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»Das ist nicht dein Ernst.« Katharina schaute ihren Chef ungläubig an. »Lieber spüle ich einen Monat lang alle schmutzigen Kaffeetassen, die ihr immer stehen lasst.«

»Vergiss es. Außerdem haben wir eine Geschirrspülmaschine. Du gehst da heute Abend hin. Ich kann wirklich nichts dafür, dass Erwin krank geworden ist. Der hat fast geheult, dass er Hansi Hintervogel nicht hören darf.«

»Also, ich kann gut darauf verzichten«, jammerte Katharina. »Einen ganzen Abend lang dieses Gewimmere, das stehe ich nicht durch.«

»Du bist zäh. Das schaffst du schon«, versicherte ihr der Redaktionsleiter. »Du kannst ja Dominik mitnehmen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Wo steckt der Kerl eigentlich?«

Katharina zuckte mit den Achseln. Es war ihr im Moment herzlich egal. Den Schock musste sie erst verkraften. Frau Dr. Klagemann, die in der Redaktionskonferenz neben ihr saß, grinste schadenfroh. Katharina hätte ihr am liebsten eine geknallt. Bambi schaute seine Kollegin mitleidig an. Allerdings war er mehr als erleichtert, dass dieser Kelch an ihm vorübergegangen war.

Katharina schmollte. Wenn sie als bekennender AC/DC-Fan etwas noch mehr hasste als Walgesänge, waren es Klänge von Heimatliebe und Sehnsucht nach den Bergen.

»Ich geh jetzt einen Kaffee trinken. Schließlich muss ich Dominik noch schonend beibringen, dass du uns den heutigen Abend gründlich versaust«, maulte sie kurz darauf in Gutmanns Büro.

»Katharina, jetzt sieh’s endlich ein. Es geht nicht anders. Die Klagemann lassen die doch schon gar nicht rein. Und was mit Bambi bei so einer Massenveranstaltung passieren könnte, will ich mir gar nicht ausdenken. Der kommt da nie und nimmer heil wieder raus. Also bleiben nur du und Dominik übrig. Trinkt vorher einen ordentlichen Schluck Rotwein, dann werdet ihr das Spektakel schon überleben. Am Ende gefällt’s dir noch.«

Anton Gutmann wandte sich wieder seinem PC zu. Katharina rauschte angesäuert aus seinem Büro und ließ dabei die Tür ins Schloss fallen. Gutmann schmunzelte und legte eine Frank-Sinatra-CD ein.

»Dominik, wir haben heute Abend etwas vor«, säuselte Katharina, als ihr Praktikant gegen elf Uhr mit zerzausten Haaren in die Redaktion stürmte. Er hatte schlicht verschlafen.

»Haben wir?«

»Ja, haben wir. Du wirst begeistert sein.« Dominik schaute sie misstrauisch an, bevor er sich den Regio-Kurier schnappte. Sein Blick blieb an einer Überschrift hängen. »Heute Abend großes Stelldichein der Volksmusikstars«. Auf dem dazugehörigen Foto posierten zwei fesche Damen im Dirndl. Dominik ging ein ganzer Kronleuchter auf.

»Sag’s nicht. Ist es das, was ich befürchte?«, erkundigte er sich entsetzt.

»Gut erkannt. Leider werden wir Erwin bei diesem unseligen Ereignis würdig vertreten müssen. Der hat sich wirklich den passendsten Zeitpunkt für seine Sommergrippe ausgesucht. Du wirst mich hoffentlich in den schwersten Stunden meines Lebens nicht allein lassen.« Mit ihrem flehenden Augenaufschlag hätte Katharina jeden Gletscher zum Schmelzen gebracht.

Dominik seufzte tief. »Ist ja gut. Du kannst mich wieder normal anschauen. Ich komme mit.« Katharina atmete erleichtert auf. Zu zweit ließ sich der Abend vielleicht einigermaßen ertragen. Sie beschloss, die Redaktion früher zu verlassen, um sich auf den zu erwartenden Musikgenuss vorzubereiten.

Daheim angekommen, fuhr sie ihren Laptop hoch. In YouTube wurde sie fündig. Nach zehn Minuten »Amici« hatte sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Selbst Hasi, der immer noch in ihrem Arbeitszimmer logierte, fuhr sich nervös mit den Pfoten durch die Barthaare. Seit wann stand sein Frauchen denn auf so ein Gejohle? Was er da hören musste, gefiel ihm überhaupt nicht. Er war ihr aufrichtig dankbar, als sie den Computer herunterfuhr und das Radio anstellte. Joe Cocker sang »Summer in the City«. Der Hase beruhigte sich. Das entsprach schon eher seinem Geschmack.

***

»Du hast gar kein Dirndl an«, witzelte Dominik drei Stunden später, als er ihre Wohnung betrat. Katharina hatte ihr schwarzes AC/DC-Shirt übergestreift und sich in eine enge Jeans geschmissen.

