Mit William Matthew Flinders Petrie veränderte sich die Art und Weise, wie in Ägypten Archäologie betrieben wurde, grundlegend. Waren die Ausgräber vor ihm vor allem daran interessiert „Schätze“ wie Statuen, Schmuck, Papyri, Särge und überhaupt jegliches Grabinventar zu bergen, meist ohne jeden Kontext und Zusammenhang, so war Petrie daran gelegen, genau diese bislang vernachlässigten Zusammenhänge zu ermitteln, um so ein historisch korrektes Bild der Geschichte Ägyptens zu erhalten. Seine Methoden revolutionierten im Laufe seines Lebens die Archäologie und es ist seinem Einfluss zu verdanken, dass bis dahin minder geschätzte Gegenstände wie Keramik, Perlen oder Siegel aufgenommen und untersucht wurden und stärker in den Fokus der Wissenschaft gerückt sind. Kein anderer Archäologe vor ihm hat an vergleichbar vielen Ausgrabungsstätten in Ägypten gegraben und kein anderer hat eine vergleichbare Menge an Publikationen zu Grabungen verfasst. Die Liste seiner Schüler, die von ihm das Ausgrabungshandwerk lernten, liest sich wie ein Who is who der angelsächsischen Archäologie des frühen 20. Jahrhunderts. Diesen jungen Nachwuchs-Ägyptologen ist es zu verdanken, dass Petries Methoden bis heute zum festen Standardrepertoire einer jeden Ausgrabung gehören.
Bevor es jedoch dazu kam, hatte Petrie einen langen Weg zurückzulegen. Am 3. Juni 1853 – als Mariette seine Arbeiten am Serapeum fast abgeschlossen hatte – wurde Petrie in Carlton geboren. Sein Vater, William Petrie, war Erfinder, Ingenieur, Vermesser und Chemiker. Seine Mutter, Anne Flinders, war die Tochter des berühmten Australienforschers Matthew Flinders. Bereits früh zeigten sich bei dem Jungen Zeichen einer Hochbegabung: Laut seiner Mutter verstand er die von seinem Vater angefertigten topographischen Pläne bereits, bevor er richtig sprechen konnte, und durch die intensive Beschäftigung mit Bildern und Geschichten, die seine Eltern ihm vorlasen, konnte er noch vor seinem vierten Lebensjahr lesen. Auch die Grundlagen der Naturwissenschaften lehrte ihn sein Vater. Im Alter von vier Jahren zog er sich bei einem Ausflug zu seiner Patin eine starke Erkältung zu, die sich zu einer Kehlkopfdiphterie entwickelte. Der Junge erholte sich zwar, blieb aber Zeit seines Lebens anfällig für Erkrankungen der Atemwege. In der Folge der Krankheit rieten ihm die Ärzte von jeglicher sportlichen Aktivität im Freien ab. Gerade im Winter durfte er das Haus nicht verlassen. Dies führte dazu, das Petrie nicht wie ein normales Kind eine Schule besuchte, sondern zu Hause erzogen wurde.1 Seine Großtante übernahm einen Großteil dieser Ausbildung. Sie brachte ihm nicht nur das Schreiben, die Grammatik, die Mathematik und die Grundlagen der hebräischen und griechischen Sprache bei, sondern sie war es auch, die dem Jungen, als er wieder einmal krank im Bett lag, antike Münzen, Mineralien und ein Buch über altägyptische Hieroglyphen schenkte und so sein Interesse an der Archäologie und Ägypten weckte. Dieses Interesse hielt an, und der Junge steckte zunehmend sein Taschengeld in den Erwerb antiker Münzen. Petrie fing an, sich eine Sammlung aufzubauen. Über sein Hobby lernte er schließlich N. T. Riley kennen, den Besitzer eines Antique Shop in Lee. Riley, der selbst ein Autodidakt auf dem Gebiet der Antiquitäten, Altertümer und überhaupt der Kuriositäten war, erkannte das Potenzial des Jungen und förderte sein Interesse, indem er ihn zu Auktionen nach London mitnahm und ihn zum Besuch der Ausstellungen des British Museum schickte. Sein Talent auf dem Gebiet der Numismatik fiel auch den Kuratoren der Münz- und Medaillenabteilung des Museums auf und sie ermunterten ihn, Münzen für sie zu erwerben, die in ihrer Sammlung noch fehlten. Immer mehr zeigte sich sein Talent auf dem Gebiet der Mathematik, insbesondere der Vermessung, und sein Vater förderte dieses Talent.2 Die Verbindung seines Interesses für antike Stätten und seiner Fähigkeiten als Vermesser führten Petrie 1874 nach Stonehenge, wo er den bis dahin nur unzureichend dokumentierten Steinkreis vermaß. Sein Vater begleitete ihn dabei. Ein erster Schritt in Richtung Feldarchäologie war getan. Im Alter von 22 Jahren führte er, dieses Mal ohne seinen Vater, einen Survey mit Ausgrabungen in Südengland durch, um die dortigen vorgeschichtlichen Stätten zu erforschen. Dieser Survey fand über zehn Kampagnen hinweg in den Jahren 1875 bis 1880 statt, und bereits 1877 konnte William Flinders Petrie dem British Museum seine Karten zur Verfügung stellen, die er dabei angefertigt hatte. Das Interesse an seiner Arbeit war so groß, dass er, der bis dahin nicht einmal einen Universitätsabschluss besaß, noch im Juni desselben Jahres zu einem Vortrag der Royal Archaeological Society eingeladen wurde, um seine Messungsmethoden und Forschungsergebnisse einem breiten Publikum vorzustellen. Dies war Petries erster Vortrag vor einem wissenschaftlichen Publikum, und dazu merkte er an:
Ich hatte im Anschluss eine Unterhaltung mit Colonel Lane Fox3, der, glaube ich, der Einzige war, der etwas von der Materie des Vortrags verstand.4
Diese Erfolge förderten Petries Interesse an Vermessung und an antiken Maßeinheiten, und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass er zusehends in Kontakt mit der Kultur der alten Ägypter kam. Eine entscheidende Rolle spielte dabei erneut sein Vater: Dieser war überzeugtes Mitglied einer streng evangelikalen Glaubensgemeinschaft, der sogenannten „Bruderschaft“. Die dort vermittelten Werte und das stark biblisch geprägte Weltbild gab er seinem Sohn von klein auf mit. Als ein alter Freund der Familie ein Buch über die Pyramiden von Giza schrieb, fielen die dort vertretenen Thesen im Hause Petrie auf fruchtbaren Boden: Die Planung der großen Pyramide, hieß es dort, sei von Gott beeinflusst gewesen, und deshalb lasse sich in ihrem Bauplan die gesamte Geschichte und Zukunft der Menschheit ablesen – sobald man die richtigen Maßeinheiten entschlüsselt habe. Bei beiden Petries rief dieses Buch Begeisterung hervor, denn es sprach mehrere ihrer eigenen Interessen an: Mathematik, Vermessung und biblische Themen. Auch wenn sich in der weiteren Diskussion mit dem Autor des Buches, dem berühmten Astronomen Charles Piazzi Smyth, zunehmend argumentative Diskrepanzen ergaben, so wuchs doch bei beiden die Idee, selbst nach Ägypten zu fahren und dort die große Pyramide von Giza eigenhändig zu vermessen. Schon bald nahm die Idee immer mehr konkrete Formen an: Petrie suchte den Kontakt zu Ägyptenreisenden, die vor Ort an den Pyramiden tätig gewesen waren und er begann, ausgewählte Vermessungsgeräte zu erwerben bzw. selbst zu bauen. Petrie beschäftigte sich intensiv mit Reiseliteratur und vertiefte über seine Kontakte zum British Museum sein Wissen über das alte Ägypten. Im Fokus standen dabei antike Monumente, Hieroglyphenkunde, altägyptische Geschichte und Pharaonen genauso wie Geologie, moderne Landeskunde und das Lernen der arabischen Sprache. Die gesamte Vorbereitung nahm mehrere Jahre in Anspruch. Am 25. November 1880 machte sich Petrie mit seiner Ausrüstung auf den Weg nach Ägypten – allerdings ohne seinen Vater, der beschlossen hatte, doch in England zu bleiben.
