PORTRÄT NR. 4:

Auguste Mariette – im Dienste des Vizekönigs

Auguste Mariette erscheint in den Zeiten europäischer Schatzjagden und Plünderungen ein wenig wie die mahnende Stimme des ägyptischen Königreichs. Er war es, der der Antiquitätenausfuhr im Dienste der „Wissenschaft“ und der Bereicherung privater und musealer Sammlungen einen Riegel vorschob und die antiken Stätten systematisch überwachen ließ. Umso mehr ist er zu jenen Persönlichkeiten zu zählen, die dem Fach Ägyptologie und der Feldarchäologie in Ägypten ihren Stempel aufdrückten.

François Auguste Ferdinand Mariette wurde am 11. Dezember 1821 in Boulogne-sur-Mer an der nordfranzösischen Küste nahe Calais geboren. Sein Vater François Paulin Mariette war Rechtsgelehrter und arbeitete im Rathaus von Boulogne. In seiner Schulzeit war Mariette recht erfolgreich und wurde in so manchem Fach ausgezeichnet: in Geometrie, Physik, Chemie, in Griechisch, Latein, Englisch und in Geschichte. Mariette zeigte auch schon früh eine Leidenschaft für das Zeichnen. Mit neun Jahren nahm ihm das Schicksal seine Mutter; das war 1830. Zwei Jahre später gründete sein Vater eine neue Familie und heiratete Isabelle Beck, die ihm weitere Kinder schenkte. Der junge Mariette hatte viele Stiefgeschwister. Im Alter von 16 Jahren brach er die Schule ab. Er war von August 1837 bis Juni 1839 Hilfs-Redakteur im Amt seines Vaters und kopierte die Akten des Ortsregisters. Im Sommer 1839 wurde ihm der Posten eines Französisch- und Zeichenlehrers in der Geburtsstadt Shakespeares, Stratford-upon-Avon, angeboten. Also ging Mariette im Alter von 18 Jahren am 3. Oktober 1839 nach England, um an der Shakespeare House Academy Jungen zu unterrichten und auf ihre Zeit an den umliegenden Privatschulen vorzubereiten. Aber er blieb dort nur zehn Monate. Im Juli 1840 zog er nach Coventry, um für einen Textilhersteller Muster für Bänder zu entwerfen. Enttäuscht von seinem schmalen Einkommen, kehrte Mariette 1841 in seine Heimat Boulogne-sur-Mer zurück. Er schloss seine abgebrochene Schulausbildung am 4. August 1841 mit dem baccalauréat ab. Im gleichen Jahr wurde er am örtlichen collège als Lehrer angestellt und unterrichtete die 8. Klasse in Französisch. Auch wenn der Fortschritt der Schüler unter Mariette erfreulich war, gab es doch Beschwerden über ihn. Der Schulleiter schrieb am 4. Juni 1843 an den Rektor der Akademie von Douai:

Seit drei Monaten versuche ich einen qualitativen Ersatz für den Lehrer Herrn Mariette zu finden […]. Dieser junge Mann ist ein heller Kopf, und es ist wahr, dass er sich zweimal vom Zorn beherrschen ließ, so weit, dass er zwei Schüler geschlagen hat.1

Trotz der Beschwerden blieb Mariette bis Mai 1849 Lehrer, wurde aber einer 7. Klasse zugeteilt. In dieser Zeit unterrichtete er hauptsächlich Französisch und Latein und vertrat von Zeit zu Zeit die Kollegen in den Fächern Englisch und Schreiben. Ab 1864 war er auch Direktor der Zeichenschule. Aber das Unterrichten allein füllte ihn nicht aus. Von 1841 an schrieb er nebenher für verschiedene Magazine und Zeitungen, darunter den Annotateur, für den er von Juli 1843 bis August 1846 auch als Redakteur arbeitete. Ortsgeschichte, englische und französische Geschichte, Innen- und Außenpolitisches, Regionales, Romantisch-Fiktives, Kunstkritik – es gab kaum ein Gebiet, über das Mariette nicht schrieb.

1842 wurde für Mariette zum Schicksalsjahr. Die Familie erbte die Hinterlassenschaften eines entfernten Cousins namens Nestor l’Hôte2. L’Hôte hatte im Jahr 1828 an der französisch-toskanischen Ägyptenexpedition von Champollion und Rosselini teilgenommen und zahlreiche Skizzen und Zeichnungen hinterlassen. In diesen Dokumenten fand Mariette sozusagen über Nacht sein Interesse an der altägyptischen Kultur. Sofort begann er, sich selbst den Umgang mit Hieroglyphen beizubringen, studierte die altägyptische Grammatik und versuchte Koptisch3 und Demotisch4 zu erlernen. Das war in den 1840ern natürlich nicht ganz einfach. Es gab noch wenig verlässliche ägyptologische Literatur, und die Description de l’Égypte, Mariettes stetiger Begleiter, war nur ein erstes und nicht ganz fehlerfreies Werk. Mariettes Ägypteninteresse wurde auch durch einige Altertümer beflügelt, die einst Dominique Vivant-Denon von der Napoleonischen Expedition mitgebracht hatte und die im Museum von Boulogne-sur-Mer ausgestellt waren.

