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»Du brauchst dich erst gar nicht hinzusetzen.« Katharina schaute ihren Chef am nächsten Morgen verblüfft an, der ihr ins Büro hinterhergestürmt war. So ungemütlich war er doch sonst nicht. Bevor sie den Mund aufmachen konnte, klärte sie Anton Gutmann auf.

»Unser aller Oberbürgermeister will sein Volk um sich versammeln. Er hat für zehn Uhr eine Pressekonferenz anberaumt. Und zwar mit höchster Priorität. Mach dich auf die Socken. Kaffeetrinken kannst du hinterher immer noch. Ich bin echt gespannt, was er zu sagen hat.« Ein sonniges Leuchten breitete sich über Gutmanns Gesicht aus.

»Ich habe schon mal eine Flasche Sekt kalt gestellt, falls er seinen Rücktritt ankündigt.«

Katharina schaute auf die Uhr. Es war kurz vor zehn. Sie würde sich beeilen müssen.

»Dominik, kommst du?«, rief sie ihren Praktikanten. Der hatte die Fototasche schon in der Hand.

»Ich bin startklar.«

Obwohl der Termin sehr kurzfristig anberaumt worden war, platzte der Saal im Historischen Kaufhaus fast aus allen Nähten. Die Stühle reichten nicht aus, dass alle Platz fanden. Katharina sah Toni Pfefferle, der sich neben der Tür an die Wand lehnte. Sie winkte ihm zu, doch er bemerkte sie nicht.

Zwei Stuhlreihen vor ihr saß Stadträtin Anneliese Jäger. Sie wirkte kampflustig wie eh und je.

»Hast du eine Ahnung, warum der uns herzitiert hat?« Dominik, der neben Katharina in der letzten Reihe saß, konnte sich absolut keinen Reim auf diese Veranstaltung machen.

»Ich habe keinen blassen Schimmer«, versicherte sie ihm aufrichtig. Auch sie war gespannt, was der Rathauschef denn so Wichtiges zu verkünden hatte.

»Wahrscheinlich will er sich nur mal wieder wegen dieses Hotelprojekts groß in Szene setzen«, vermutete ein Radioreporter, der neben Dominik saß. Katharina sagte nichts dazu. Sie dachte an die Sektflasche, die Gutmann in den Kühlschrank gestellt hatte. Würde Winkler wirklich zurücktreten?

»Achtung, er kommt.« Dominik sah gespannt zum Rednerpult. »Du liebe Zeit. Was ist denn mit dem los?«

Entgegen seiner sonst so nassforschen Art stand Winkler mit gesenktem Kopf vor der Meute. Er rückte das Mikrofon zurecht. »Sie werden sich bestimmt wundern, warum ich Sie so kurzfristig hierhergebeten habe«, hob er an. »Aber glauben Sie mir, dafür gibt es einen wichtigen Grund.« Seine Stimme zitterte.

»Was gibt das denn?« Katharina war verblüfft. So unsicher hatte sie den Oberbürgermeister noch nie erlebt, schon gar nicht, wenn die Presse in der Nähe war.

Winkler nahm einen Schluck Wasser, bevor er weitersprach. »Zunächst möchte ich Ihnen mitteilen, dass aus dem geplanten Hotelprojekt nichts wird. Ich habe eingesehen, dass diese Idee ein großer Fehler war.«

Im Saal machte sich Unruhe breit. Seit wann gab der Oberbürgermeister einen Fehler zu? Das war ja etwas völlig Neues. Katharina konnte nicht glauben, was sie soeben gehört hatte. Winkler wartete geduldig, bis es im Saal wieder etwas ruhiger wurde.

»Wie gesagt. Es war ein großer Fehler. Und ich werde nicht zulassen, dass die Schrebergärtner von ihren Grundstücken vertrieben werden. Das bringe ich nach reiflicher Überlegung nicht übers Herz.«

»Wie bitte? Was ist denn in den gefahren? So kenne ich den gar nicht. Und welches Herz? Seit wann hat der ein Herz?« Katharina konnte sich kaum beruhigen. War das wirklich Oberbürgermeister Norbert Winkler, der vorne am Mikro stand? Vor lauter Aufregung hatte sie vergessen mitzuschreiben. Sie versuchte, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren.