Petries Reise begann in Liverpool und führte ihn über Gibraltar nach Alexandria, wo er am 14. Dezember 1880 zum ersten Mal ägyptischen Boden betrat. Nach einigen Verzögerungen am Zoll – die Zeit nutzte er, um die antiken Stätten von Alexandria zu besuchen – gelangte Petrie schließlich mit dem Zug nach Kairo. Hier öffneten ihm Briefe der zuvor in London kontaktierten Ägyptenreisenden die Türen zur europäischen Gemeinde in Kairo, allen voran der Familie Grant.5 Aus dieser Bekanntschaft entwickelte sich eine beiderseitige Freundschaft, die sich über die Jahre hinweg zu Petries Nutzen vertiefte. Gerade am Beginn seiner Karriere nahmen die Grants Petrie unter ihre Fittiche und halfen ihm bei der Vermittlung des vertrauenswürdigen Dieners Ali Gabri, der Petrie auch bei seinen kommenden Expeditionen zur Seite stehen sollte.
Mit Alis Hilfe konnte Petrie kurz nach Weihnachten 1880 direkt am Pyramidenplateau von Giza in einem pharaonischen Grab seine neue Wohnung aufschlagen. Hier pflegte er einen einfachen, fast asketisch anmutenden Lebensstil, der ihm jedoch sehr entgegenkam. Er sah sich von den Zwängen der Zivilisation befreit. Legendär ist die Geschichte, dass Petrie, wenn er alleine war, gerne nur mit Unterwäsche bekleidet an der Pyramide arbeitete. Hierzu ist folgendes Zitat von ihm überliefert:
Falls [die Unterwäsche] rosa war, half sie, die Touristen auf Abstand zu halten, da ihnen das „Wesen“ zu schräg erschien, um es näher in Augenschein zu nehmen.6
Mit den Messungen an den Pyramiden erkannte Petrie, dass die von Piazzi Smyth genommenen Messungen und seine darauf basierenden Theorien jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehrten. Ihm wurde auch klar, dass es für weitere notwendige Schritte – für eine komplette Vermessung der Pyramide waren noch zu viele Teile verschüttet – immer wichtiger wurde, eine Grabungserlaubnis zu erhalten. Da eine solche Genehmigung für die laufende Saison jedoch nicht mehr zu erhalten war, vertagte er dieses Problem. Petrie arbeitete bis Mitte Mai 1881 an den Pyramiden, bevor ihn die Hitze dazu zwang, seine fünfmonatige Kampagne zu beenden. Seine Messgeräte konnte er bei den Grants unterstellen. Bevor er aber zurück nach England reiste, gelang es ihm noch, einige altägyptische Antiquitäten zu erwerben, die er nicht nur für seine eigene Sammlung, sondern auch auf Bitten seiner Bekannten beim British Museum kaufte. Dank seiner Erfahrung mit Münzen und antiken Gegenständen erkannte Petrie schnell, dass im Antikenhandel eine Möglichkeit lag, durch den Wiederverkauf der Gegenstände in London zu Geld zu kommen und sein spärliches Einkommen aufzubessern. Mit seiner Rückkehr am 23. Juni 1881 endete Petries erster Ausflug nach Ägypten und er war endgültig vom „Ägypten-Virus“ infiziert. Der Grundstein für eine der glänzendsten Karrieren in der Ägyptologie war gelegt.
Die Zeit in England nützte Petrie, um sich einen Expeditions-Fotoapparat zu bauen und mit diesem zu experimentieren. Schon im Herbst desselben Jahres zog es ihn wieder nach Ägypten. Er wollte den Pyramidensurvey vorantreiben. Zurück in Kairo lernte er Gaston Maspero kennen, der nach dem Tod Auguste Mariettes das Amt des Direktors der Antikenverwaltung übernommen hatte. Maspero stellte Flinders Petrie eine Erlaubnis zu Ausgrabungen an der großen Pyramide in Giza aus und stellte ihn vorübergehend im Ägyptischen Museum Kairo an. In der Kampagne gelang es Petrie nicht nur seine Messungen an den Pyramiden abzuschließen, sondern er bekam auch die Möglichkeit, an einer Nilkreuzfahrt teilzunehmen und so Meidum, das antike Luxor und das Tal der Könige zu besuchen. Weitere Ausflüge ins Faijum – hier vor allem nach Hawara –, nach Dashur und Saqqara ermöglichten es ihm seine Kenntnis der antiken Stätten Ägyptens und vor allem der großen Pyramiden zu vertiefen. Doch fast noch wichtiger als diese Reisen waren die Neuigkeiten, die Petrie durch einen seiner Mitreisenden, den Assyriologen Archibald Sayce, zu hören bekam: In London plante man, eine Organisation zu gründen, deren erklärtes Ziel es war, im Nildelta nach antiken pharaonischen Stätten zu suchen und diese systematisch zu erforschen. Im Forschungsinteresse stand vor allem die Identifikation der in der Bibel erwähnten Stätten. Petrie war sofort klar, dass sich hier für ihn die einzigartige Möglichkeit bot, sein „Hobby“ zum Beruf zu machen. Er schrieb umgehend an die Verantwortlichen des neu gegründeten Egypt Exploration Fund7 (EEF) und bat seine Kontakte am British Museum, für ihn ein gutes Wort einzulegen. Sofort nach seiner Rückkehr nach London kontaktierte er Reginald Stuart Poole8, ehrenamtlicher Sekretär und einer der Gründer der neuen Vereinigung, und wurde bei diesem persönlich vorstellig. Das Treffen verlief allerdings nicht zu Petries Zufriedenheit. Die politische Situation in Ägypten wurde als zu unsicher eingeschätzt. Der nationalistisch motivierte Aufstand des Arabi Pascha vertrieb den Vizekönig und die Ausländer aus Ägypten. Erst mit der Niederschlagung des Aufstands im September 1882 und der Errichtung eines britischen Protektorats in Ägypten war es wieder möglich, an archäologische Tätigkeiten in Ägypten zu denken.
