu spät. »Ich freue mich, bis heute Abend«, log Katharina tapfer, während sich Frau Schulze-Kerkeling mit Matthäus, der Katharina beherzt die Zunge herausstreckte, davonmachte.

Vielleicht kann es wirklich nicht schaden, sich mit der Nachbarschaft etwas besserzustellen, dachte Katharina schuldbewusst angesichts der Tatsache, dass sie mit ihren auf dem Balkon gerauchten Zigaretten möglicherweise zum verfrühten Tod der Anwohner durch Passivrauchen beitrug.

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seit Wochen lag jetzt schon diese brütende Hitze über der Stadt. Katharina liebte den Sommer, aber so langsam war es selbst ihr zu viel des Guten. Sie zündete sich noch eine Zigarette an. Zum Glück musste sie heute nicht mehr in die Redaktion. Zum Arbeiten war es schlicht zu heiß.

Bevor sie für den Regio-Kurier in die Tasten griff, hatte Katharina für eine große Schweizer Tageszeitung gearbeitet. Bis sie es einfach nicht mehr aushielt. Denn ihre damalige Chefin, deren Bosheit ihre Dummheit noch erheblich übertraf, ließ nichts aus, um ihr jeden Tag das Leben zur Hölle zu machen. Obwohl sie in der Schweiz mehr als jetzt verdiente, schmiss Katharina das Handtuch und landete beim Regio-Kurier in Freiburg. Das Blatt versuchte ambitioniert, aber mit mäßigem Erfolg mit der ortsansässigen Tageszeitung zu konkurrieren. Zugegeben, Auflage und Anzeigenumsätze waren steigerungsfähig. Aber dafür stimmte das Betriebsklima. Und das war für Katharina wesentlich wichtiger als ein paar Franken mehr im Monat.

Sich von einem Ehemann finanziell abhängig zu machen, war für Katharina nie in Frage gekommen, zumal sie nie den geringsten Wunsch nach Nachwuchs verspürt hatte. Im Gegenteil: Jedes Mal, wenn ihr der kleine Matthäus über den Weg lief, fühlte sie sich in ihrer Entscheidung bestätigt, keine eigenen Kinder in die Welt zu setzen.

Das einzige Wesen, mit dem sie sich als dauerhaften Partner in ihrer Wohnung arrangiert hatte, war ein schwarz-weißer Hase, der im trauten Freundeskreis feierlich bei viel Rotwein auf den phantasievollen Namen »Hasi« getauft worden war. Hasi war das Geschenk eines erfolgreichen Züchters, den Katharina interviewt hatte. Hasi war bei seiner ersten und letzten Zuchtausstellung bei der Disziplin Ohrenmessen durchgefallen, weil die Wertungsrichter seine samtigen Löffel für zu kurz befunden hatten. Katharina bekam deshalb nicht nur interessantes Infomaterial über Hasenzucht, sondern den Hasen mit dem Schönheitsfehler gleich mit in die Hand gedrückt. Immerhin passte Hasi blendend zu ihrer Nachbarschaft: Bei ihm stand ebenfalls nur rein Vegetarisches auf der Speisekarte. Damit hörten die Gemeinsamkeiten allerdings auf, denn ansonsten verhielt sich das Tierchen relativ normal. Was man nun wirklich nicht von allen Wiehre-Bewohnern behaupten konnte.

Katharina zündete sich gedankenverloren noch eine Gauloises an, während sie einen Schluck aus ihrem Kaffeebecher nahm. »Reines Gift«, wie Magdalena Schulze-Kerkeling nicht müde wurde, zu betonen. Auf was für einen Blödsinn hatte sie sich da nur wieder eingelassen? Katharina legte sich seufzend zurück in ihren Liegestuhl und versuchte, den Rest des Nachmittags zu genießen. Sie schlief trotz des Geschreis auf dem Kinderspielplatz selig ein.