»Ich habe erkannt, dass es Wichtigeres gibt im Leben als Geld«, fuhr der Oberbürgermeister fort. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Gäste werden hier weiterhin selbstverständlich herzlich willkommen sein. Doch das Wichtigste ist, dass sich die Bürger dieser Stadt wohlfühlen. Und deswegen werde ich verhindern, dass der Massentourismus in Freiburg weiter gefördert wird, das verspreche ich Ihnen.«

»Also, wenn das mal keine Wende um hundertachtzig Grad ist«, stellte Dominik erstaunt fest. »Das hat sich vor ein paar Tagen noch ganz anders angehört.«

Katharina drehte sich zu Toni Pfefferle um. Dessen Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

Doch Winkler war noch nicht fertig. »Was ich Ihnen jetzt noch zu sagen habe, fällt mir weiß Gott nicht leicht. Aber bevor die Gerüchteküche anfängt zu brodeln, möchte ich Sie lieber selbst informieren.« Er nahm erneut einen Schluck Wasser.

»Ich stehe heute nicht nur als Politiker, sondern auch als Vater vor Ihnen. Als sehr verzweifelter Vater, um genau zu sein. Ich habe jetzt erst erfahren, dass mein Sohn ein thailändisches Mädchen missbraucht hat. Und ich habe mich dazu entschlossen, ihn selbst anzuzeigen.«

Nach seinem letzten Satz brachen tumultähnliche Zustände im Publikum aus. Alle sprachen wild durcheinander.

»Was geht denn hier ab?« Katharina konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Winkler hatte seinen eigenen Sohn angezeigt? Warum stellte er sich selbst an den Pranger? Wollte er etwa nicht wiedergewählt werden?

Sie sah, wie Winkler eine Träne aus dem Augenwinkel quetschte. Hätte sie ihn nicht besser gekannt, hätte sie fast Mitleid mit ihm bekommen. Mitleid? Schlagartig wurde ihr klar, was Winkler mit seinem Auftritt bezweckte.

Der Oberbürgermeister sprach mit gebrochener Stimme weiter. »Ich weiß, dass man mit Geld die Tat meines Sohnes nicht ungeschehen machen kann. Trotzdem habe ich der Familie des Mädchens eine Spende zukommen lassen. Ich kann nur aufrichtig hoffen, dass die Summe den Schmerz ein wenig lindert, den mein Sohn verursacht hat.«

»Spende? Spende ist gut.« Dominik war völlig aus dem Häuschen. »Ich dachte eigentlich, so etwas nennt sich Schweigegeld.«

»Psst«, mahnte der Radioreporter, der von der Ansprache des Oberbürgermeisters völlig ergriffen wirkte. »Es fällt dem Mann sicher nicht leicht, darüber zu reden. Das nenn ich mal innere Größe, so etwas zuzugeben. So etwas kennt man von Politikern überhaupt nicht. Ich hätte nie gedacht, dass Winkler so viel Format hat. Da könnten sich andere ein Beispiel nehmen.« Katharina schaute ihn ungläubig an.

Winkler richtete sich heroisch auf, bevor er plötzlich mit klarer Stimme weitersprach: »Als Politiker stehe ich für Recht und Ordnung. Als Oberbürgermeister der Stadt Freiburg bin ich das meinen Wählern mit allen Konsequenzen schuldig. Alles andere könnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Und ich vertraue darauf, dass Sie erkennen, wie sehr mir das Wohl unserer Stadt am Herzen liegt.«

Eine junge Journalistin klatschte verhalten Beifall, ein paar andere schlossen sich ihr an. So etwas hatte Katharina noch nie auf einer Pressekonferenz erlebt. Wo war nur die professionelle Distanz ihrer Kollegen geblieben, dass die sich so einwickeln ließen?

Winkler seufzte theatralisch, nachdem der Beifall abgeebbt war. »Meine Damen und Herren, ich bin mit meinen Kräften am Ende. Ich bitte Sie um Verständnis dafür, dass ich nicht mehr in der Lage bin, Fragen zu beantworten. Aber sicher befinden sich unter Ihnen hier Väter und Mütter, die wissen, wie schwer mir diese Entscheidung gefallen ist.«

Der Radioreporter neben Dominik nickte zustimmend. Er war nicht der Einzige, wie Katharina entsetzt feststellte. Die Stimmung schien eindeutig zugunsten von Winkler umgeschlagen zu haben. Offensichtlich merkte immer noch niemand, was der für eine Schmierenkomödie abzog.

