Zweifellos war Gewalt das konstitutive Medium nationalsozialistischer Herrschaft in Polen: Die Eroberung polnischer Gebiete, die Neuordnung des Raums, die Ausbeutung sämtlicher Ressourcen und die Etablierung einer rassistischen Stratifikationsordnung beruhten im Kern ebenso auf der Durchführung von Massakern wie die Strategien zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung deutscher Herrschaft. Letztlich sollte sich all diese Gewalt allerdings als nutzlos erweisen: Wirkmächtiger war die Gewalt von Außen, der militärische Druck der Alliierten. Die Gewalt des Krieges schlug nun auf ihren Urheber zurück, verengte sukzessive den deutschen Herrschaftsraum und zerstörte das nationalsozialistische Imperium. Kein Gewalteinsatz konnte diese Entwicklung aufhalten.1
Im Frühjahr 1945 verließen die letzten deutschen Besatzungstruppen polnisches Territorium. Sie hinterließen verwüstete Landschaften, zerbrochene Leben und Hekatomben von Leichen. Kein Land war der nationalsozialistischen Gewalt länger ausgesetzt als Polen: An jedem einzelnen Tag der Besatzung verloren im Durchschnitt über zweitausend Bürger der Zweiten Polnischen Republik ihr Leben.2 Aus der Perspektive der polnischen Gesellschaft der Überlebenden erwies sich der Abzug des nationalsozialistischen Besatzungspersonals gen Westen als bedeutsame Zäsur: Kein Deutscher, so läßt sich pointiert formulieren, konnte ihnen noch Gewalt antun und Leid zufügen. Die Zeit der deutschen Massaker an polnischen Zivilisten war unmißverständlich vorbei.3
|292|War das Jahr 1945 für die polnische Bevölkerung also in erster Linie mit Erleichterung, einem Aufatmen und Hoffnung verbunden, so erschien „1945“ aus der Perspektive der Täter vor allem mit Enttäuschung, Verlustgefühlen und Zukunftsangst verbunden. Denn für die deutschen Gewaltakteure markierte das Jahr 1945 in doppelter Hinsicht einen Bruch: Zum einen bedeutete es den Rückzug aus einer Gewaltzone, in der zivile Verhaltensnormen weitgehend suspendiert waren. Die Eroberung Polens hatte neue Möglichkeitsräume geöffnet, in denen auf individueller Ebene die Anwendung vielfältiger Formen von Gewalt eine attraktive Option sozialen Handelns war. Innerhalb dieses spezifischen Milieus galten vielfältige Formen von Gewalt als akzeptable und notwendige Form des Umgangs mit der polnischen Bevölkerung. Das Jahr 1945 bedeutete in diesem Zusammenhang in erster Linie den Abschied von einer Lebensform, die im Kern auf der Freiheit des „Herrenmenschen“ beruhte, den Polen tatsächlich alles antun zu zu dürfen. Vor diesem Hintergrund erforderte der Rückzug von den Einzelnen eine Neujustierung von Verhaltensmustern und die Einübung in die Normen und Werte einer bürgerlichen Ordnung.4 Zum anderen war „1945“ eng verknüpft mit sorgenvollen Blicken in eine ungewisse Zukunft. Dies bezog sich gar nicht in erster Linie auf die Notwendigkeit, sich in einem besiegten und besetzten Land ein neues Leben aufzubauen, ein Auskommen zu finden und vielleicht eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Vielmehr war ihnen bewußt, dass ihre Taten im besetzten Polen nun als kriminelle Handlungen eingestuft und geahndet würden.
Das Jahr 1945 bedeutete also nicht nur das Ende nationalsozialistischer Ordnungsphantasien und Gewaltlizenzen, sondern implizierte zugleich die Aussicht auf umfassende Kriminalisierung und Verurteilung der Gewaltpraxis im besetzten Polen. Einige der wichtigsten Protagonisten zogen aus dieser Konstellation den Schluss, ihr Leben gewaltsam zu beenden: So verübte beispielsweise HSSPF Krüger ebenso Selbstmord wie der SSPF Lublin, Odilo Globocnik.5 Andere exponierte Vertreter der nationalsozialistischen Gewaltordnung wurden umgehend interniert und von alliierten Gerichten verurteilt: Hans Frank etwa wurde im Rahmen des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt.6 Die meisten jedoch tauchten ab, |293|ordneten ihr Leben neu und begaben sich auf die Suche nach der vielbeschworenen zweiten Chance, die ihnen einen Neuanfang im postnationalsozialistischen Zeitalter ermöglichen sollte.
Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der Umgang mit den Massakern an polnischen Zivilisten durch das Prisma der Strafverfolgung analysiert werden. Dadurch können gesellschaftliche Diskurse, politische Rahmenbedingungen und juristische Probleme nach 1945 im Zusammenhang thematisiert werden. Grundlage der folgenden Überlegungen ist dabei die Annahme, dass „1945“ zwar unzweifelhaft bedeutsame Dimensionen eines historischen Bruchs aufweist, gleichzeitig jedoch auch Elemente historischer Kontinuität nachweisbar sind. So erwiesen sich bestimmte Wahrnehmungs- und Deutungsmuster bemerkenswert irritationsresistent gegenüber der Zäsurbehauptung von 1945: einerseits jene viktimisierende Denkfigur, die um vermeintliche polnische Gewaltaffinität und deutsches Leiden kreist; andererseits – und eng damit verknüpft – die Vorstellung, dass die deutschen Massaker eine legitime Reaktion auf polnische Gewalthandlungen waren.
Keineswegs kann es an dieser Stelle darum gehen, den Komplex der juristischen Aufarbeitung umfassend darzustellen. Vielmehr sollen abermals Schneisen geschlagen und typische Erscheinungsformen herausgearbeitet werden, um grundlegende Strukturen des juristischen Umgangs freizulegen.7 Zunächst widmet sich das Kapitel dabei der juristischen Ahndung von NS-Verbrechen in der Volksrepublik Polen und bietet in diesem Zusammenhang Einblicke in die Praxis der Aburteilung vor polnischen Gerichten und die Auslieferung von NS-Verbrechern aus den alliierten Besatzungszonen. Anschließend soll der Umgang der bundesrepublikanischen Justiz mit den Massakern an ethnischen Polen analysiert werden: Dabei sollen grundlegende Probleme und Herausforderungen der justitiellen Aufarbeitung ebenso thematisiert werden wie einzelne Verfahren und deren gesellschaftliches Umfeld.
1 Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis zum Untergang. NS-Deutschland 1944/45, München 2011.
2 Brewing, Viktimisierung, S. 279; der Berechnung liegen folgende Zahlen zugrunde: In den 2078 Tagen deutscher Herrschaft verloren etwa drei Millionen polnischer Juden und etwa eine Million ethnischer Polen ihr Leben.
3 Allerdings sollte beachtet werden, dass die „Befreiung“ Polens durch die Soldaten der Roten Armee durchaus ambivalente Züge trug: Einerseits überwog die Erleichterung, in Zukunft nicht mehr unter deutschem Joch zu stehen, andererseits implizierte der Einmarsch der Roten Armee die Integration Polens in den sowjetischen Herrschaftsbereich. Es sollte nicht übersehen werden, dass die Sowjetisierung Polens in den Jahren 1944 bis 1948 verbunden war mit diversen Gewaltprozessen, die sich in erster Linie gegen „nationale“ oder „bürgerliche“ Widerstandsgruppen richtete. Siehe hierzu: Gontarczyk, Polska; Meyer, Legitimierung.
4 Siehe hierzu: Christina Ullrich: „Ich fühl’ mich nicht als Mörder“. Die Integration von NS-Tätern in die Nachkriegsgesellschaft, Darmstadt 2011.
5 Hierzu ausführlicher: Christian Goeschel: Suicide at the end of the Third Reich, in: Journal of Contemporary History 41 (2006), S. 153–173.
6 Als Zeuge der Anklage trat dort ausgerechnet Erich von dem Bach-Zelewski auf, der die Angeklagten im Laufe des Verfahrens schwer belastete. Diese forderten daraufhin – nicht zu Unrecht – ihre Verteidiger auf, herauszustreichen, „was für ein blutrünstiges Schwein“ er denn selbst gewesen war. Zitiert nach: Gustave M. Gilbert: Nürnberger Tagebuch, Frankfurt/M. 1962, S. 115. Durch seine Kooperation vor Gericht wurde von dem Bach-Zeleweski weder ausgeliefert noch von den Alliierten angeklagt. Die bundesrepublikanische Justiz jedoch ermittelte gegen ihn wegen diverser Morde in den Jahren 1933/34 und verurteilte ihn schließlich dafür lebenslänglich. Seine Tätigkeit als Chef der Bandenkampfverbände oder HSSPF Rußland-Mitte blieb ungesühnt. Angrick, Himmlers Mann, S. 43.
7 Eine umfassende Darstellung dieses Themas ist ein Desiderat der Forschung.