Neuer Grabungsleiter des EEF wurde aber nicht Petrie, sondern Edouard Naville9. Petrie vertröstete man mit der Aussicht, dass sich möglicherweise in der Zukunft für ihn eine Anstellung beim EEF ergeben würde. Knapp ein Jahr später erfüllte sich diese Hoffnung, da Naville zu beschäftigt war, um auf Grabung zu fahren. Die so entstandene Lücke füllte Petrie, der mit seinem neu erschienen Buch zu den Pyramiden von Giza nicht nur die wissenschaftliche Fachwelt, sondern auch den zweiten Sekretär des EEF begeisterte – Amelia Edwards10, seine spätere Freundin und Gönnerin.
Nachdem auch Maspero seine Einwilligung erteilt hatte, begann Petrie im Winter des Jahres 1883 mit seinen Forschungen im Nildelta. In den folgenden drei Jahren arbeitete er im Auftrag des EEF an den verschiedensten Ausgrabungsstätten im Nildelta, wobei vor allem seine Arbeiten in Tanis (San el-Hagar) und Naukratis hervorzuheben sind. Von 1883 bis 1886 entwickelte und verfeinerte Petrie die Methoden, denen er seine großen wissenschaftlichen Erfolge zu verdanken hat. An erster Stelle stand hier die Erkenntnis, dass man mit Hilfe der gefundenen Keramik die restlichen Funde datieren konnte und es möglich war, kulturelle Zugehörigkeiten an der Keramik abzulesen. Dies war für die damalige Zeit ein revolutionärer Ansatz. Auch das Erstellen von Profilen in Grabungsschnitten sowie das Arbeiten nach sogenannten Abhüben, d.h. das schichtweise Abtragen vorher festgelegter Erdmengen, war für seine Zeit außergewöhnlich und unterschied sich massiv von den Techniken seiner Zeitgenossen. Petries neuen Methoden lag die Idee zugrunde, dass alle Gegenstände gleich datieren, solange sie, auch in unterschiedlichen Grabungsbereichen, auf derselben absoluten Höhe zu finden sind. Auch Petries Interesse an den „alltäglichen“ und auf einer Ausgrabung häufig vorkommenden Gegenständen wie Perlen, Münzen, Skarabäen und Gewichten war neu. Seine Zeitgenossen ignorierten solche Funde. Gerade diese Gegenstände ermöglichten es Petrie aber, Aussagen zu den Lebensgewohnheiten und -umständen der antiken Kulturen zu treffen, Zusammenhänge, die anderen Archäologen seiner Ära meist verborgen blieben. Bis heute prägen die von Petrie entworfenen Methoden die Arbeitsweise eines jeden Archäologen, wenn auch in stark modifizierter Art und Weise.
Alle Kampagnen Petries hatten die gleiche spartanische Lebensweise, vor allem, was die Ernährung anbelangte. Die Bedingungen galten nicht nur für Petrie selbst, sondern für alle Teilnehmer. Legendär ist hier eine Erzählung von Margaret Murray11, einer langjährigen Mitarbeiterin von Petrie, die berichtete, dass überzählige Dosen im Wüstensand vergraben wurden, um sie im nächsten Jahr wieder zu nutzen. Um zu testen, ob das Essen in den Dosen noch genießbar war, wurden die Dosen an eine Felswand geworfen. Platzten sie auf, hatten sie den Sommer im ägyptischen Boden nicht überlebt und wurden entsorgt.12 Ähnliches erzählte Thomas E. Lawrence, der spätere „Lawrence of Arabia“ – von seiner Ausbildung her eigentlich vorderasiatischer Archäologe –, der von seinem Lehrer David G. Hogarth13 zu Petrie geschickt wurde, um von ihm archäologische Ausgrabungsmethoden zu lernen. Lawrence schrieb über Petrie:
Warum ist er noch nicht an einer Lebensmittelvergiftung gestorben? […] Sie essen aus seit Wochen geöffneten Dosen, nachdem sie innen die grüne Kruste heruntergekratzt haben.
Überhaupt beschrieb er die Lebensumstände äußerst plastisch:
Eine Petrie-Ausgrabung ist eine Erfahrung mit einem ganz eigenem Geschmack: Nieren in Dosen vermischen sich mit Mumienteilen und es finden sich antike Amulette in der Suppe: Meine Füße halten in der Nacht die Ratten vom Brotkorb fern. Seit zehn Tagen habe ich die Sonne beim Frühstücken aufgehen sehen und wenn wir nach Sonnenuntergang heimkommen, nachdem wir unser Mittagessen am Boden eines 50 Fuß tiefen Grabschachts eingenommen haben, zeichnen wir Keramikprofile oder Halsketten aus Perlenschnüren. Wenn ich nicht Malaria hätte, könnte ich eine schöne Geschichte daraus machen – aber dann müsste ich ja arbeiten.14
Mit zunehmendem Erfolg wurde es für Petrie schwer, sich mit dem bürokratisch organisierten EEF zu verständigen. Auch persönliche Differenzen – hier vor allem mit dem bereits vorher erwähnten Poole, der immer stärker Naville als Hauptausgräber des EEF protegierte – veranlassten Petrie dazu, seine Grabungstätigkeit für den EEF einzustellen. Trotz seines offiziellen Ausstiegs beim EEF gelang es ihm, weitere Aufträge in Ägypten zu erhalten, vor allem durch Edwards Vermittlung. Sie war es auch, die an Petrie einen finanzkräftigen Sponsor vermittelte: Jesse Haworth.15
Dank seiner Unterstützung konnte Petrie in den folgenden Jahren finanziell unabhängig in Ägypten arbeiten. Diese Jahre zählten zu seinen produktivsten. Inzwischen wurde der Antikendienst von Eugène Grébaut16 geleitet und Petrie erhielt eine Genehmigung für Unternehmungen in der Region des Faijum: Hawara, Ilahun und Gurob erbrachten nicht nur neue Erkenntnisse zum Mittleren Reich, sondern förderten auch die weltberühmten aus römischer Zeit stammenden Mumienporträts zutage, die bis heute als herausragende Beispiele antiker Porträtkunst gelten. Nach einer kurzen Expedition nach Syrien wandte Petrie sich nach Meidum und arbeitete dort an der Pyramide des Snofru aus der frühen 4. Dynastie. Hier fand er nicht nur das zur Pyramide gehörige Tempelareal, sondern konnte die Pyramide auch zu denen in Giza zeitlich einordnen. In den Jahren 1890 bis 1892 begann Petrie seine Arbeiten in Amarna, die allerdings von dem immer schlechteren Verhältnis zum Leiter des Antikendienstes Grébaut überschattet waren. Durch die Unterstützung der offiziellen britischen Verwaltungsstellen gelang es Petrie, die Arbeit vor Ort weitgehend unbehelligt vom Antikendienst fortzuführen.