»Ich bedanke mich für Ihr zahlreiches Erscheinen.« Winkler verließ den Saal, den Kopf erneut tief gesenkt. Die Anwesenden sahen ihm schweigend hinterher, bis er verschwunden war.

»Also, Hut ab vor dem Mann. Dazu gehört wirklich Rückgrat. Ich hätte nicht gedacht, dass der so viel Mumm in den Knochen hat. Es wäre wünschenswert, wir hätten noch mehr solche Politiker in Deutschland.« Auch der Kollege eines regionalen Fernsehsenders, der sich zu Katharina und Dominik gesellt hatte, schien tief beeindruckt von der Rede des Oberbürgermeisters.

Katharina verstand die Welt nicht mehr. Merkten die Journalisten denn nicht, wie Winkler sie manipulierte? Sie rannte Toni Pfefferle hinterher, der den Saal bereits verlassen hatte.

Katharina erwischte ihn noch auf der Treppe. »Was hältst du von diesem Auftritt?«, fragte sie ihn atemlos. Pfefferle schaute sie an.

»Ich möchte es mal so formulieren: In den letzten zehn Minuten hat sich dieser verlogene Bastard definitiv seine Wiederwahl gesichert. Du hast selbst gesehen, wie beeindruckt alle von seinem Geständnis waren. Mit seinem persönlichen Bekenntnis hat er jedem den Wind aus den Segeln genommen, der ihm ans Bein hätte pinkeln können. Ganz schön clever.«

Pfefferle hätte beinahe eine Stufe übersehen, so sauer war er. Katharina konnte ihn gerade noch am Arm packen, sonst wäre er die Treppe hinuntergesegelt.

»Der hat seinen eigenen Sohn über die Klinge springen lassen, nur damit er selbst im Amt bleibt. Noch mieser geht’s ja wohl nicht. Aber eins muss man Winkler zugestehen. Das war die Show seines Lebens, die er hier abgezogen hat. Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich brauch dringend frische Luft.« Ohne sich zu verabschieden, ließ er Katharina stehen. Sie sah ihm voller Mitleid nach. Es sah ganz danach aus, als ob der arme Toni seinen Chef noch weitere acht Jahre ertragen musste.

Katharina stürmte auf den Münsterplatz und zündete sich eine Zigarette an. Dominik folgte ihr auf den Fersen.

»Gib mir bitte auch eine. Die brauche ich jetzt dringend.« Sie warf ihm die Schachtel zu.

»Wenigstens muss Jürgen Weber jetzt seine thailändischen Polizeikollegen nicht mehr flottmachen. Denn etwas Gutes hat die ganze Sache. Stückli landet im Gefängnis. Und Arno wird ebenfalls gesiebte Luft atmen. Lisa hat nichts mehr zu befürchten«, meinte Dominik erleichtert.

Katharina nahm einen tiefen Zug von ihrer Gauloises. »Ich glaube, dass Toni Pfefferle recht hat. Winkler wäre nie freiwillig mit der Sache herausgerückt, wenn er sich nichts davon versprochen hätte. Wenn mich mein Gefühl nicht trügt, ist unser Oberbürgermeister der Held des Tages. Und genau das wollte er erreichen.«

»Und besser hätte er es nicht anstellen können, dieser elende Scharlatan.« Hinter Katharina war plötzlich Stadträtin Anneliese Jäger aufgetaucht, die erbost schnaubte. »Haben Sie die Träne gesehen? Dafür hat der bestimmt tagelang geübt.«

Katharina drehte sich zu ihr um. »Ihnen hingegen müssten ja eher die Freudentränen kommen. Immerhin ist die Geschichte mit dem Luxushotel vom Tisch. Das wollten Sie doch erreichen. Wenigstens haben diese ›Freiburger‹ jetzt keinen Grund mehr, Unfug zu stiften.« Sie sah die Stadträtin vielsagend an.

Anneliese Jäger hüstelte. »Ähm ja, da haben Sie wohl recht. Aber ich wollte Ihnen noch etwas anderes sagen. Die Betreuer des Jugendraums in der Wiehre haben mich angerufen. Die waren völlig aus dem Häuschen, weil sie eine anonyme Spende in Höhe von dreitausend Euro bekommen haben. Vielleicht können Sie darüber einen kleinen Artikel schreiben. Das wäre doch mal etwas Erfreuliches.« Sie sah Katharina unsicher an. Die verzog keine Miene.