Am 5. Juni 1845 heiratete Mariette Eléonore Millon. In dieser Zeit war er Mitglied einiger kommunaler Vereine und Organisationen, schrieb für verschiedene Zeitungen und folgte seinen Interessen in Geschichte und Kunst. Und gerade das Historische beschäftigte ihn immer mehr. Im Jahr 1846 bewarb er sich erstmals beim französischen Bildungsministerium für eine wissenschaftliche Mission nach Ägypten, wurde aber abgelehnt. Sogar als Mariette anbot, einen Teil der Kosten selbst zu tragen, konnte seine Bewerbung nicht berücksichtig werden. Mariettes Zeit war noch nicht gekommen. Aber er ließ sich von diesem Rückschlag nicht abschrecken. Er veröffentlichte 1847 über den Annotateur seinen ersten sozusagen ägyptologischen Beitrag, Quelques Mots sur la Galerie egyptiénne du Musée de Boulogne, und in den Osterferien 1848 reiste er zum ersten Mal nach Paris, um seine Studien zur altägyptischen Kultur in der Nationalbibliothek und im Louvre zu vertiefen. Dort lernte er Emmanuel de Rougé5, den Konservator der ägyptischen Abteilung, kennen. In den Sommerferien fuhr er ein zweites Mal nach Paris und zeigte seine bisherigen Forschungsunterlagen Charles Lenormant6, Professor für Archäologie des Collège de France, der von Mariettes Hingabe an das alte Ägypten überrascht und angetan war. Mariette stand nun vor einer schwerwiegenden Entscheidung: Sollte er, als Familienvater, seine sichere Anstellung als Lehrer für das intellektuelle aber unsichere Leben in der Ägyptologie aufgeben? Im Grunde hatte er sich schon entschieden. Seine Leidenschaft für die Ägyptologie war zu groß.

Im Frühjahr 1849 erreichte die Verwaltung von Boulogne unerwartet ein Brief von Lenormant, in dem sich der Ägyptologe für Mariettes wissenschaftliche Fähigkeiten aussprach und die Notwendigkeit eines längeren Aufenthalts in Paris zur Entwicklung seiner Studien hervorhob. Und am ersten Mai 1849 ermutigte der Direktor der staatlichen Museen Mariette per Brief, sich für einen kleinen und zeitlich begrenzten Posten in der ägyptischen Abteilung des Louvre zu bewerben. Mariette fackelte nicht lange. Er beantragte eine unbezahlte Beurlaubung beim Rektor der Akademie von Douai für das gesamte restliche Schuljahr. Sein Antrag wurde gewährt, und die Familie Mariette zog nach Paris. Die kleine Anstellung am Louvre, die zunächst bis zum ersten Oktober ging, sicherte das Auskommen. Ab Oktober schaffte es der Direktor der staatlichen Museen Mariette eine weitere Bezahlung zu sichern, sodass dieser am Louvre bleiben konnte. Mariette kehrte nie wieder in den Schulbetrieb zurück.

Mariettes Aufgabe am Louvre bestand darin, die neuen Einkäufe des Museums zu katalogisieren, sich um die Papyri zu kümmern und mit der Sammlung an sich vertraut zu werden. Im Jahr 1850 wurde eine weitere wissenschaftliche Mission nach Ägypten geplant. Ziel war die Erforschung koptischer Niederlassungen im Niltal und der Erwerb koptischer, syrischer, arabischer und äthiopischer Manuskripte. Der Generalsekretär des Bildungsministeriums schlug Mariette vor, sich für diese Mission zu bewerben. Umgehend stellte Mariette ein Dossier über koptische Schriften zusammen und empfahl, auch Grabungen zu unternehmen. Niemand Geringerer als Lenormant präsentierte Mariettes Dossier dem Minister, und am 22. August 1850 erhielt Mariette eine Depesche, dass er für sechs Monate im Auftrag Frankreichs nach Ägypten reisen solle, um Manuskripte zu kaufen. Am 4. September 1850 brach Mariette von Marseille aus auf. Vorher besuchte er noch einmal seinen Vater in Boulogne – zu seinem Glück, denn sein Vater verstarb im Dezember 1850, als Mariette in Ägypten war.

Am 2. Oktober 1850 erreichte Mariette Alexandria und machte sich sofort an die Arbeit. Er wurde beim französischen Konsulat vorstellig und wollte seine Forschungsarbeit bei den alten koptischen Stätten organisieren. Aber ihm wurde schnell bewusst, dass ohne Genehmigung des Patriarchen der koptischen Kirche keine Arbeit möglich war. Und der Patriarch saß in Kairo. Damit war Mariette vor seiner Weiterreise in die Hauptstadt zum Müßiggang gezwungen und spazierte durch die Stadt. Im Garten des belgischen Konsulats entdeckte er mehrere gleich gearbeitete Kalksteinsphingen, die angeblich aus Sakkara stammten. Als er einige Zeit später in Kairo angekommen war, bat er sofort um eine Audienz beim Patriarchen, der allerding keine große Eile verspürte, Mariette zu empfangen. Mariette suchte die Unterstützung der französischen Botschaft und zweier in Kairo und ganz Ägypten gut bekannter Persönlichkeiten: Linant de Bellefonds und Clot Bey.7 Aber all die Unterstützung nützte nichts. Um den Bittsteller nicht vollends zu enttäuschen, versprach der Patriarch, ein Schreiben für das Makarios-Koster im Wadi Natrun aufzusetzen, damit Mariette dort eingelassen würde. Aber solch ein Brief verlangte Zeit und Meditation, um die rechten Worte zu finden. Mariette musste sich wieder gedulden und nutzte die Wartezeit, um Kairo zu besichtigen. Er besuchte die Antiquariate und fand bei einigen Händlern Sphingen, die denen im Garten der belgischen Botschaft in Alexandria ähnelten. Und sie stammten ebenfalls aus Sakkara. Am 17. Oktober 1850 versuchte er ein weiteres Mal, mit seinem Anliegen beim Patriarchen vorstellig zu werden, hatte aber erneut keinen Erfolg. Enttäuscht entschloss sich Mariette, seine Zeit anders zu nutzen. Später schrieb er.