Das Jahr 1892 brachte schließlich eine Wende in Petries Leben. Er erhielt nicht nur die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford, sondern erfuhr auch eine letzte Wohltat durch Edwards, die im selben Jahr verstarb: In ihrem Testament stiftete sie mit ihrem Vermögen eine Professur für Ägyptologie am University College in London. Die an diese Stelle geknüpften Bedingungen waren Petrie geradezu auf den Leib geschneidert. Unverzüglich wurde er auf die neu gegründete „Edwards-Professur“ berufen. Mit dieser Berufung begann Petries akademische Karriere, die neben dem Unterrichten von Studenten per Satzung auch das Durchführen praktischer Ausgrabungen in Ägypten beinhaltete. Und dieser praktischen Verpflichtung kam er nach, indem er 1884 mit Ausgrabungen in Koptos, Nagada und Ballas begann. Hier entdeckte er das Gräberfeld einer der ältesten Kulturen Ägyptens, die nach ihrem Fundort „Nagada-Kultur“ benannt wurde.17 Sein Rang als Professor ermöglichte es ihm auch, den sogenannten Egyptian Research Account ins Leben zu rufen. Dieser hatte zum Ziel, Geldmittel zur Unterstützung von Petries Ausgrabungen einzuwerben. Auch das Verhältnis zum Antikendienst entspannte sich zusehends, als Grébaut durch Jaques de Morgan18 ersetzt wurde. 1896 begann Petrie dann ein neues Vorhaben, und zwar interessierte er sich für Ausgrabungen in Theben-West. Zu seiner neuen Konzession gehörten unter anderem die Totentempel Ramses’ II., das sogenannte Ramesseum, und dessen Sohnes Merenptah. Hier fand Petrie eine Stele, auf der die militärischen Erfolge Merenptahs aufgelistet sind und auf der sich der Name des Volkes Israel befindet. Diese Nachricht wurde nicht nur von der Presse begeistert aufgenommen, sondern legte auch den Namen der Stele fest, die bis heute unter der Bezeichnung „Israelstele“ ihren Platz in der Wissenschaft hat. Nach seiner thebanischen Unternehmung begab sich Petrie für kleinere Arbeiten nach Mittelägypten, genauer nach Oxyrhynchos und Deshasheh.19
Das Jahr 1897 hielt eine Überraschung für Petrie bereit, denn aus einer im Vorjahr begonnenen Brieffreundschaft entwickelte sich für ihn eine ernste Liebesbeziehung. Ziel seiner Zuneigung war die deutlich jüngere Hilda Urlin, die sich jedoch anfänglich unentschlossen zeigte. Mehrere Besuche und Ausflüge seitens Petries hatten Wirkung: Sie nahm seinen Antrag an. Nach einer kurzen Verlobungszeit heirateten die beiden im November, um direkt nach der Zeremonie die gemeinsame Hochzeitsreise anzutreten – wie nicht anders zu erwarten, nach Ägypten. Hilda war von den Eindrücken dieses Abenteuers hingerissen. Petrie veränderte ihr Leben. Sie schenkte ihm im Laufe der Jahre nicht nur zwei Kinder, sondern wurde auch seine regelmäßige Begleiterin auf seinen Ausgrabungen. Auf Grabung half sie bei allen wichtigen Aufgaben mit, kümmerte sich um organisatorische Dinge, und ihr zeichnerisches Talent war so gut, dass Petrie zahlreiche ihrer Bilder und Kopien in seinen Büchern publizierte.
Bevor beide jedoch so weit waren, erwartete sie ein größeres Problem: Die Anreise zu Petries neuem Ausgrabungsort Dendera. Nach Ausflügen in Altkairo, zu den Pyramiden von Giza, Saqqara, Meidum und Dashur und schließlich zu den Felsgräbern von Beni Hassan und Amarna gestaltete sich die Weiterfahrt ab Nag Hammadi schwierig. Petries Versuch, auf einem kleinen Frachtkahn die letzte Etappe nach Dendera zurückzulegen, machte eine Flaute zunichte. Das frisch vermählte Ehepaar war gezwungen, auf dem Kahn zu übernachten. Auch der folgende Tag brachte keinen Wind, sodass das Ehepaar Petrie beschloss, zu Fuß zum Grabungscamp zu gelangen. Als „die Flitterwochen der Petries auf einem Kohlenboot“20 fand diese Episode Eingang in die archäologischen Legenden. Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten liefen die Arbeiten in Dendera aber gut an und gaben Petrie interessante Einblicke in die Bestattungspraxis und Grabarchitektur der 1. Zwischenzeit. Nach einer kurzen archäologischen Unternehmung in Hu reisten die Petries schließlich via Italien, hier mit Besuchen in Neapel, Pompeji und Rom, zurück nach England und beendeten ihre „Flitterwochen“. Nun stand beiden einer der wichtigsten Ausgrabungen kurz bevor: Petries Expedition nach Abydos.
Abydos selbst gilt als einer der bedeutendsten Kultorte des alten Ägypten. Erste Siedlungsspuren finden sich bereits in vordynastischer Zeit. Bekannt geworden ist Abydos aber vor allem durch die Bestattungsanlagen der Könige der Frühzeit, genauer der 0. bis 2. Dynastie. In dieser Tradition ließen die nachfolgenden Könige des Alten, Mittleren und Neuen Reichs zahlreiche Tempel errichten. Abydos war dem Mythos nach der Bestattungsort des Osiris, und alljährlich war dort zu dessen Ehren ein bedeutendes Fest gefeiert worden. Die hohe Bedeutung, die Osiris und sein Kult durch die verschiedenen pharaonischen Epochen hatten, machte Abydos über Jahrtausende so populär, dass nicht nur Könige, sondern alle, die es sich leisten konnten, dorthin reisten, um in Form von Stelen, Statuen oder kleinen Kapellen ihre Spuren zu hinterlassen. Diese sogenannte „Abydosfahrt“ wurde auch in der Grabdekoration wiedergegeben. Erste archäologische Arbeiten erfolgten durch Mariette, Maspero und zuletzt durch Émile Amélineau21, der nach seinen Arbeiten erklärte, „dass dort nichts mehr zu finden sei“.