»Wieso, du hast deine Lederhosen auch im Schrank gelassen. Wir müssen uns ja nicht komplett zum Affen machen. Willst du noch einen Schluck Ramazotti, bevor wir die Hufe schwingen?« Dominik wollte. Auch er hatte es nicht besonders eilig. Katharina füllte die Gläser bis zum Rand.

»Na denn, prost.«

Eine halbe Stunde später fuhren die beiden unfreiwilligen Volksmusikbeauftragten leicht angesäuselt in einer hoffnungslos überfüllten Straßenbahn zum Seepark, wo das Spektakel stattfand. Ganze Heerscharen, die den Abend mit Hansi Hintervogel verbringen wollten, drängten sich am Eingang. Wenigstens mussten sie nicht anstehen. Katharina zückte ihren Presseausweis, der Ordner ließ sie anstandslos an der langen Warteschlange vorbei. Sie waren drin. Es konnte losgehen.

Auf dem ehemaligen Gelände der Landesgartenschau tobte bereits das pralle Leben. Tausende von Volksmusikfans, viele trotz der Hitze in grüne Loden gehüllt, warteten auf ihre Lieblinge. Dominik und Katharina kämpften sich durch, um näher an die Bühne heranzukommen. Dabei trat Katharina einer solariumgebräunten Brünetten auf den Fuß, die ein knappes T-Shirt mit der Aufschrift »I love Florian« trug. Ihre drei Begleiterinnen trugen dieselbe Liebeserklärung auf ihrer Brust.

»Wer zum Henker ist Florian?« Dominik konnte mit dem Namen überhaupt nichts anfangen.

Katharina zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir können Erwin fragen, wenn er wieder gesund ist.«

Die Menge begann zu johlen, als ein frisch geföhnter Blondschopf auf der Bühne erschien. Er outete sich als Hansi Hintervogel.

»Seid ihr alle gut drauf?«, brüllte er ins begeisterte Publikum. Ein vielstimmiges »Ja« tönte zurück. Der Blonde schien schwerhörig zu sein, denn er wiederholte seine Frage. Ein noch fröhlicheres und lauteres »Ja« schien ihn endlich zufriedenzustellen.

»Und wie ich gut drauf bin. Ich kann’s kaum erwarten«, knurrte Dominik. Das versprach echt, ein heiterer Abend zu werden.

»Ich liebe euch alle!«, brüllte die Föhnwelle durchs Mikrofon.

»Ja, ja. Du mich auch.« Dominik verzog angewidert das Gesicht. Diese Art von Anbiederei konnte er überhaupt nicht ausstehen. Er warf einen Blick auf seine Kollegin, die neben ihm stand. Auch Katharina schien etwas an Contenance zu verlieren, als Hintervogel die ersten Takte von »Zwei Herzen schlagen im Doppelpack« anstimmte. Konnte es noch schlimmer kommen? Es konnte. Ein etwas übergewichtiger Herr, angekündigt als Garant für gute Laune, betrat die Bühne, der irgendwas von einer »lieben kleinen Schwarzwaldmarie« zum Besten gab. Wenn er nicht gerade sang, erzählte er Witze. Das Publikum grölte vor Begeisterung. Dominik machte tapfer seine Fotos. Am liebsten hätte er die Flucht ergriffen.

»Dominik, das ertrage ich nicht länger. Schau zu, dass du irgendwo Rotwein auftreibst, sonst drehe ich hier durch.« Katharina beobachtete mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen, wie die Volksmusikfans um sie herum immer mehr in einen kollektiven Freudentaumel verfielen. Dominik machte sich eiligst auf die Socken.

Zwanzig Minuten später war er zurück.

»Ich hab sicherheitshalber eine ganze Flasche organisiert.«

»Wie hast du das denn angestellt? Sonst gibt’s Alkohol bei solchen Events doch nur in Plastikbechern und homöopathischen Dosen?«, erkundigte sich Katharina hocherfreut.

»Die hat mir die kleine Schwester von einem Kumpel in die Hand gedrückt, die hier bedient. Aus reinem Mitleid. Die findet die Musik genauso fürchterlich wie wir. Gläser habe ich allerdings keine.«

»Wen interessieren denn solche Kleinigkeiten? Hauptsache Alkohol.« Katharina nahm einen kräftigen Schluck und wischte sich den Mund ab.

»So. Jetzt fühle ich mich schon wesentlich besser.« Der Rotwein schmeckte wider Erwarten vorzüglich. Katharina reichte die Flasche an Dominik weiter. Doch kaum hatte er sie an den Hals gesetzt, riss sie ihm Katharina aus der Hand und nahm erneut einen Schluck.

»Hey, was soll das? Jetzt benimm dich. Ich will schließlich auch noch was«, protestierte ihr Praktikant.

Katharina ignorierte ihn. Ihre Laune wurde zunehmend besser. Daran konnte jetzt auch der geschniegelte Moderator mit seinen abgedroschenen Sprüchen nichts mehr ändern.