Für den nächsten Tag habe ich zwei oder drei Maultiere für das Gepäck und ein oder zwei Esel für mich selbst gemietet; ich habe ein Zelt gekauft, einige Vorratskisten, all die Dinge für eine Reise in die Wüste, und am 20. Oktober 1850 habe ich tagsüber am Fuße der großen Pyramide kampiert.8

Mariette zog in die Wüste, um all die altägyptischen Stätten zu sehen, die ihn schon daheim fasziniert hatten. Er verbrachte eine Woche auf dem Pyramidenplateau von Giza und nahm an Ausgrabungen teil. Dann zog er weiter nach Süden, nach Sakkara, einem Ort, der ihn seit seiner Ankunft in Alexandria in seinen Bann gezogen hatte. Dort wollte Mariette unbedingt eine Allee aus Sphingen besichtigen, die illegale Ausgräber vor Jahrzehnten vom Sand befreit hatten.

Sakkara, eine der wichtigsten Touristenattraktionen, ist heute ein bedeutendes Pyramiden- und Gräberfeld südlich von Kairo zwischen Abusir und Dashur, das neben der berühmten Stufenpyramide des Djoser und dem legendären Serapeum zahlreiche Gräber, verteilt über alle Epochen des alten Ägypten, birgt. Zu Mariettes Zeiten waren die meisten der heute sichtbaren Monumente verschüttet. Zwischen den Sand- und Geröllhügeln waren nur Pyramiden zu sehen, die mit unterschiedlichem Erfolg die Jahrtausende überdauert hatten. Um sich von diesem Areal einen Überblick zu verschaffen, spazierte Mariette zwischen den verschütteten Altertümern umher. Dabei entdeckte er den Kopf einer Sphinx, der aus dem Sand ragte und den Sphingen in Alexandria sehr ähnlich war. Sofort kam Mariette eine bekannte Textpassage aus dem Werk des Historikers Strabo in den Sinn:

Wir fanden [in Memphis] einen Tempel des Serapis an einem derart sandigen Ort, dass die Winde dort Mengen von Sand anhäuften, unter denen wir Sphingen sahen, die einen zur Hälfte, die anderen bis zum Kopf begraben, wonach man vermuten kann, dass der Weg in Richtung auf diesen Tempel nicht ungefährlich sein würde, wenn man von einem Windstoß überrascht würde.9

Mariette begriff, dass er dem legendären „Serapeum von Memphis“ auf der Spur war. Dieses Bauwerk suchte man schon lange, bisher jedoch ohne Erfolg. Die Sphingen in Alexandria und Kairo hatten Mariette den Weg nach Sakkara gewiesen, wo er schließlich das Serapeum finden sollte.

Dennoch steckte er in einem Dilemma. Sein Auftrag lautete, für den Louvre Manuskripte zu sichten und nach Möglichkeit zu erwerben, und das wollte ihm nicht gelingen. Er musste entscheiden, ob er seinen Auftrag eigenmächtig ändern und so der Regierung von Frankreich untreu werden sollte. Die Aussicht auf eine archäologische Sensation war zu groß. Mariette kommentierte: „Ohne etwas zu sagen und nahezu heimlich versammelte ich einige Arbeiter und begann mit der Säuberung.“10 Er entdeckte Sphinx um Sphinx und hoffte, am Ende einer Allee auf den Eingang zum Serapeum zu stoßen. Zwei Monate lang legten Mariette und seine Arbeiter Sphingen frei. Anfang 1851 hatten sie bereits über 130 Stück gefunden, und am 1. März, nach Sphinx Nummer 141, fand Mariette den Eingang zu einem verschütteten Gebäude. Nach und nach legte er einen Tempel frei und fand Statuen, Bronzen und andere Antiquitäten, bis das Geld seiner Mission erschöpft war. Mitte April 1851 schickte er einen Bericht über seine Mission und seine Entdeckungen nach Frankreich und kümmerte sich in Kairo um die Weiterfinanzierung seiner archäologischen Unternehmung. Seit Mai 1851 musste Mariette in Sakkara auch nicht mehr kampieren. Er hatte sich ein einfaches Haus unweit seines Grabungsareals gebaut. Auch wenn es sehr spartanisch war, nannte er es „Villa Mariette“, und es besaß eine „charmante Terrasse“.11

Mariette arbeitete immer weiter, ohne längere Pausen und vor allem ohne Genehmigung. Das störte zunächst niemanden, bis die Funde spektakulärer wurden und immer klarer war, das Mariette auf dem besten Weg war, das Serapeum zu finden. Mariette musste sich zunehmend Problemen stellen. Man überzeugte seine Arbeiter, nicht mehr auf der Grabung zu erscheinen, und sorgte dafür, dass die umliegenden Dörfer Mariette kein Wasser und keine Lebensmittel mehr lieferten. Mariette kämpfte gegen einen unsichtbaren Feind, gegen all die missgünstigen Rivalen, Schatzjäger, Antikenhändler und europäischen Sammler, die ihm seine Fortschritte neideten. Er war mitten im Wettstreit um die besten Antiken angekommen.