Petrie hatte vor allem an den frühen Relikten in Abydos Interesse. Er hatte sich bereits mehrere Male vergeblich um eine Konzession bemüht. Als aber im Jahr 1899 Maspero wieder zum Generaldirektor des Antikendienstes ernannt wurde, konnte er seinem alten Bekannten Petrie die Konzession für Abydos gewähren. Wie sich sehr bald zeigte, war der Grabungsplatz alles andere als vollständig untersucht. In den Jahren 1899 bis 1903 widmete sich Petrie zuerst einem als „Umm el-Quaab“ (Mutter der Scherben) bezeichneten Ort, an dem sich die Gräber der frühen Könige befinden. Er entdeckte, dass Amélineau zahlreiche Bestattungen einfach übersehen oder die Funde nur sehr unzureichend wahrgenommen hatte. Zahlreiche von Petrie gefundene Elfenbeintäfelchen und Stelen enthielten die Namen der in den jeweiligen Grabanlagen bestatteten Könige. Dieser Umstand ermöglichte es Petrie, die Zuordnung der einzelnen Bauten zu bestimmten Königen der frühen Dynastien durchzuführen und damit eine historische Rekonstruktion der frühesten geschichtlich fassbaren Phase der altägyptischen Hochkultur. Die beschrifteten Täfelchen und Stelen waren zudem frühe Zeugen der Entwicklung der komplexen Hieroglyphenschrift. Wie heute bekannt ist, entwickelte sich diese aus Symbolen die zur Abrechnung von Waren verwendet wurden. Die Elfenbeintäfelchen oder jar dockets spielten für diese Erkenntnis eine entscheidende Rolle. Zu den Funden der folgenden Kampagnen gehörten auch die Überreste eines antiken Tempels, die ältesten Juwelen des alten Ägypten aus dem Grab des Khasechemui und schließlich die Überreste des sogenannten Osireions, einer Art künstlich nachgebauter mythologischer Landschaft aus dem Osirismythos, die das Grab des Gottes darstellen sollte. Die Ausgrabungen Petries in Abydos erbrachten außerdem eines der bekanntesten Stücke des Ägyptischen Museums in Kairo: die kleine Elfenbeinstatue des Königs Cheops.22
Für die Archäologie ist Abydos bis heute ein Platz ersten Ranges. Seit 1977 gräbt dort das Deutsche Archäologische Institut Kairo im Areal von Umm el Qaab, dem sogenannten Friedhof U. Die Arbeiten werfen neues Licht auf die Gräber der frühesten Könige Ägyptens und rekonstruieren die komplexen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Arealen und Einrichtungen über die Jahrtausende hinweg. Im Zentrum der Untersuchungen stehen dabei auch die bereits von Petrie untersuchten Befunde und die aus diesen Altgrabungen stammenden Museumsbestände. Insgesamt unterscheidet man inzwischen drei Hauptnekropolen: den Friedhof U, der vor allem die frühdynastischen Bestattungen umfasst (zwischen 3700 und 3050 v. Chr., auch bekannt als Nagada-I–Nagada-III-Zeit), den Friedhof B, in dem sich die Bestattungen der vordynastischen Könige bis zur 1. Dynastie befinden (3050–2950 v. Chr.), und schließlich die großen Grabanlagen der Könige der 1. und 2. Dynastie (2950–2700 v. Chr.). Auch eine amerikanische Mission ist seit 1967 in Abydos tätig. Seit 1993 arbeitet sie an den Tempelanlagen der Tetischeri und des Ahmose, die aus der frühen 18. Dynastie stammen. All diese Unternehmungen (die bei Weitem keine vollständige Liste der modernen archäologischen Projekte in Abydos darstellen) zeigen, dass das Interesse an diesem außergewöhnlichen Grabungsplatz keinesfalls erloschen ist und sich auch heute noch neue und spektakuläre Erkenntnisse aus diesem angeblich schon vor 100 Jahren ausgebeutetem Fundort ziehen lassen.
Petries Arbeiten in Abydos dauerten vier Jahre. Dann zog es ihn zu neuen Arbeitsplätzen; er wusste, dass es noch viel zu tun gab. Seine nächsten Ziele waren Herakleopolis, Gurob und Buto, alles Orte, die ebenfalls über sehr frühe Siedlungsstrukturen verfügen.
Mit der Zeit geriet der EEF, der nach wie vor Petries Hauptgeldgeber war, in finanzielle Schwierigkeiten. Petrie blieb kein großer Spielraum mehr bei der Auswahl seiner Grabungsplätze. Er beschloss daher, einen Survey auf der Sinai-Halbinsel durchzuführen. Diese Unternehmung wurde von kleineren Diebstählen und Überfällen auf Petries Camp überschattet. Es war sehr schwierig, den Sinai staatlich zu überwachen. Erst als ein ortsansässiger Scheich als Vermittler angeheuert wurde, verbesserte sich die Situation für Petrie. Er nahm antike Felsinschriften pharaonischer Expeditionen auf und konzentrierte sich auf die Dokumentation des Tempels der Hathor in Serabit el-Chadim, die dort in antiker Zeit als „Herrin des Türkis“ verehrt wurde. Erneut war Petries Unternehmung ein voller Erfolg, auch wenn immer deutlicher wurde, dass eine Zusammenarbeit mit dem EEF auf Dauer nicht mehr infrage kam. Alte und neue Streitigkeiten über die Subvention der Unternehmung und die Kosten für Petries Publikationen führten schließlich zum endgültigen Bruch beider Parteien.
Petrie gründet eine neue Organisation: die British School of Archaeology in Egypt, eine größere Version seines zuvor gegründeten Egypt Research Account. Diese School wurde ebenfalls an das University College angebunden. Sie sorgte für weiteren Streit mit dem EEF, da Petrie sein Konkurrenzunternehmen bekanntmachte und es ihm gelang, zahlreiche Sponsoren des EEF für seine Organisation zu gewinnen. Die Finanzen der School waren in den folgenden Jahren äußerst zufriedenstellend und sicherten Petries Grabungen. Mit dieser Rückendeckung begab sich Petrie im Winter des Jahres 1905 erneut ins Nildelta. Ziel war diesmal Tell el-Yahudiyeh. Petrie entdeckte hier nicht nur die Bauwerke einer jüdischen Exilgemeinde, die einen älteren Tempel und eine in ptolemäischer Zeit gegründete Siedlung überlagerten, sondern auch die Reste einer Befestigung der sogenannten „Hyksos“23.
Nach seinen Untersuchungen in Tell el-Yahudiyeh wandte sich Petrie Tell el-Retaba zu, einem weiteren Ort im Nildelta. Hier fand er Besiedlungsspuren, die vom Alten Reich bis in die griechisch-römische Zeit reichten.24 Auf seiner Rückreise nach England hielt Petrie mehrere Vorträge in Italien und Frankreich.
Wenige Monate später, im Herbst des Jahres 1906, machte sich Petrie erneut auf nach Ägypten, diesmal allerdings ohne Hilda, die schwanger in England zurückblieb. Petrie beantragte wieder eine Konzession in Giza. Hier fand er Beweise, dass Giza bereits vor dem Bau der großen Pyramiden als Begräbnisplatz genutzt wurde. Er entdeckte eine Grabanlage der 2. Dynastie, die architektonisch eine große Nähe zu seinen Entdeckungen in Abydos aufwies. Nach nur fünf Wochen Arbeit erklärte Petrie seine Aktivitäten für erledigt und widmete sich Rifeh25, einem Ort in der Nähe von Assiut. Hier fand er die ungestörte Bestattung eines Brüderpaares aus dem Mittleren Reich, die sich heute komplett im Manchester Museum befindet und im Zuge des berühmten Manchester Mummy Project genauer untersucht wurde.26
Kurz nach Petries Rückkehr in die Heimat kam im April 1907 sein Sohn John Flinders zur Welt, was Petrie aber nicht davon abhielt, bereits im Winter das nächste große Projekt in Angriff zu nehmen: die Ausgrabungen in Memphis, der ehemaligen Hauptstadt des Alten Reichs. Hier entdeckte er nicht nur die Überreste des berühmten Tempels des Schöpfergottes Ptah und eine Militärgarnison aus der Zeit des Herrschers Apries, sondern auch einen riesengroßen königlichen Alabastersphinx, der wohl König Amenophis II. zuzuordnen ist und den man heute noch bewundern kann, wenn man Memphis besucht, direkt neben dem umgestürzten Koloss Ramses’ II.
