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Bambi freute sich auf einen netten Abend. Er war mit Andrey, dem Cellisten des Moskauer Symphonieorchesters, verabredet. Andrey wollte unbedingt ins »Karma«. Angeblich bekamen die Besucher dort das perfekte Urlaubsfeeling vermittelt. Als Bambi den Innenhof betrat, schallte ihm laute Musik entgegen. Überwiegend Jugendliche räkelten sich auf Liegestühlen und in den Strandkörben. Bambi ergatterte einen Platz auf einem der Polstersitze und schüttete sich leise fluchend Sandkörner aus den Schuhen, bevor er bei einem Kellner einen Cocktail bestellte. Wer kam eigentlich auf so eine blödsinnige Idee, mitten in der Stadt einen Strand anzulegen? Seine Lieblingskneipe würde das »Karma« sicher nicht werden. Ihm war es hier schlicht zu laut und zu voll. So ähnlich stellte er sich das Strandleben im August auf Mallorca vor. Fehlte nur noch, dass die hier Jürgen Drews laufen ließen. Deutsche Schlager waren Bambi ein Gräuel. Vermutlich ein Jugendtrauma, denn seine Mutter war begeisterter Fan von Rex Gildo. Bambi war mit ihrem Lieblingslied »Fiesta Mexicana« aufgewachsen. Es grenzte an ein Wunder, dass er keine bleibenden Schäden davongetragen hatte.
Fünfzehn Minuten später ließ sich Andrey gegenüber von Bambi in das Polster fallen. »Tut mir leid, die Probe hat etwas länger gedauert.« Der Russe sah sich um. »Das ist ja echt nett hier«, meinte er begeistert. Er hatte sich die Schuhe ausgezogen und scharrte mit den Füßen im Sand.
Bambi gab nur ein unbestimmtes »Mmh« von sich. »Und? Wie lief es?«, erkundigte er sich höflich.
»Ganz gut. Mal abgesehen davon, dass uns einer der Geiger abhandengekommen ist. Allerdings wäre das keine Katastrophe, wenn der nicht mehr auftaucht. So wie der auf seinem Instrument herumkratzt. Schostakowitsch würde sich im Grab herumdrehen, wenn er das hören müsste.« Andrey winkte eine schwarzhaarige, etwas zu stark geschminkte Bedienung zu sich und bestellte einen Wodka Lemon. »Gut gegen den Durst«, versicherte er.
Bambi musterte das Getränk skeptisch. Wodka als Durstlöscher war ihm eindeutig eine Spur zu heftig. Sein Gegenüber sah das offensichtlich völlig anders. Er trank das Glas, das ihm die Schwarzhaarige in Rekordzeit auf den kleinen Tisch gestellt hatte, fast in einem Zug aus und bestellte sofort ein neues.
»Warum bekommt so ein Dilettant bei euch überhaupt ein Engagement? Ist es so schwer, gute Musiker zu finden?«, hakte Bambi ungläubig nach.
Andrey verdrehte die Augen. »Ganz einfach. Er ist der Neffe unseres Sponsors. Also spielt er mit. Ob er es kann oder nicht«, klärte er Bambi auf.
»Was heißt, der Neffe von euerm Sponsor? Wem gehört ihr eigentlich?« Bambi schaute den russischen Musiker verblüfft an.
»Uns finanziert ein russischer Milliardär namens Boris Sokolow. Der liebt Musik über alles. Und kann es sich außerdem locker leisten, ein eigenes Orchester zu unterhalten«, klärte ihn Andrey auf. »Abgesehen davon fährt er voll auf deutsche Kultur ab. Jeder hat halt so seine Hobbys.«
»Euch hat einer gekauft? Siebzig Musikerinnen und Musiker? Also, so etwas habe ich wirklich noch nie gehört. Gebt ihr Privatkonzerte in seinem Wohnzimmer, wenn ihr nicht gerade auf Tournee seid? Oder wie darf ich mir das vorstellen?« Bambi war immer noch platt. Sachen gab’s.
Andrey schmunzelte. »Das nun nicht. Aber wir haben schon mehrere Konzerte auf seinem Anwesen gegeben. Vor auserlesenem Publikum, versteht sich.« Er weidete sich sichtlich an Bambis entgeistertem Gesichtsausdruck.
»Was soll ich sagen? Die einen kaufen Fußballclubs und die anderen eben Musiker. Geld dafür ist genügend da, das kannst du mir glauben. Boris Sokolow verfügt über mehr Kohle, als er je in seinem Leben ausgeben kann.« Andrey zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Und deshalb kann Boris Sokolow bestimmen, wer bei uns mitspielt. Blöd ist eben nur, dass sein Neffe völlig talentfrei ist. Von klassischer Musik hat der keine Ahnung. Geschweige denn von Schostakowitsch.«
Bambi ging ein Licht auf. »Ich glaube, dem bin ich nach unserem Interview begegnet. Der kannte nicht mal seinen berühmten Walzer.« Er erzählte Andrey von der Episode im Konzerthaus.