In Kairo sprach man bereits davon, dass Mariette Gold gefunden hätte – ein Gerücht, das dazu beitrug, dass die Grabung am 4. Juni 1851 durch vier Regierungsvertreter geschlossen und die Funde beschlagnahmt wurden. Mariette beschwerte sich, dass ausgerechnet er solche Maßnahmen erdulden musste, wo doch überall in Ägypten Ausgräber ohne Genehmigung tätig waren. Die Regierung bat ihn um Entschuldigung, erlaubte ihm aber nicht, am Serapeum weiterzuarbeiten. Auf den Rat des französischen Generalkonsuls hin entließ Mariette seine Arbeiter und wartete auf das Ergebnis weiterer diplomatischer Bemühungen. Und es half. Am Ende des Monats bekam Mariette den Firman und konnte mit seiner Arbeit fortfahren. Währenddessen war man in Frankreich über Mariettes sensationellen Fund in heller Aufregung. Bis Ende August konnte eine weitere finanzielle Unterstützung von 30.000 Francs für die Räumungsarbeiten des Serapeums und die Übersendung der Funde nach Frankreich gewährt werden. Wenige Wochen später sah sich Mariette aber mit einem neuen Problem konfrontiert. In einem Brief an den Generalkonsul erklärte die ägyptische Regierung, dass sie die Arbeit Mariettes überwachen wolle. Grund dafür war der seither übliche Umgang mit den Relikten, die nicht selten von den Grabungen gestohlen wurden und ihren Weg in den Antikenhandel fanden. Diese Praxis wollte die ägyptische Regierung unterbinden. Und da die Grabung Mariettes nicht genug Sicherheitspersonal hatte, sollten fünf Regierungsbeauftrage seiner täglichen Arbeit beiwohnen und die „tragbaren Funde […] in einem der Räume des Bildungsministeriums“12 sicherstellen – das mutet heute wie ein Vorläufer des späteren Antikendienstes an, den Mariette höchstpersönlich gründete.

Mariette bekam also ungebetene Gesellschaft in Sakkara und der Louvre musste um seine Erträge bangen. Ein paar Tage später erschienen drei der fünf angekündigten offiziellen Aufseher. Sie hatten eine Liste mit 513 Objekten, die gefunden worden und abzugeben waren. Aber Mariette entwickelte Wege, die Überwachung seiner Arbeit zu umgehen oder sie für die Aufseher zumindest sehr unangenehm zu gestalten. Man konnte an verschiedene Stellen auf der gesamten Grabungsfläche gleichzeitig arbeiten, sodass die Aufseher längere Strecken in der Sonne zurücklegen mussten, was ihnen sehr missfiel. Man konnte sie zur Inspektion in einen Grabschacht abseilen und für einige Zeit das Seil heraufziehen. Oder man arbeitete nachts, wenn die Aufseher in den umliegenden Dörfern schliefen. Und Funde, die Mariette dem Louvre senden wollte, versteckte man einfach im Sand, um sie später heimlich zu verpacken.

Bei einer solchen nächtlichen Aktion entdeckten Mariette und ein paar Vertraute am 12. November 1851 endlich den Eingang zum Serapeum13, der unterirdischen Begräbnisstätte der heiligen Apis-Stiere. Währenddessen war der Generalkonsul weiter bemüht, durch Verhandlungen die strikten Anweisungen der ägyptischen Regierung zu lockern. Er konnte Mitte November aber nur einen Teilerfolg verbuchen: Zwar durfte der Louvre die gelisteten 513 Objekte nun sein Eigentum nennen, aber die Weiterführung der Arbeiten wurde nur genehmigt, wenn die Franzosen ihren Anspruch auf alle weiteren Funde aufgaben. Die französische Öffentlichkeit witterte sofort den politischen Einfluss der Briten. Es war ein herber Rückschlag für Mariette. Ihm blieb nichts anderes übrig, als weiter nachts zu graben. In den weitläufigen unterirdischen Galerien fand er eine beachtliche Menge an altägyptischen Relikten. Aber es dauerte noch bis Februar 1852, bis Mariette nicht mehr gezwungen war, heimlich zu arbeiten.

Mittlerweile war Mariette am Louvre beruflich aufgestiegen und bekam ein deutlich besseres Gehalt. Seine Familie lebte nun mit ihm in Ägypten. Und am 12. Februar 1852 kam der lang ersehnte neue Firman, der ihm die Weiterführung der Grabung am Tage ermöglichte. Nun hatten auch die Streitigkeiten mit der ägyptischen Regierung ein Ende. Man konnte die Funktionäre davon überzeugen, die Funde zu teilen und rund 2500 Relikte in 41 Kisten nach Frankreich schicken zu dürfen. Die Ausstellung dieser Antiquitäten war eine Sensation und für Mariette so erfolgreich, dass er zum Ritter der Ehrenlegion ernannt wurde und weitere 50.000 Francs für die Fortführung seiner Unternehmung zugesprochen bekam. Die Grabung verlief zufriedenstellend. Trotzdem blieb Mariette vorsichtig. Er versteckte weiter die lohnendsten Funde vor den Augen der Kommission, die jedes halbe Jahr die Funde sichtete und zwischen Kairo und dem Louvre teilte. Im November 1852 gingen 87 Kisten nach Paris und im Juli 1853 waren es 230. Im Verlauf des Jahres 1853 nährten sich die Räumungsarbeiten im Serapeum langsam dem Ende, und die Veröffentlichung der Grabung und ihrer Ergebnisse musste in Angriff genommen werden. Mariette schrieb seinerzeit nur einen ersten Bericht, während die Publikation später, nach seinem Tod, im Jahr 1883 von Gaston Maspero14 verwirklicht werden konnte.