»Das mach ich. Das mache ich sogar sehr gern«, sagte sie.

Anneliese Jäger streckte ihr die Hand hin. »Ich muss los. Schönen Tag noch.«

»Das wünsche ich Ihnen auch. Und viel Spaß beim Lesen.« Die letzte Bemerkung konnte sich Katharina dann doch nicht verkneifen. Die Vorstellung, wie die resolute Stadträtin »Shades of Grey« verschlang, brachte sie einfach zum Kichern.

Dominik sah Katharina fragend an, ließ die Sache aber auf sich beruhen. Frauen sind einfach eine Sache für sich. »Ich glaube, wir sollten uns beeilen. Gutmann wartet bestimmt schon auf uns.«

Katharinas Gesicht verfinsterte sich. »Ich glaube kaum, dass der begeistert sein wird, wenn wir kommen. Er war so zuversichtlich, dass Winkler zurücktritt. Aus dem Sektfrühstück wird wohl nichts werden.«

Dominik nickte betrübt, bevor er anfing zu grinsen. »Bring’s ihm möglichst schonend bei, dass uns Winkler nach der Show höchstwahrscheinlich im Amt erhalten bleibt. Dafür bist du mit deinem diplomatischen Geschick doch wie geschaffen.«

»Ich werde mich bemühen«, meinte Katharina im Weitergehen.

Plötzlich erklangen dumpfe Glockenschläge aus ihrer Handtasche. Sie zuckte zusammen.

»Ja, geht’s noch?« Auch Dominik war erschrocken. Katharina fischte ihr Handy heraus.

»Jetzt stell dich nicht so an. Ich habe mir einen neuen Klingelton heruntergeladen. ›Hells Bells‹ von AC/DC«, erklärte sie.

»Genauso klingt es auch«, knurrte Dominik. Doch Katharina hörte seinen Kommentar schon nicht mehr.

»Was gibt’s?«, brüllte sie in ihr Handy, um die quietschenden Straßenbahnen und das Stimmengewirr auf der Kaiser-Josef-Straße zu übertönen.

»Stückli hat gestanden. Und zwar alles.« Am anderen Ende war Jürgen Weber.

»Mach Sachen. Habt ihr ihn gefoltert, dass das so schnell gegangen ist?« Katharina war überrascht. Sie hätte nicht gedacht, dass der Fall so rasch aufgeklärt werden würde.

»Das Bedürfnis, jemanden zu foltern, überkommt mich eigentlich regelmäßig nur bei deinem Anblick, werte Freundin. Aber Spaß beiseite. Stückli hat geplaudert wie in einer Talkshow.«

Katharina hatte sich auf einer Bank niedergelassen und winkte ihren Praktikanten zu sich her. Der setzte sich gespannt neben sie.

»Sie haben ihn. Stückli hat alles zugegeben«, flüsterte sie Dominik zu, bevor sie sich wieder den Hörer ans Ohr klemmte.

Weber berichtete weiter: »Und jetzt halte dich fest. Stückli hat nicht nur gestanden, den Mord an der Gästeführerin in Auftrag gegeben zu haben. Nein, er hat auch seinen Auftragskiller höchstpersönlich ins Jenseits befördert. Was für Stückli kein Kunststück war. Er ist nämlich Mitglied beim Jagdclub Zürich. Und dann heißt es immer, die Schweizer seien so friedliebend.«

»Jürgen, sei so lieb und warte mal kurz, bevor du weitererzählst.« Katharina zündete sich eine Zigarette an und reichte die Packung an Dominik weiter.

»Ja, und wozu jetzt eigentlich das Ganze? Weshalb ermordet dieser Schweizer zwei Menschen?«, wollte Katharina von Weber wissen. Dominik war dicht an sie herangerückt, um das Gespräch so gut es ging mitzuverfolgen.