Andrey verdrehte erneut die Augen. »Das war er ganz bestimmt. Ich sag’s dir doch. Der Mann hat keine Ahnung von Musik. Aber als wir in Freiburg ankamen, hat uns Boris Sokolow extra seinen persönlichen Berater vorbeigeschickt, der uns das junge Talent ausdrücklich ans Herz gelegt hat. Wir konnten ihn schlecht wieder wegschicken. Du weißt ja, Geld regiert die Welt. Ob in Moskau oder Freiburg.«
Andrey orderte einen weiteren Wodka Lemon, bevor er fortfuhr. »Auf jeden Fall quält dieser Neffe seit einigen Tagen seine Geige bei uns. Nur gut, dass wir ein großes Orchester sind, da fällt es nicht so auf, wenn’s einer nicht so draufhat.«
Bambi seufzte. Das hatte der russische Komponist nun wirklich nicht verdient, dass ihn ein unbegabter Geiger verhunzte. Bambi war eben in jeder Hinsicht Perfektionist.
»Ach, zu der Geschichte fällt mir noch etwas ein. Dieser geschniegelte Rechtsverdreher, der uns den Geiger angedreht hat, hat mich spontan an den Hauptdarsteller einer Liebeskomödie erinnert, die ich mit meiner Frau anschauen musste. Die fährt voll auf den ab, warum auch immer. Ich weiß nur noch, dass ich im Kino eingeschlafen bin, obwohl Julia Roberts mitgespielt hat. Und die ist nun wirklich nicht zu verachten.« Bambi nickte zustimmend. Offensichtlich hatten er und Andrey nicht nur bei Musik denselben Geschmack. Bei Julia Roberts wäre er auch schwach geworden.
Der Lärmpegel im Innenhof des »Karma« stieg stetig an. Kein Wunder. Es ging zu wie beim Sommerschlussverkauf. Ein Japaner fotografierte entzückt sechs junge Frauen, die sich in ein Bunny-Kostüm gezwängt hatten. Sie trugen allesamt knappe schwarze Tops mit der Aufschrift »Prinzessin hat Prinz gefunden« und versuchten, den Anwesenden Schnaps aufzuschwatzen. Ganz nüchtern schienen die Prinzessinnen selbst nicht mehr zu sein.
Andrey schaute Bambi fragend an. »Was treiben die denn hier?«
»Eine von denen heiratet. Falls sie nach diesem Abend noch in der Lage sein sollte, Ja zu sagen«, klärte Bambi ihn auf. Zu seinem großen Bedauern hatten Junggesellinnen-Abschiede in Freiburg geradezu inflationär an Beliebtheit gewonnen. Nur gut, dass es keine Scheidungspartys gibt, dachte Bambi. Sonst wären noch mehr überdrehte Frauen im Rudel unterwegs.
Den beiden gelang es mit vereinten Kräften, die künftige Braut nebst ihren Freundinnen erfolgreich abzuwehren, bevor Andrey von den Internationalen Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch erzählte, bei denen er vor zwei Jahren aufgetreten war. Bambi war hin und weg. Nur zu gut wusste er, dass sich die weltweite Schostakowitsch-Gemeinde jedes Jahr in dem beschaulichen Kurort in der Sächsischen Schweiz traf. Der große Russe hatte dort im Sommer 1960 innerhalb von nur drei Tagen sein großartiges achtes Streichquartett komponiert – eines von Bambis absoluten Lieblingsstücken.
Er genoss die Unterhaltung mit dem russischen Musiker. Endlich einmal ein adäquater Gesprächspartner, der etwas von klassischer Musik verstand. Was Bambi von seinen Kollegen nun nicht gerade behaupten konnte. Anton Gutmann würde in diesem Leben wohl nicht mehr von seinem Frank-Sinatra-Trip herunterkommen. Katharina fuhr voll auf diesen jaulenden Gitarristen in Schuluniform ab, während Erwin die gesamten Hits der Volksmusik hoch und runter singen konnte. Isolde Klagemann bekam von Musik Kopfweh. Nach intensiver Diskussion hatte man sich geeinigt, dass Musikhören in der Redaktion strengstens tabu war, bevor der Dritte Weltkrieg unter den Mitarbeitern ausbrechen konnte. Und Erwin hatte absolutes Singverbot erhalten, was von allen anderen Beteiligten einhellig und ausdrücklich begrüßt wurde. Lediglich Anton Gutmann durfte weiterhin Frank Sinatra hören.
Es war spät geworden. Andrey verabschiedete sich mit einem kräftigen Handschlag von Bambi. Dafür, dass er fünf Wodka Lemon intus hatte, stand er erstaunlich gerade. Bambi machte sich auf den Weg Richtung Straßenbahnhaltestelle. Gedankenverloren summte er das berühmte D-Es-C-H-Motiv aus dem Schostakowitsch-Quartett vor sich hin. Wirklich schade, dass er keinen Onkel hatte, der Milliardär war. Vielleicht hätte er mit seinem Cello dann auch Karriere bei einem berühmten Symphonieorchester machen können.
Das Scheppern einer rostigen Fahrradklingel riss ihn aus seinen Träumen. »Mach Platz, du Vollpfosten.« Ein junger Mann mit Schildkappe raste an Bambi vorbei und streckte ihm den Mittelfinger entgegen. Bambi wurde erneut in seiner Einschätzung bestätigt, dass Gott nicht nur sieben, sondern acht Plagen auf die Erde geschickt hatte. Er wusste allerdings nicht, was schlimmer war: Dürre, Heuschrecken oder Freiburgs Radfahrer. Bambi tendierte definitiv zu Letzteren.