***

Kurz vor acht machte sich Katharina missmutig auf den Weg zu ihrer Nachbarin, die zwei Häuser weiter wohnte. Magdalena Schulze-Kerkeling öffnete ihr die Tür. Sie trug trotz der Hitze eine selbst gefilzte bunte Jacke.

»Hallo, Katharina. Schön, dass du da bist.« Ihre Nachbarin, die ihr hennarotes Haar mit einem bunten Tuch zusammengebunden hatte, hauchte ihr links und rechts ein Küsschen auf die Wange. Katharina verzog das Gesicht. Sie hasste diese Art von Begrüßung.

»Würde es dir was ausmachen, deine Schuhe auszuziehen?« Magdalena hielt Katharina, die bereits im Gang stand, am Arm fest. Katharina rollte mit den Augen, zog aber brav ihre Sandalen aus und stellte sie auf einer eigens dafür vorgesehenen Bambusmatte ab. Sie tapste ihrer Nachbarin auf bloßen Füßen hinterher. Aus einer Ecke im Hausflur grinste ihr ein goldener Buddha mit beachtlichem Körperumfang zu. Katharina zog bei seinem Anblick unwillkürlich den Bauch ein.

In der Küche saßen bereits die anderen Organisatoren des Nachbarschaftsfestes an einem runden Holztisch. Trotz des geöffneten Fensters schwebte ein süßlicher Geruch im Raum. Ursache waren zwei entzündete Kerzen, die penetrant nach Zimt und Vanille rochen. Die Küchenwand war mit Engelbildern zugepflastert.

Magdalena bemerkte Katharinas Blick. »Diese lichtvollen Gestalten erfüllen mein Herz und geben mir Ruhe«, schwärmte sie.

Klar, was sonst. Katharina nickte ergeben und setzte sich auf den letzten freien Stuhl.

Neben Markus Österreicher, der bei Katharinas Anblick schmerzhaft das Gesicht verzog, hatten sich zwei lächelnde Damen undefinierbaren Alters niedergelassen. Deren farbenprächtiges Outfit, ebenfalls aus ökologischem Filz, erinnerte Katharina spontan an die Flecklehäs, eine bekannte Freiburger Narrenzunft. Offensichtlich hatte das Duo denselben Filzkurs wie Magdalena besucht. Wenigstens hatte sich Matthäus dankenswerterweise in sein Kinderzimmer verzogen.

»Willst du einen Schluck Roibuschtee? Darin ist garantiert kein Koffein.« Magdalena Schulze-Kerkeling hatte die Kanne schon in der Hand.

Katharina lehnte dankend ab. Tee trank sie nicht mal, wenn sie krank war.

»Also, wir haben uns das Fest am Samstag folgendermaßen vorgestellt«, erklärte die Gastgeberin, nachdem Katharina bei den anderen Platz genommen hatte.

Als sie ihre Beine ausstreckte, traf sie versehentlich das Knie des Schauspielers. Österreicher schleuderte ihr einen wütenden Blick zu. Meine Güte, der Mann war vielleicht empfindlich. Katharina entschuldigte sich höflich, bekam aber keine Antwort. Sie verspürte große Lust, erneut zuzutreten.

Magdalena ließ sich von der schlechten Aura, die sich in ihrer Küche breitzumachen drohte, nicht aus dem Konzept bringen.

»Bei dem schönen Wetter sitzen wir am Samstag natürlich hinten im Garten. Bierbänke und Tische sind bereits organisiert. Und zum Essen gibt’s Tofu, Austernpilze und Salat. Hanna und Monika werden sich darum kümmern.« Sie deutete auf die beiden Damen, die eifrig nickten.

Katharina, die ein gutes Schnitzel durchaus zu schätzen wusste, beschloss jetzt schon, vor dem Fest etwas Ordentliches zu essen. Sie hatte sich bislang weder mit Tofu noch mit Austernpilzen anfreunden können.

Magdalena, die emsig an ihrem Roibuschtee nippte, hatte sich natürlich auch schon Gedanken über das Rahmenprogramm des Festes gemacht.