»Wie ihr in der Redaktion schon richtig vermutet habt: Stückli benötigte dringend Bares. Nicht nur wegen der Ratenzahlungen für seinen Maserati. Er hat sich auch im Casino Baden-Baden ordentlich verzockt. Stückli ist nichts Besseres eingefallen, als sich Geld von dubiosen Kredithaien zu leihen. Und die wollten ihre Kohle zurück. Stückli behauptet, sie hätten ihm im Falle seiner Zahlungsunfähigkeit mit vielen Unannehmlichkeiten gedroht. Unter anderem hatten sie ihm wohl versprochen, ihm die Finger einzeln abzuhacken, wenn er seine Schulden nicht rechtzeitig begleichen würde.«

»Oha«, meinte Katharina. »Das hört sich aber unschön an.«

»Das kannst du laut sagen«, gab ihr Weber recht. »Deshalb war es für Stückli so wichtig, dass dieser Sokolow schleunigst sein Hotel in Freiburg bekommt. Andernfalls hätte Stückli ja keine Provision erhalten. Und wenn Oberbürgermeister Winkler wegen seines gestörten Sohns nicht mehr gewählt worden wäre, hätte Stückli mühselig ein neues Grundstück und einen anderen geldgierigen Bürgermeister suchen müssen, der so ein Projekt befürwortet. Stückli hat mir glaubwürdig versichert, dass seine Kreditgeber absolut nicht gewillt waren, so lange zu warten. Deshalb ist er mächtig in Panik geraten, als ihm Winkler anvertraut hat, dass es hier in der Stadt eine Gästeführerin gebe, die auf Ko Samui höchstwahrscheinlich das Verbrechen seines Sohnes hautnah mitbekommen hat. Da Stückli verständlicherweise an seinen Gliedmaßen hängt, hat er den Mord an der unliebsamen Zeugin in Auftrag gegeben. Und zwar an diesen talentfreien Geiger, wie ihr ebenfalls richtig vermutet habt.«

Katharina unterbrach Weber. »Jetzt wird mir einiges klar: Wo fällt ein Russe weniger auf als in einem Moskauer Symphonieorchester? Außerdem konnte er die Tatwaffe in seinem Geigenkasten unauffällig mit sich führen und musste nur auf eine passende Gelegenheit warten. Aber wieso hat er Yvonne Schönberg und nicht Lisa erwischt?«

»Hast du die Hasentheorie von Matthäus schon vergessen?« Weber lachte. »Es handelte sich tatsächlich um eine Verwechslung. Der junge Russe hatte lediglich ein etwas verwackeltes Foto von Lisa, auf dem sie dieses pinkfarbene Kostüm trug. Und Yvonne Schönberg hatte in der Mordnacht ihre blonden Haare ebenfalls zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Da kann man im Dunkeln schon mal durcheinanderkommen, besonders wenn die Sehstärke zu wünschen übrig lässt. Der Mörder trug Kontaktlinsen. Außerdem hatte er keine Ahnung, dass Lisa die Führung auf dem Alten Friedhof mit einer Kollegin getauscht hat. Woher auch?«

»Und wieso hat Stückli dann den Russen erschossen?«, fragte Katharina.

»Angeblich wollte der ihn erpressen. Stückli sind schlicht die Nerven durchgegangen. Brutale Kredithaie auf den Fersen zu haben, ist ja schon schlimm genug. Aber noch einen Erpresser dazu? Das war dann doch zu viel, zumal Stückli restlos pleite war. Wovon hätte er den Killer bezahlen sollen, damit der die Klappe hält? Ich habe das Gefühl, dass Stückli fast erleichtert war, als ihn meine Kollegen in Gewahrsam genommen haben. Auf seinen Maserati wird er allerdings eine ganze Weile verzichten müssen. Überhaupt glaube ich nicht, dass Stückli viel Freude im Knast haben wird. Der sieht ja wirklich aus wie Richard Gere. Die schweren Jungs werden scharenweise hinter ihm her sein. Für Stückli muss die Gefängnisleitung bestimmt einen eigenen Personenschutz abstellen, damit es zu keinen unsittlichen Ausschweifungen kommt. Sei’s drum. Hauptsache, ich kann endlich mal wieder pünktlich Feierabend machen. Ist das nicht schön?« Weber erfreute sich nach Stücklis Geständnis offensichtlich blendender Laune.

Katharina lächelte. »Ich finde, wir sollten feiern, dass der Fall aufgeklärt ist. Ich habe auch schon eine Idee.«

»Das habe ich befürchtet. Was schwebt dir denn vor?«, erkundigte sich Weber.