Anfang 1908 begab sich Petrie nach Theben, diesmal wieder in Begleitung seiner Frau Hilda, die den gemeinsamen Sohn in der Obhut eines Kindermädchens in England zurückgelassen hatte. Im Vordergrund seiner Unternehmung standen jedoch nicht die Tempel des Neuen Reiches, sondern ein Bereich nördlich des kleinen Ortes Gurna in der thebanischen Nekropole. Nachdem anfangs das Finderglück ausblieb, gelang es Petrie schließlich doch noch, eine ungestörte Frauen-Bestattung aus der 2. Zwischenzeit zu bergen. Bis heute ist dieser Fund außergewöhnlich, nicht nur weil man nicht weiß, um wen es sich bei der Bestatteten handelt, sondern auch weil die Umstände der Bestattung – Nutzung einer natürlichen Felsspalte als Begräbnisplatz, eigenartige Beigaben-Mischung – ungewöhnlich sind. Im Anschluss an die thebanische Unternehmung begab sich Petrie zu einer weiteren Kampagne nach Memphis, allerdings ohne seine Frau, da Hilda erneut schwanger war und zurück nach England reiste. Ihr zweites Kind, Ann, erblickte im August 1909 das Licht der Welt.
1910 begab sich Petrie noch einmal in den Schatten der Pyramiden, diesmal jedoch nach Meidum. In der Region wurden viele Gräber geplündert, und die Wissenschaftler versuchten zu retten, was noch zu retten war. Er erlangte nicht nur weitere Erkenntnisse über die Konstruktion der Pyramide, sondern erforschte auch die im direkten Umfeld gelegenen Mastabas27, Grabanlagen der Edlen des Alten Reiches. Im Anschluss setzte Petrie seine Unternehmung in Memphis fort mit dem Ziel, den Tempel des Ptah und den „Palast des Apries“ weiter vom Sand zu befreien.
In den folgenden zwei Jahren arbeitete Petrie erneut in Hawara und an anderen Orten in Mittelägypten, wo er weitere Mumienporträts zutage förderte, sowie auf einem prähistorischen Friedhof (Gerza) in der Nähe von Meidum. 1911 bis 1913 folgten seine Grabungen in Shurafa28, Tarkhan – einem frühdynastischen Begräbnisplatz, der zeitgleich zu Petries Funden in Abydos datiert – und Matariya/Tell el Hisn/Heliopolis. Hilda begleitete ihn immer wieder. Zumindest zeitweise gab sie die Kinder in Betreuung, um an Petries Seite weiter auszugraben. Petrie konzentrierte sich jedoch nicht lange auf das Areal des antiken Heliopolis, das heute von der Großstadt Kairo überbaut ist. Bei seiner Grabung erwies sich nicht nur der Grundwasserpegel als problematisch, sondern auch die Tatsache, dass das Grabungsareal von privater Hand gemietet werden musste. Der Platz lag Petries Meinung nach zu nah an Kairo und war deshalb stark geplündert und zerstört worden. Petrie beschloss daher, auf weitere Arbeiten in Heliopolis zu verzichten und sich neuen Herausforderungen zu stellen. Heute finden in Heliopolis Ausgrabungen des Deutschen Archäologischen Instituts und der Universität Leipzig statt, die sich vor allem auf den Tempelbereich, das Kultzentrum der antiken Stadt, konzentrieren.29 Petries Interesse galt in der folgenden Kampagne den von seinen Schülern begonnenen Unternehmungen in Riqqa, Lahun und Harageh, wo er sich den Gräberfeldern und den Pyramidenstrukturen des Mittleren Reiches widmete. Seine akkurate Arbeitsweise wurde belohnt. In einem bereits geplünderten Grab fand er den Goldschmuck der Prinzessin Sit-Hathor-Iunet, zu dem eine Krone, zwei Pektorale, Halsketten, Armreifen sowie die Kosmetikartikel der Prinzessin gehörten.
Nach seiner Rückkehr nach England bekam das University College einige neue Räume, für Petrie die ideale Möglichkeit, seine Sammlung unterzubringen. Er bot der Universität seine private Sammlung zum Kauf an, und nach einer größeren Spendenaktion konnte diese die Sammlung auch erwerben. Bis heute bildet Petries Sammlung den Kern der ägyptologischen Abteilung des University College und gehört zu den besten ägyptologischen Lehrmittelsammlungen der Welt. Der 1914 ausbrechende Erste Weltkrieg hatte auch für Petrie einschneidende Auswirkung. Zahlreiche seiner bewährten Studenten wurden zum Kriegsdienst eingezogen und Petrie fehlten Mitarbeiter, um die Stücke seiner letzten Grabung für eine Ausstellung vorzubereiten. Auch der Verkauf einiger Stücke aus seiner letzten Unternehmung, darunter die Juwelen der Prinzessin Sit-Hathor-Iunet, gestaltete sich schwierig, da es um die Finanzen der öffentlichen Museen schlecht bestellt war. Und seine Ausgrabungstätigkeit musste während der Kriegsjahre ruhen. Petrie widmete sich stattdessen dem Ausbau und der Organisation seiner Sammlung und der Publikation seiner Grabungsergebnisse und seiner Kataloge altägyptischer Objekte. Dank der erzwungenen Untätigkeit fand Petrie auch Zeit, mit seiner Familie gemeinsame Ausflüge zu unternehmen – vor allem zu (wie sollte es anders sein) archäologischen Exkursionen in England. Zum Beispiel erstellte er zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern Pläne des berühmten „Weißen Pferds von Uffington Hill“ und des „Cerne-Abbas-Giganten“ bei Dorchester.30
Mit dem Ende des Krieges endete auch die Zeit der Familienausflüge. Petrie beantragte die Fortführung der Ausgrabungen in Lahun, was ihm von Pierre Lacau31, Nachfolger des inzwischen verstorbenen Maspero, auch sofort genehmigt wurde. Im Herbst 1919 begann Petrie zusammen mit Hilda und zweien seiner erfahrenen Studenten, Guy Brunton und Rex Engelbach32, mit den Ausgrabungen in Ägypten. Es folgten Unternehmungen in Gurob, Sedment und Ahnas. 1921 wurde erneut in Abydos gegraben, wo Petrie auf weitere Gräber der 1. Dynastie stieß, diesmal allerdings der „niederen“ Hofangestellten und Handwerker. Nach zwei Monaten wandte sich Petrie erneut Oxyrhynchos zu, wo er ein römisches Theater entdeckte. 1922 begab er sich zurück nach England. Dort unternahm er zusammen mit seinem Sohn eine Ausgrabung in Sillbury Hill. Das Jahr sollte indes noch weitreichendere Folgen für die Ausgräber in Ägypten haben: Die offizielle Protektoratsherrschaft Großbritanniens in Ägypten endete, und Howard Carter entdeckte das Grab des Tutanchamun. Beide Ereignisse hatten zur Folge, dass Lacau eine Verschärfung des bisherigen Antikenrechts veranlasste. Bisher war eine Fundteilung üblich: Eine Hälfte der Grabungsfunde war Eigentum des ägyptischen Antikendienstes und die andere Hälfte Eigentum des Ausgräbers. Jetzt sollte allein der Direktor des Antikendienstes entscheiden, was im Land blieb und welche Stücke dem Ausgräber zugeteilt wurden. Und mehr noch: Der Direktor des Antikendienstes hatte in Zukunft das alleinige Entscheidungsrecht über die Vergabe der Konzessionen. Obwohl aufgrund des internationalen Protestes die Regelung nicht sofort, sondern erst einige Jahre später in Kraft trat, war deutlich zu spüren, dass die Tage der großzügigen Fundaufteilung gezählt waren. Aus diesem Grund beschränkte sich Petrie 1923/24 auf kleinere, wenig fundreiche Grabungen in Qau und Badari.33 1923 wurde Petrie „aufgrund seiner Verdienste für Ägypten“34 zum Ritter geschlagen.