Bereits zu Beginn des Jahres 1853 bat der Direktor der staatlichen Museen Mariette, er möge wieder nach Frankreich und auf seinen Posten im Louvre zurückkehren. Daraufhin schrieb Mariette am 26. Mai an seinen direkten Vorgesetzten, de Rougé, dass er durchaus Gefallen an einer Rückkehr nach Paris finden könne, ihn aber noch zu viele Ideen zu Unternehmungen in Ägypten umtrieben. Er könne auch nicht zurückkehren, bevor er nicht Oberägypten besichtigt hätte. Zu guter Letzt zählte er in seinem Antwortbrief diverse nicht-französische europäische Grabungen auf. Alles in allem machte Mariette auf eine geschickte Art und Weise deutlich, dass er Frankreichs Nationalstolz am besten dienen könne, wenn er für den Louvre weiter in Ägypten graben würde. Aber er stieß auf taube Ohren. Es gab keine weitere Unterstützung für seine Unternehmungen. Da sprang der Herzog von Luynes15 in die Bresche und bot 6.000 Francs für die Klärung einer Passage bei Plinius. Derrömische Gelehrte hatte geschrieben, dass die Sphinx von Giza nicht aus einem Stein geschlagen, sondern gebaut worden sei, und dass sie das Grab eines Königs bedecken würde. Also führte Mariette im Frühjahr 1854 eine Grabungskampagne am Pyramidenplateau in Giza durch und räumte vor der großen Sphinx den acht Meter hohen Schutt und Sand beiseite. Er entdeckte den Taltempel des Königs Chephren, den sogenannten Tempel der Sphinx.

Am 16. Juli 1854 wurde der seit 1848 regierende Vizekönig Abbas I. Hilmi ermordet und die Mariettes verließen Ägypten. Die nächsten drei Jahre verbrachte Mariette in Frankreich, arbeitete am Louvre, wurde erneut befördert, konzipierte Ausstellungen, besuchte andere europäische Sammlungen, erhielt mehrere Auszeichnungen, fühlte sich aber nie „am rechten Platz“. In einem späteren Schreiben an Maspero beschreibt er seine Gefühle dieser Zeit:

Meine Kampagnen am Serapeum machten mir eine Karriere als Philologe unmöglich: sie riefen die Instinkte eines Kämpfers wach, die in mir schlummerten, und einmal zum Einsatz gekommen, treiben sie mich bis zum Ende an. Sehen Sie, das ist die Geschichte des Zauberlehrlings, der den Teufel gerufen hat: Als er ihn wieder vertreiben wollte, hatte er nicht mehr die Kraft dazu, und es war der Teufel, der ihn mitriss. […] Ich werde sterben oder verrückt werden, wenn ich nicht die Möglichkeit bekomme, sofort nach Ägypten zurückzukehren.16

In Ägypten hatte nach der Ermordung von Abbas Pascha mittlerweile der vierte Sohn Mehmet Alis, Mehmet Said, den Thron des Vizekönigs übernommen. Und Ägyptens Blick war wieder auf eine modernere Zukunft gerichtet. Seit 1854 war die Idee eines Kanals zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer wieder aufgenommen worden, und Said Pascha hatte einen Mann namens Ferdinand de Lesseps17 ins Land geholt, um den Kanal zu planen. De Lesseps war mit dem amtierenden Vizekönig seit Jahren befreundet, und im Juli 1857 trafen Mariette und de Lesseps in Paris aufeinander. Sie kamen ins Gespräch, und Mariette schilderte seine Bedenken bei der Erhaltung der ägyptischen Altertümer. Während seiner Zeit in Sakkara hatte er erlebt, wie schwer es war die allmähliche Zerstörung der antiken Stätten zu verhindern. Er schlug de Lesseps vor, eine Maßnahme zum Schutz der Antiken zu entwickelt. De Lesseps biss an und schlug vor, die Idee dem Vizekönig zu unterbreiten. Nur musste Mariette auf offiziellem Wege an den Hof kommen, um seine Idee dort vorzustellen. Prinz Napoleon, der Cousins des Kaisers, hatte zu dieser Zeit den Wunsch, Ägypten zu bereisen. Dieser Wunsch sollte die Audienz Mariettes bei Said Pascha ermöglichen. Mit seiner Landeskenntnis war Mariette der perfekte Mann, um die achtmonatige Reise des Prinzen zu organisieren und in dessen Begleitung zu graben. Mariette hatte wieder eine Aufgabe, die ihn Ende 1857 nach Ägypten führte.

Zurück in Kairo unterbreitete Mariette dem Vizekönig seinen Vorschlag, einen Dienst zum Schutz der Antiken einzurichten; dieser war von der Idee angetan. Said Pascha übertrug Mariette die Aufsicht über die Altertümer. Sein Befehl lautete:

Sie achten auf den Schutz der Monumente; Sie teilen den Verwaltungen aller Provinzen mit, dass ich ihnen untersage, nur einen antiken Stein zu berühren; sie schicken jeden Fellachen ins Gefängnis, der einen Fuß in einen Tempel setzt.18

Außerdem stattete Said Pascha die Reise des französischen Prinzen mit einer umfassenden Grabungsgenehmigung und zusätzlichen finanziellen Mitteln aus. Die Verantwortung wurde an Mariette übergeben, der in den kommenden Monaten an vielen Orten Ägyptens mit Erfolg arbeiten konnte: Giza, Sakkara, Abydos und Theben.

Bereits Ende Januar 1858 schwand das Interesse des Prinzen und er brach seine Reise ab. Mariette wurde umgehend an den Louvre zurückbeordert, um seine Arbeit wiederaufzunehmen. Aber Mariette wollte nicht. Er wollte in Ägypten bleiben und brauchte einen offiziellen Auftrag, der ihn dort hielt. Er schrieb sofort seine einflussreichen Kontakte wie de Lesseps und de Rougé an. Der Auftrag erfolgte prompt am 9. März 1858: Mariette sollte eine Sammlung für den Prinzen zusammenstellen. Im Rahmen der Verhandlungen wurden die Antiken nicht wie üblich verkauft, sondern vom Vizekönig dem Prinzen geschenkt. Mariette bekam den Auftrag, den Dank im Namen des Prinzen für diese Großzügigkeit zu überbringen und wurde darüber in Kenntnis gesetzt, dass „Prinz Napoleon keine Bedenken habe, den Vizekönig wissen zu lassen, dass, sollte seine königliche Hoheit einen Wissenschaftler aus Frankreich für die Mitwirkung bei der Errichtung eines Ägyptischen Museums wünschen, die französische Regierung gewiss niemand anderes anbieten würde als Sie“19. Mariette konnte also in Kairo bleiben und sich seiner Organisation zum Schutz der Antiken widmen.