»Markus Österreicher wird uns mit humoristischen Einlagen unterhalten. Das wird bestimmt lustig.«

Gut, das war zu befürchten gewesen, dass sich der Schauspieler diese Chance nicht entgehen ließ, vor der Nachbarschaft anzugeben, zumal die Anzahl seiner Engagements in den vergangenen Jahren empfindlich zurückgegangen war. Österreicher nickte hoheitsvoll in die Runde, während ihn die beiden Flecklehäs begeistert anstrahlten. Katharina verzog keine Miene. Außer anti-amerikanischen Parolen war von Österreicher sowieso nichts Neues zu erwarten.

»Und mein Matthäus spielt auf der Blockflöte ein Stück von Joan Baez. Er hat schon fleißig geübt.« Magdalena strahlte vor Stolz wie ein japanisches Atomkraftwerk. Bei dieser Ankündigung zuckten selbst die beiden Flecklehäs, die auf Katharina wie siamesische Zwillinge wirkten, zusammen.

Die Gastgeberin spendierte erneut eine Runde Tee. »Frau Jäger hat ebenfalls versprochen, an dem Abend vorbeizuschauen.«

Das war für Katharina schon eher ein Lichtblick, denn Anneliese Jäger, pensionierte Lateinlehrerin, die als Grünen-Stadträtin das Volk vertrat, fiel regelmäßig durch unkonventionelle Meinungsäußerungen auf. So hatte sie allen Ernstes in der jüngsten Gemeinderatssitzung den Vorschlag unterbreitet, in Freiburg die schwarzen Schultafeln durch blaue zu ersetzen. Mit der Begründung, dass die Farbe Schwarz Depressionen bei den Schülern auslösen könnte. Trotz ihrer manchmal grenzenlosen Naivität und Sturheit fand Katharina die Stadträtin nicht unsympathisch. Denn die war dem arroganten Freiburger Oberbürgermeister Norbert Winkler schon öfter kräftig über den Mund gefahren. Schließlich musste die resolute Pensionärin zeit ihres Berufslebens mit pubertierenden Schülern fertig werden. Und diese Fähigkeit, andere zu übertönen, kam ihr jetzt im Gemeinderat durchaus zugute. Wenn sie mal am Reden war, hatte kein anderer eine Chance, das Wort zu ergreifen. Und was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, focht Anneliese Jäger eisern durch. Nicht zuletzt war es ihrem Engagement zu verdanken, dass in der Wiehre ein Jugendtreff eingerichtet wurde. Deshalb sah es ihr Katharina auch nach, wenn die verwitwete Stadträtin regelmäßig bei öffentlichen Empfängen unauffällig ein paar Häppchen der kalten Büfetts in ihrer Handtasche verschwinden ließ. Die meisten Mitglieder des Freiburger Gemeinderats sahen eh nicht so aus, als ob sie Opfer einer Hungersnot wären.

»Und jetzt zu dir, Katharina! Kochen kannst du nicht, wie wir alle wissen. Aber du könntest doch vielleicht etwas Schönes über unser Fest schreiben, oder?«, wandte sich Magdalena an Katharina, ohne eine Antwort abzuwarten. »Dann steht in deinem Blatt ausnahmsweise mal was Gescheites drin. Außerdem wär’s schön, wenn du die Einladungen verteilen würdest. Zeit hast du ja dafür.« Katharina nickte ergeben. Magdalena darüber aufzuklären, dass sie sich eher die Finger abhacken würde, bevor sie eine Zeile über dieses Gartenfest schreiben würde, hielt sie für völlig überflüssig. Magdalena hatte schlicht keine Ahnung von Journalismus. Dafür umso mehr von Lachyoga.

Während die Flecklehäs ausführlich den kulinarischen Part des Festes erläuterten, waren in der Küche auf einmal seltsame Geräusche zu sphärischer Musik zu hören.