»Ich will am Wochenende endlich mal auf der Sternwaldwiese grillen. Das habe ich noch nie gemacht. Außerdem bietet sich das tolle Wetter für so eine Aktion doch an.«

»Wenn dein Herz daran hängt, von mir aus. Du kannst ja noch deinen anderen Freunden Bescheid geben. Apropos. Ist dein treuer Begleiter Dominik gerade in deiner Nähe? Mit dem müsste ich kurz sprechen.« Der Hauptkommissar hörte sich schlagartig sehr ernst an.

Katharina reichte ihr Handy an Dominik weiter. Sie hatte keine Ahnung, was Weber mit ihm zu besprechen hatte. Sie beobachtete besorgt, wie Dominiks Gesichtsausdruck immer finsterer wurde. Es hatte nicht den Anschein, als ob er mit Weber über das Wetter plaudern würde.

Kurz darauf beendete Dominik das Gespräch und gab Katharina ihr Handy zurück. »Ich glaube, ich brauche noch ein bisschen Zeit, bevor wir in die Redaktion zurückgehen.« Er starrte wortlos auf den Boden. Katharina wartete.

»Uwes Tod ist aufgeklärt«, teilte Dominik Katharina lapidar mit, ohne sie anzuschauen. Er musterte immer noch angestrengt das Kopfsteinpflaster.

»Ja und? War es doch kein Unfall? Hat ihn etwa dieser Arno auf dem Gewissen?«

»Nein. Der war es nicht.« Dominik holte tief Luft. »Eine junge Engländerin hat Uwe das Ecstasy untergejubelt. Sie hat der thailändischen Polizei bereits alles gestanden.«

»Wieso denn das? Was hat ihr Uwe denn getan?«, rief Katharina entsetzt aus. Dominik schaute seiner Kollegin endlich ins Gesicht.

»Nichts. Er hat ihr gar nichts getan. Und genau das war der Grund. Das musst du dir mal vorstellen.« Dominik holte tief Luft. »Diese Engländerin war scharf auf ihn und hat gehofft, dass er leichter rumzukriegen ist, wenn er was genommen hat. Unglücklicherweise wusste sie nicht, dass Uwe Asthma hatte. Deswegen hat bei ihm diese Scheiß-Droge zu einem völligen Organversagen geführt. Wenn er gesund gewesen wäre, hätte er den Trip vielleicht besser verkraftet.« Dominik stiegen Tränen in die Augen. »Das ist ja wohl der größte Witz des Jahrhunderts. Nur weil eine Frau meinen Freund gut findet, musste er sterben. Wenn das nicht makaber ist.«

Katharina legte ihren Arm um Dominiks Schultern. Schweigend saßen die beiden da, während die Fußgänger an ihnen vorbeipilgerten. Eine Straßenbahn fuhr quietschend vorbei.

Ein Ehepaar im Partnerlook – beide trugen kurze rote Hosen und geblümte Hemden – kam auf sie zu. Die Frau sprach sie an. »Excuse me. We are looking for the Munster.«

Katharina machte eine vage Handbewegung in die richtige Richtung, ohne zu antworten. Mit dem anderen Arm hielt sie Dominik weiter umklammert.

»I can show you«, mischte sich ein Herr mit Freiburger Akzent und nicht ganz blütenreinem Englisch ein. »I will come with you to the Münster. Sonscht gehn’er noch verlore.« Das Ehepaar nickte erfreut.

Sieh an, dachte Katharina. Das hörte sich doch schon wesentlich netter an als die Parolen der »Freiburger«. Dominik hatte von der ganzen Szene nichts mitbekommen. Er studierte erneut das Kopfsteinpflaster.

»Weißt du was?«, meinte Katharina schließlich. »Den Artikel über Winklers phänomenalen Auftritt von vorhin kriege ich allein hin. Geh heim, lass dich volllaufen oder mach sonst was. Und für den Rest der Woche nimmst du dir frei. Aber am Samstagabend erwarte ich dich auf der Sternwaldwiese. Ist das für dich in Ordnung?«

Dominik lächelte sie verkrampft an. »Weißt du was? Genau so machen wir es. Genau so.« Ohne sich zu verabschieden, ging er davon.

Katharina schaute ihm nachdenklich hinterher. Nach einigen Metern hatte ihn die Menschenmenge verschluckt.