Ab April 1858 plante Mariette sein Projekt. Grabungen im Niltal sollten gelistet und die Zahl der nötigen Arbeiter festgehalten werden. Die Provinzverwaltungen brauchten ihre Befehle. Die Zahl der ägyptischen Vorarbeiter, die tägliche Bezahlung der Arbeiter durch die Verwaltung und die Zusammensetzung der einheimischen Hilfskräfte sollten geregelt werden. Außerdem waren zumindest für die organisationseigenen Projekte Arbeitsmaterial, Werkzeug und Transportutensilien vonnöten. Mariette brauchte ein Dampfschiff, mit dem er schnell den Nil bereisen konnte. Zum Transport der Funde bedurfte die Organisation ebenfalls mindestens zweier Schiffe. Ein internationales Komitee war notwendig, um die Organisation zu kontrollieren. Und es sollte der Posten eines Inspektors eingerichtet werden, besetzt mit einem Europäer, der unablässig von Grabung zu Grabung reiste, um die Arbeiten und die Arbeiter von der ersten Begehung des Grabungsareals bis zum Abtransport der Funde zu überwachen. Auch der Inspektor brauchte ein Schiff. Die Grabungsfunde sollten registriert und nicht komplett außer Landes gehen. Es sollte zwischen Grabungsauftraggeber und Ägypten eine Fundteilung geben. Am Nil, und zwar in Qena/Oberägypten und in Boulaq/Kairo, sollten Lagerhäuser errichtet werden, um die Funde zu magazinieren. Mariette wurde neben seiner immer noch bestehenden Anstellung am Louvre zu einem Funktionär der ägyptischen Regierung. Said Pascha ernannte ihn zum „Direktor der antiquarischen Arbeiten in Ägypten“ und zahlte für die neueingerichteten Stellen rund 20.000 Francs pro Jahr. Auf Empfehlung von Mariette wurde sein Freund und Kollege Bonnefoy20, der bereits bei der Grabung am Serapeum Mariette assistiert hatte, zum Inspektor ernannt.21

In den Folgejahren konnte Mariette mit der Unterstützung des Vizekönigs seine Organisation erfolgreich aufbauen, Mitarbeiter einstellen und mehrere Grabungen, verteilt über ganz Ägypten, etablieren, die eine Vielzahl an einheimischen Arbeitern beschäftigten. Aber die vielen Funde, die ans Tageslicht gefördert wurden, brauchten ein Museum. Mariette begann im Jahr 1859 mit der Planung. Im selben Jahr war Bonnefoy verstorben und Mariette musste einen neuen Inspektor benennen. Ein Mann namens Gabet22 folgte Bonnefoy auf den Posten.

Trotz längerer Aufenthalte in Frankreich verbrachte Mariette die meiste Zeit in Ägypten an der Spitze seines Antikendienstes. Am Louvre wurde man sich immer mehr bewusst, dass der Posten Mariettes neu vergeben werden musste. Anfang des Jahres 1861 wurde Mariette, der sich längst für seine Arbeit in Kairo und gegen Paris entschieden hatte, zum Ehrenmitarbeiter des Louvre ernannt. Théodule Devéria23 folgte ihm auf seinen Posten.

In diesen Jahren lief es für Mariette hervorragend. Sein Antikendienst arbeitete erfolgreich. Er hatte den vollen Zuspruch des ägyptischen Oberhauptes, das auch sein geplantes Museum und die Publikationen finanziell unterstützte. Und er machte eine gute Figur in den diplomatischen Geschäften zwischen Ägypten und Frankreich. 1862 wurde Mariette durch Said Pascha der Ehrentitel Bey verliehen. Doch am 18. Januar 1863 starb Said Pascha und sein Neffe Ismail Pascha, auch Ismail der Prächtige genannt, folgte ihm auf den Thron. Zu Mariettes Erleichterung war der neue Vizekönig wie sein Vorgänger am Schutz der pharaonischen Hinterlassenschaften interessiert. Der Antikendienst und das Ägyptische Museum fanden weiter Unterstützung am Hofe. Ismail Pascha verstand das geplante Museum im Kairoer Stadtteil Boulaq sogar als erstrebenswertes Prestigeprojekt und trieb die Fertigstellung der Räumlichkeiten und die Einrichtung der Ausstellung voran. Mariette wollte mit diesem Museum den Ägyptern selbst ihre Vergangenheit näherbringen. Es sollte nicht für eine reisende europäische Elite konzipiert werden, sondern die altägyptische Kultur denen vermitteln, die noch nichts darüber wussten. Die Ausstellungsobjekte sollten Herkunftsangaben und Datierungen haben und so dem neuen Museum einen moderneren Anstrich verleihen als ihn europäische Sammlungen jener Zeit hatten. In so mancher Hinsicht war Mariette seiner Zeit einige Schritte voraus.