Wohl bedingt durch diese neue „Härte“ des Antikendienstes reifte in Petries Kopf die Idee, seine Grabungsarbeiten und damit die der British School of Archaeology in Egypt in den Vorderen Orient zu verlegen. Die Idee hatte er wohl schon während der erzwungenen Grabungspause im Ersten Weltkrieg gehabt, denn bereits im Jahr 1918 hatte er dem British Museum die Gründung einer archäologischen Schule für Vorderasien vorgeschlagen. 1926 kehrte Petrie nach jahrzehntelanger Arbeit Ägypten den Rücken und verlagerte seine Arbeit mit Billigung der British School nach Palästina. Erstes Ziel war der sogenannte Tell Jemmeh, der heute als das antike Yurza, später auch Arza35, identifiziert wurde und sich südlich der Stadt Gaza befindet. Sechs Quftis sowie die erfahrenen Archäologen Gerald L. Harding und J. Starkey begleiteten Petrie auf seiner Unternehmung. Erstaunlich ist, dass sich Petrie mit seinen inzwischen 73 Jahren noch einmal auf ein solches Unternehmen einließ. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich (Grund dafür war wohl die extrem schlechte Wasserversorgung in Jemmeh), aber Petrie überstand die Ausgrabung. Er gönnte sich für die nächste Saison eine Pause und schickte sein Grabungsteam nach Palästina, diesmal nach Tell Fara36. Erst 1928 stieß Petrie wieder zu seinem Team und verbrachte in Tell Fara eine erfolgreiche Saison. Immer häufiger verzichtete er jedoch auf eine Grabungsteilnahme und überließ die Leitung seinen Mitarbeitern.
1930 beging man feierlich Petries 50-jähriges Ägyptenjubiläum, unter allgemeiner Beteiligung der Fachwelt und der Öffentlichkeit. In Palästina zeichneten sich dagegen erste Schwierigkeiten ab. Es wurde bemängelt, dass die Fundlisten nicht korrekt geführt worden waren und die Konzessionsgrenzen nicht eingehalten wurden. Auch der Ankauf von Antiquitäten vor Ort stellte ein Problem für den Leiter der Antikenverwaltung Palästinas, E. T. Richmond37, dar. Auch wenn die Probleme nicht restlos ausgeräumt werden konnten, erhielt Petrie eine Genehmigung für Ausgrabungen in Tell Fara und Tell el Ajjul38. Der Grabungsbeginn verlief zunächst schleppend. In Tell el Ajjul war die Malaria ausgebrochen. Aber insgesamt war die Kampagne erfolgreich, auch wenn sich die Arbeit unharmonisch gestaltete: Der Antikendienst hatte durch zusätzliche Auflagen den Druck auf Petries Arbeit erhöht. 1931 kam es zum Streit im Team. Man war nicht mehr bereit, den spartanischen Lebensstil einer Petrie-Grabung klaglos zu erdulden. Auch wurden Petries Grabungsmethoden kritisiert, die einigen Mitarbeitern überholt und für den komplexen Grabungsort ungeeignet erschienen. Schließlich kam es zur Spaltung zwischen Petrie und seiner Mannschaft, die unter der Leitung von Starkey für die kommende Saison beschloss, eine eigene Ausgrabung zu unternehmen. In den folgenden Kampagnen war Petrie also gezwungen, mit einem komplett neuen Team zu arbeiten. Trotz dieser Schwierigkeiten war er sehr erfolgreich, und viele Objekte konnten geborgen werden, darunter eine ungewöhnlich hohe Menge an Goldfunden.
1933 zog sich Petrie im Alter von 80 Jahren von seinem Amt als Professor für Ägyptologie am University College zurück. Gleichzeitig beschloss er, seinen Wohnort nach Jerusalem zu verlegen. Die kalten englischen Winter wurden zunehmend zur Belastung für seine Gesundheit. Da sich Petries Kontakte zum Antikendienst Palästinas verschlechtert hatten, folgte er einer Anfrage Jean Schlumbergers, der Petrie zu einer Ausgrabung in Syrien eigeladen hatte. Als Mitarbeiter des unter französischer Oberhoheit stehenden syrischen Antikendienstes versprach er Petrie eine deutlich größere Entscheidungs- und Handlungsfreiheit bei seinen Unternehmungen, als sie ihm vom Antikendienst Palästinas gewährt worden war. Und so begab sich Petrie auf ein weiteres Abenteuer: Mit einem umgebauten Bus fuhren Hilda, Jack Ellis, der bereits mit Petrie in Tell el-Ajjul gearbeitet hatte, und Petrie selbst im Zuge eines Surveys durch Syrien, auf der Suche nach geeigneten Fundplätzen. Auf dieser siebenwöchigen Fahrt legten die Petries fast 2000 km zurück und besichtigten und vermaßen zahlreiche antike Stätten der unterschiedlichsten Epochen.
1935 und 1936 führte eine Unternehmung Petrie nochmals auf den Sinai. Hier erhielt er durch die Vermittlung seiner beiden ehemaligen Schüler Engelbach und Brunton und dank der Tatsache, dass der englische Gouverneur des Gebietes an Petries Arbeiten sehr interessiert war, noch einmal die Erlaubnis zu Ausgrabungen. Petrie entschied sich für einen Ort im nördlichen Sinai: Sheik Zuweid, einen in der Eisenzeit genutzten Siedlungshügel. Die Ausgrabung wurde gerade in der zweiten Kampagne von Krankheitsfällen überschattet, von denen jedoch ausgerechnet der alte Petrie verschont blieb. Ermutigt durch einen Wechsel in der Verwaltung des Antikendienstes, beantragte er 1937 noch einmal die Genehmigung zu Ausgrabungen in Tell el-Ajjul. Als Leiter der Arbeiten setzte er allerdings nicht sich selbst, sondern Murray und Ernest Mackay39 ein. Die Unternehmung wurde genehmigt und obwohl Petrie selbst nicht mehr Grabungsleiter war, ließ er es sich nicht nehmen, daran teilzunehmen. Bevor er sich in Jerusalem endgültig zur Ruhe setzte, unternahm er noch einen letzten, wenige Tage dauernden Survey in der Gegend um Amman. Er war aber körperlich nicht mehr in der Lage, diesen zu Ende zu führen, und überließ die Arbeit seinen Schülern. Auch an eine Weiterführung der Ausgrabungen in Tell el-Ajjul war nicht mehr zu denken. Durch die zunehmende Verschlechterung der politischen Lage Palästinas und der Instabilität der lokalen Verwaltung kam es 1938 zur zweimaligen Plünderung des Grabungslagers und der kompletten Zerstörung des gesamten Inventars. Dies bedeutete, wie Petrie selbst erkannt hatte, das Ende seiner Arbeit im Raum Gaza.