»Hat der arme Matthäus Blähungen von dem vielen Gemüse, das du ihm immer verabreichst?«, erkundigte sich Katharina scheinheilig bei ihrer Nachbarin. Die sah sie böse an.

»Das ist meine neue CD mit Walgesängen. Die wirken total entspannend. Könntest du ruhig auch mal probieren.« Magdalena Schulze-Kerkeling war mal wieder fassungslos angesichts so viel Ignoranz. »Du rauchst eh viel zu viel, das ist nicht gut für deine Chakren«, fügte sie unerwartet bissig hinzu. Beim blauen Dunst hörte der Spaß bei Magdalena Schulze-Kerkeling endgültig auf. Das war ihrer Meinung nach noch schlimmer als das Verspeisen von toten Tieren in Form von Wurst oder Steaks.

Katharina verzichtete auf eine Antwort und beschloss stattdessen, schleunigst die Flucht zu ergreifen. Für heute hatte sie mehr als genug zu einem friedlichen Miteinander in der Wiehre beigesteuert, befand sie. Abgesehen davon wurde ihr so langsam übel von dem süßlichen Duft, den die Kerzen unentwegt verströmten.

»Ich muss leider gehen«, verabschiedete sie sich eilig bei den Flecklehäs und dem Schauspieler, der sie erneut finster anblickte. Offensichtlich hatte er ihr weder ihre Kritik über seinen Auftritt noch ihren Fußtritt verziehen. Arroganter Blödmann!, schoss Katharina durch den Kopf, als sie die Runde noch einmal gequält anlächelte. Wenigstens nickten ihr die beiden Flecklehäs freundlich zu.

Bevor Katharina endlich ihre Sandalen wieder anziehen durfte, zog sie Magdalena Schulze-Kerkeling noch einmal zurück.

»Matthäus hat ein Geschenk für dich«, flüsterte sie und drückte der verdutzten Katharina einen Aufkleber mit der Aufschrift »Atomkraft? Nein danke« in die Hand. »Mein Sohn hat nämlich festgestellt, dass du die Einzige in der Straße bist, die ohne diesen Aufkleber auf dem Auto herumfährt«, bemerkte sie süffisant, bevor sie die Tür hinter Katharina schloss.

Wenn mir diese miese kleine Kröte noch einmal die Zunge herausstreckt, verpfeife ich ihn bei seiner Mutter, beschloss Katharina spontan auf ihrem kurzen Heimweg. Sie hatte noch nie viel davon gehalten, ihre politische Gesinnung auf ihrem Fahrzeug für alle sichtbar spazieren zu fahren.

Auf dem Balkon rauchte sie noch eine letzte Zigarette, bevor sie ins Bett ging. Den Rauch pustete sie, so gut es ging, in die Richtung von Magdalena Schulze-Kerkelings Wohnung.

Hasi, der genauso wie sein Frauchen erst zu später Nachtstunde zu Hochform auflief, mümmelte genüsslich an einer Petersilie. Am Himmel waren die ersten Sterne zu sehen. Katharina entdeckte den Großen Wagen, das einzige Sternbild, das sie kannte. Schlagartig fiel ihr bei diesem Anblick ein, dass sie dringend zum TÜV musste. Sie beschloss, gleich morgen früh ihre Werkstatt anzurufen. Vielleicht konnte sie bei der Gelegenheit ihr Auto waschen lassen. Normalerweise ließ sie es einfach draußen stehen, wenn es regnete. Doch seit es so anhaltend heiß war, hatte ihr fahrbarer Untersatz schon lange kein Wasser mehr gesehen. Zwischenzeitlich sah der rote Fiat so verstaubt aus, als ob er eine Wüstenfahrt zurückgelegt hätte. Irgendjemand hatte ihr »Verkel« auf die staubige Windschutzscheibe geschrieben. Katharina hatte so einen unbestimmten Verdacht, wer das gewesen sein könnte. Sie kannte nur einen, der Ferkel mit V schreiben würde: Matthäus.