Unterdessen hatte ein Duo namens Schwarzwälder Schürzenjäger die Bühne besetzt, das inbrünstig »Sierra Madre« schmetterte. Obwohl es noch taghell war, wurden die ersten Wunderkerzen angezündet. Allgemeine Rührung machte sich breit. Katharina, die schon nicht mehr ganz sicher auf den Beinen stand, sang begeistert mit. Dominik war mehr als befremdet.

»Seit wann hast du es denn mit Bergen?«, erkundigte er sich. »Du schaffst es doch nicht einmal, den Schlossberg ohne Pausen hochzulaufen.«

Keine Antwort. Katharina starrte wie ein hypnotisiertes Karnickel auf die strammen Waden der Schürzenjäger.

Abgelöst wurden die Herren von einem jungen, gut aussehenden Trompeter. Die ersten Damen schmissen Blümchen. Dominik hoffte aus tiefstem Herzen, dass es bei Blümchen bleiben würde. Als der Musiker von einem Teddybären am Kopf getroffen wurde, flüchtete er erschrocken. Die Menge tobte. Der blonde Moderator übernahm erneut das Kommando.

»Und jetzt darf geschunkelt werden«, drohte er. Die ersten Klänge des Schneewalzers setzten ein. Bevor Katharina reagieren konnte, hatte sich bei ihr schon ein schnauzbärtiger Herr mittleren Alters untergehakt. Nach dem ersten Schreck schunkelte sie mit. Dominik erging es nicht besser. Er hing hilflos zwischen zwei Damen, die ihn in ihre Mitte genommen hatten. Die Frauen rissen gnadenlos an ihm herum. Dominik fluchte leise und versuchte, auf den Beinen zu bleiben. Das war das erste und letzte Mal, dass er sich für so etwas hergab. Er schüttelte die Damen entschlossen ab, die ihn auch nicht loslassen wollten, als die Musik zu Ende war.

Auf der Bühne hatten sich drei Herren fortgeschrittenen Alters in Holzfällerhemden breitgemacht. Einer sang, zwei spielten Gitarre. Keiner von ihnen verzog eine Miene. Ihre bleichen Gesichter korrespondierten trefflich mit ihren grauen Mähnen. Dominik fühlte sich an einen Zombi-Film erinnert, den er sich erst kürzlich nachts reingezogen hatte. Ihm war es ein Rätsel, was alle an den »Amici« fanden, die regungslos »Sweet little Rehlein« zum Besten gaben. Jeder Wäscheständer besaß mehr Ausstrahlung als dieses Trio. Doch der Stimmung nach schien es sich um den Höhepunkt des Abends zu handeln. Das Publikum war außer Rand und Band.

»Ich hab schon eine Überschrift für deinen Artikel«, brüllte Dominik seiner Kollegin zu. »Die Nacht der singenden Leichen.« Katharina, die sonst für Bemerkungen dieser Art sehr viel übrig hatte, reagierte nicht. Sie war zu sehr damit beschäftigt, mitzuklatschen. Die leere Weinflasche lag auf dem Boden.

Dominik beschloss, die Flucht zu ergreifen. Er hatte mehr als genug von dem Spektakel. Jetzt musste er nur noch schauen, dass er seine Kollegin von dem Schnauzbärtigen loseiste, bevor da noch etwas passierte, was Katharina am nächsten Tag bereuen würde.

»Auf geht’s, Maderl. Wir hauen ab. Du hast dich jetzt genug amüsiert.« Katharina machte keinerlei Anstalten, ihm zu folgen. Sie strahlte den Schnauzbärtigen an. Der lächelte verzückt zurück und grapschte nach ihrer Hand. Dominik wurde ungeduldig.

»Jetzt komm endlich. Feierabend.« Er packte Katharina entschlossen am Arm. Der Schnauzbärtige ließ widerwillig ihre Hand los.

»Spaßbremse!«, maulte Katharina, während sie sich von Dominik durch die wogende Menge ziehen ließ.

»Von wegen Spaßbremse. Ich bin ausschließlich um deine Moral besorgt. Und du kannst dir überlegen, ob du mir nächste Woche nicht täglich den Kaffee bringen willst, damit ich keinem erzähle, wie du dich hier aufgeführt hast.«

Katharina lächelte ihn triumphierend an. Ihr Zungenschlag war etwas schwer. »Darüber muss ich mir überhaupt gar keine Gedanken machen. Das würde dir nämlich eh keiner glauben.«

»Täusch dich da mal nicht«, grinste Dominik. Er hatte nämlich nicht nur Fotos von den Volksmusikstars geschossen, sondern auch von Katharina im Arm ihres Verehrers. Während sie den Schneewalzer vor sich hin summte, schleppte er sie entschlossen zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Kurz bevor die Straßenbahn kam, erbrach sich Katharina neben dem Abfallbehälter. Der Arbeitseinsatz beim Volksmusikfestival hatte ein würdiges Ende gefunden.