Doch kurz vor der Museumseröffnung am 16. Oktober 1863 verlor Mariette die Gunst des Vizekönigs. Das Museum hatte bereits riesige Mengen an Geld verschlungen, und es hieß, der Großteil sei in Mariettes eigene Tasche geflossen. Ismail Pascha wurde misstrauisch und wollte die Museumseröffnung verzögern. Er sah aber letztlich davon ab: Er wollte die Beziehungen zu Frankreich nicht weiter strapazieren, denn er hatte bereits durch die Abschaffung der Fronarbeit den Bau des Suezkanals behindert. Dafür versagte er Mariette die Nutzung der Nildampfer seiner Flotte für Inspektionen in Oberägypten. Mariette fand andere Wege, um mit seinen jährlichen Inspektionen fortzufahren. Ein Jahr später hatte er die Möglichkeit, in Alexandria bei einem Treffen mit dem Vizekönig alles zu klären. Es stellte sich heraus, dass die Vorwürfe gegen ihn nur Gerüchte waren, gestreut, um ihn bei Ismail Pascha in Misskredit zu bringen.

1867 wurde Mariette von Ismail Pascha als Generalkommissar für Ägypten zur Weltausstellung geschickt, die von April bis Oktober auf dem Pariser Marsfeld stattfand. Als Gegenleistung versprach der Vizekönig weitere finanzielle Unterstützung für Mariettes Arbeit. Der ägyptische Pavillon erinnerte an einen Tempel aus pharaonischer Zeit und beherbergte unter anderem ein Café, Unterkünfte für das ägyptische Personal, Ateliers und Boutiquen und eine Ausstellungsfläche, auf der viele bedeutenden Funde aus Mariettes Grabungen gezeigt wurden. Vor allem die ausgestellten Mumien und Schädel sorgten für einen enormen Zuschauerandrang. Der ägyptische Pavillon war ein großer Erfolg, und Mariette wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Während der Weltausstellung traf Mariette auch zum ersten Mal auf Gaston Maspero, der später sein Nachfolger als Direktor des Antikendienstes werden sollte. Mariette legte ihm schwierige altägyptische Texte vor und war verblüfft von den Fähigkeiten des jungen Studenten.

Bei seiner Rückkehr nach Kairo Ende 1867 sah sich Mariette einem Berg von Problemen gegenüber. Viele Löhne waren seit Monaten nicht gezahlt worden. Der schlecht beratene Vizekönig konnte die nötigen Mittel nicht mehr aufbringen. Als Anfang 1868 die Objekte von der Weltausstellung ankamen, waren einige davon beschädigt und mussten restauriert werden. In Zukunft stellte Mariette für solche Ausstellungen keine Originale mehr zur Verfügung. Die Besucher mussten sich mit Reproduktionen begnügen. Mariette selbst ging es schon seit Jahren nicht mehr gut. Seine Frau war vor einiger Zeit an der Cholera gestorben und auf dem Alten Friedhof von Kairo bestattet worden, und er selbst litt an Diabetes. Der Vizekönig schien sich nicht mehr für das Museum zu interessieren, und im Juli musste sich Mariette Geld leihen, um weiterarbeiten zu können. Es stand zunehmend schlechter um die ägyptischen Finanzen. 1868 wollte Mariette bereits alles hinschmeißen und nach Frankreich zurückkehren: „Meine Gesundheit ist sehr angeschlagen und meine Moral ist äußerst bitter“, schrieb er im August 1868 an Devéria.24 Mariette blieb nur, sich in die Publikationsarbeit zu stürzen und einen Teil seiner Forschungsergebnisse niederzuschreiben.

1869 grub der Antikendienst an vielen verschiedenen Orten in Ägypten: Tanis, Sakkara, Faijum, Abydos, Dendera, Theben und Assuan. Die Arbeit ging gut voran, aber Mariettes Gesundheit verschlechterte sich zusehends. Er verbrachte den Sommer auf Kur in Frankreich, ohne wirkliche Besserung. Als er wieder nach Kairo zurückkam, hatte dort eine Schule für Ägyptologie eröffnet, um ägyptische Philologen auszubilden. Die Leitung sollte Heinrich Brugsch25 übernehmen, ein versierter deutscher Ägyptologe, der vor allem als Philologe tätig war. Er und Mariette waren schon in der Vergangenheit immer wieder aufeinandergetroffen, zuletzt auf der Weltausstellung, wo Brugsch Mariette bei der Gestaltung des Pavillons unterstütze. Die zweite Hälfte des Jahres wurde nahezu komplett von den Vorbereitungen für die Eröffnung des Suezkanals überschattet, die im November stattfinden sollte. Im Rahmen der Feierlichkeiten wurde auch ein neues Opernhaus in Kairo eröffnet, mit Verdis Rigoletto. Mit diesem Opernhaus verknüpfte sich eine neue Aufgabe für Mariette – eine Aufgabe, der sich ein Ägyptologe eher selten stellen darf.

Der Vizekönig wünschte sich als Oper eine ägyptische Geschichte im Stil der großen europäischen Opern, die in seinem neuen Haus uraufgeführt werden sollte. Also beauftragte er seinen Haus- und Hofägyptologen Mariette mit dem Entwurf. Mariette entwarf also ein Drama am Königshofe im alten Ägypten. Mit diesem Entwurf wandte er sich an Camille de Locle, den Direktor der Opéra Comique in Paris, der bereits das Libretto zu Verdis Don Carlos geschrieben hatte. De Locle nahm Mariettes Entwurf an und entwickelte Bühnenszenen für die nach wie vor in Prosa geschriebene Geschichte. Mit der Versform des Textes wurde Antonio Ghislanzoni beauftrag, der die Geschichte ins Italienische und eben in Verse umschrieb. Die Verse übersetzte de Locle wieder zurück ins Französische. Nun fehlte noch ein Musiker, der die passende Musik komponieren sollte. De Locle versuchte Guiseppe Verdi zu gewinnen. Verdi zeigte sich zunächst wenig begeistert, dass er „für Kairo“ eine Oper komponieren sollte. Mittlerweile war es Sommer 1870 und die Vorbereitungen zogen sich nun schon ein knappes Jahr hin. Inspiriert durch sein Wissen und sein Museum hatte Mariette eigenhändig die Bühnenbilder und Kostüme entworfen und gezeichnet. Bis Juli 1870 zierte sich Verdi, aber nach der Lektüre von Mariettes Geschichte entschloss er sich dann schließlich doch, die Oper Aida zu vertonen. Er zeigte sich sogar enthusiastisch, die Geschichte und die Szenen gefielen ihm außerordentlich. Verdi schrieb schnell, und bis November war die Musik fertig. Aber die Uraufführung musste noch ein ganzes Jahr warten. Im Sommer 1870 war Mariette nach Paris gereist, um die Kostüme und die Bühnendekoration für Aida in Auftrag zu geben. Da brach der Krieg zwischen Frankreich und Preußen aus. Mariette war mit den Requisiten in Paris eingeschlossen. Die Preußen belagerten die Stadt. Erst Anfang 1871 konnte ein Waffenstillstand ausgehandelt werden. Paris war nun in der Hand der Deutschen.

Während seiner langen Abwesenheit hatten seine Gegner versucht, Ismail Pascha zu beeinflussen und Brugsch auf Mariettes Posten zu setzten. Brugsch selbst distanzierte sich von dieser Intrige, die denn auch fehlschlug. Mariette schrieb Brugsch:

Für mich bist Du kein Deutscher, Du bist Brugsch; und Du musst dich nicht entschuldigen und für solche Taten rechtfertigen. Sie konnten den Franzosen in mir beleidigen; aber sie konnten mein Herz nicht umstimmen, vor allem gegenüber Dir. Ich liebe Dich als treuen Freund […].26

Die Affäre tat der Freundschaft zwischen beiden keinen Abbruch. Zwei Jahre später stellte Mariette auch Brugschs jüngeren Bruder Émile ein, der eine lange Karriere im Antikendienst haben sollte.

Im Frühjahr 1871, als Mariette nach Kairo zurückgekehrt war, musste er zunächst die Grabungen und antiken Stätten entlang des Nils observieren, bevor er wieder längere Zeit in Kairo bleiben und arbeiten konnte. Im Dezember 1871 wurde Aida dann endlich uraufgeführt.

In den letzten zehn Jahren seines Lebens wurde Mariettes Diabetes zunehmend schlimmer, und auch das Museum in Boulaq bereitete ihm immer größere Sorgen. Die jährlichen Nilüberschwemmungen hatten die Fundamente des Gebäudes untergraben und es baufällig gemacht. Nur fehlte es an den finanziellen Mitteln. Ismail Pascha hatte den Staat tief verschuldet. Die Beteiligung Ägyptens an den Baukosten des Suezkanals, rege Bautätigkeit sowie die Aufrüstung der Flotte ließen Ägypten bis 1875 in die Zahlungsunfähigkeit rutschen. Ismail Pascha war bankrott. 1878 wurde das Museum erneut überflutet. Diesmal war es so schlimm, dass ein großer Teil der ebenerdigen Räume starke Zerstörungen erlitt, darunter auch Mariettes Wohnung und Büro. Viele Bücher, Manuskripte und Notizen gingen im Nil für immer verloren.

1879 wurde Mariette noch einmal vom Vizekönig geehrt. Ismail Pascha verlieh ihm den Ehrentitel Pascha. Auch das Museum wurde wieder instandgesetzt. Mariettes Ärzte sorgten sich um seinen Gesundheitszustand. Sie rechneten mit dem Schlimmsten. Aber er arbeitete weiter: 1880 mussten die neuen Räume des Museums bestückt werden. Er arbeitete noch einmal in Sakkara. Im Juni reiste er nach Frankreich, ging in La Bourboule zur Kur und besuchte im Herbst seine Heimat Boulogne-sur-Mer. Sein Gesundheitszustand war desaströs. Im November kehrte er nach Kairo zurück. Er wollte in der Nähe seiner geschätzten Altertümer sein. Anfang des neuen Jahres war Mariette kaum noch bei Bewusstsein. Er litt und rang mit dem Tod und verstarb schließlich am 18. Januar 1881 in seinem Haus in Boulaq im Kreise seiner Familie und Freunde. Seine sterblichen Überreste ruhen bis heute in einem Sarkophag auf dem Gelände des Ägyptischen Museums in Kairo.

Betrachtet man Auguste Mariettes Arbeit in Ägypten, so sind vor allem seine frühen Jahre von archäologischen Sensationen geprägt. Zwar brachten die Grabungen des Antikendienstes immer wieder besondere Funde und viele Highlights des Kairoer Museums hervor, aber Mariettes Bedeutung für das Fach ist vielmehr auf den Antikendienst und das Museum zurückzuführen. Beides wäre ohne Mariette nicht denkbar gewesen. Der Antikendienst hat die Rolle Ägyptens bezüglich der antiken Stätten und Grabungsareale neu definiert und Ägyptens Interessen gegenüber Europa und später auch Amerika gestärkt. Die Errichtung des Museums, sozusagen der Versuch, das antike Ägypten mit dem modernen in Beziehung zu setzen, war zusammen mit der Gründung des Antikendienstes der wichtigste Schritt, das nationale Erbe Ägyptens zu bewahren. Zwar waren die Direktoren des Museums und des Antikendienstes noch lange nach Mariette Europäer. Aber bis heute haben beide Einrichtungen maßgeblich dazu beigetragen, den modernen Ägyptern eine historische Identität zu verleihen.