Bis zu seinem Tod am 28. Juli 1942 arbeitete Petrie an seinen Publikationen, trotzdem sich sein Gesundheitszustand zunehmend verschlechterte und die Tage von den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs40 überschattet wurden. Legendenumrankt ist auch der Tod Petries. Er hatte noch zu Lebzeiten bestimmt, dass sein Kopf nach seinem Ableben der Wissenschaft vermacht werden sollte, um als Beispiel für einen „typisch britischen Schädel“ zu dienen.41 Vermacht wurde er dem Royal College of Surgeons in London. Obwohl sofort nach Petries Tod der Schädel konserviert wurde, kam es nicht zu seiner wissenschaftlichen Auswertung. Zwar wurde der Schädel nach England verschifft (ironischerweise als Antiquität verpackt), doch verlor sich die Beschriftung des Packungsinhalts und wurde in den Nachwirren des Zweiten Weltkriegs schlicht und einfach vergessen. Trotz Nachfrage von Hilda gelang es erst in den 1970er Jahren, den Schädel zu identifizieren. Bis heute befindet er sich im Besitz des Royal College of Surgeons. Petries Körper liegt auf dem protestantischen Zionsfriedhof in Jerusalem. Sein Grabstein in Form einer Stele trägt seinen Namen und ein Anchkreuz – das ägyptische Zeichen für Leben.
Bis heute ist Petries Vermächtnis – über 100 Bücher und nahezu 800 Artikel und Beiträge – unübertroffen. Seine Grabungsaktivitäten umfassten Arbeiten in Palästina, Syrien, England und vor allem in ganz Ägypten. Zahlreiche seiner Fundstellen befinden sich bis heute in Bearbeitung und werden weiter wissenschaftlich ausgewertet. Seine archäologischen Funde sind Bestandteil der wichtigsten europäischen und amerikanischen Sammlungen, und die Kenntnis zahlreicher dieser Stücke gehört zur Grundausbildung jedes Ägyptologen. Seine Publikationen bieten bis heute eine unerschöpfliche Quelle an Informationen, da sie den Zustand antiker Stätten dokumentieren, die heute überbaut, beraubt, zerstört oder nicht mehr zugänglich sind. Gerade durch die Tatsache, dass Petrie stets darauf bedacht war, seine Grabungsergebnisse möglichst schnell zu publizieren, haben viele seiner Entdeckungen im Gedächtnis der Wissenschaft überdauert. Möglich wurde diese enorme Arbeitsleistung durch mehrere Faktoren. Zum einen war der Zugang zu den antiken Stätten Ägyptens zu Petries Zeit deutlich einfacher und auch die Vergabe der Ausgrabungskonzessionen durch den ägyptischen Antikendienst erfolgte deutlich großzügiger, da der Antikendienst unter einer englischen Verwaltung von Franzosen geleitet wurde. Auch das Phänomen der Fundteilung und die Ausfuhr von Antiquitäten aus Ägypten (beides ist heute nicht mehr existent bzw. verboten) haben es Petrie erleichtert, seine Ausgrabungen zu finanzieren und neue Geldgeber anzuwerben. Der Hauptgrund liegt jedoch vor allem in der erfolgreichen Personalpolitik, die Petrie bei all seinen Ausgrabungen betrieb. Hier ist einmal die langjährige Ausbildung und Arbeit mit den Bewohnern aus Quft zu nennen, den sogenannten Quftis, die automatisch die Methoden Petries übernahmen und diese auch auf anderen Grabungen, auf denen sie angestellt waren, anwendeten. Bis heute arbeiten zahlreiche Quftis sozusagen in Familientradition als Arbeiter auf ausländischen Grabungen, sodass mit Petrie eine inzwischen über 100-jährige Tradition ihren Anfang nahm. Die zweite personelle Maßnahme betrifft die Studenten Petries. Hier wählte er sorgfältig jene aus, die über das nötige Gespür und die körperliche Robustheit verfügten, um auf einer seiner Grabungen bestehen zu können. Die vielversprechendsten wurden von Petrie bald mit einer eigenen Grabungsleitung betraut und später auch an der wissenschaftlichen Publikation der Grabungsergebnisse beteiligt. Zu seinen Studenten zählten zahlreiche Größen der Ägyptologie, deren Namen bis heute unvergessen sind, wie Carter, Brunton, Engelbach, Francis L. Griffith42, Battiscombe Gunn43, Lawrence, Mackay, Murray, Percy Newberry44, James E. Quibell45, Starkey, Gerald Wainwright46 und zahlreiche weitere. Da seine Studenten in eigener Verantwortung und an eigenen Grabungsplätzen arbeiteten, verbreiteten sich auch hier Petries Methoden und wurden verfeinert. Für Petrie, der seine Position als Autodidakt erreichte, war dabei weniger der akademische Abschluss als vielmehr die mentale Eignung seiner Studenten wichtig. Dies prägte eine ganze Generation von Ägyptologen und so wirken seine Methoden und Ansichten, auch wenn sie heute teilweise überholt oder widerlegt sind, bis in die Gegenwart nach.
Ein gutes Beispiel für die Karriere eines Petrie-Schülers ist James Edward Quibell. Quibell war Jahrgang 1867 und studierte am Christ Church College in Oxford. Dort machte er die Bekanntschaft von Petrie, der von seiner Begeisterung und seinem Interesse am alten Ägypten so angetan war, dass er Quibell mit auf Ausgrabung nahm. Quibell arbeitete als Assistent auf einigen von Petries wichtigsten Grabungen, darunter Koptos, Nagada und Ballas. Später übertrug ihm Petrie eine eigene Grabungsleitung in Hierakonpolis, das heute als Kom el-Ahmar („roter Hügel“) bekannt ist und ca. 80 km südlich von Luxor liegt. Es ist zusammen mit der auf der anderen Nilseite gelegenen Stadt Elkab einer der frühesten Siedlungsorte der ägyptischen Geschichte. Hier konnten nicht nur frühdynastische Spuren wie in Abydos nachgewiesen werden – die bekannteste ist das aus ungebrannten Lehmziegeln errichtete „Fort des Chasechemui“ –, sondern auch einzigartige prädynastische Siedlungsreste. Quibells außergewöhnliche Ergebnisse veranlassten seinen Mentor zu folgender Äußerung:
Es ist in höchstem Maße wünschenswert, im Interesse der Wissenschaft und der Entdeckungen Herrn Quibells, der Öffentlichkeit das überaus wichtige Material, das auf diesen Tafeln gezeigt wird, nicht länger vorzuenthalten.47
Und dies kann nur unterstrichen werden, denn zu Quibells Funden gehören einige der wichtigsten Stücke altägyptischer Kunst: die Narmer-Palette48, der Keulenkopf des Königs Skorpion49 und der berühmte goldene Falkenkopf50, wahrscheinlich eine Darstellung des Gottes Horus. Quibell fand auch das berühmte Grab 100, bei dem es sich um das älteste mit Malerei dekorierte Grab Ägyptens handelt. Nach heutigen Erkenntnissen datiert es wohl um das Jahr 3300 v. Chr., in die sogenannte Nagada-II Zeit.
Bis heute haben die Funde von Quibells Grabung eine gewisse „wissenschaftliche Brisanz“. Zuletzt konnte bei Restaurierungsarbeiten der vergessene Körper des Falkenkopfes gefunden werden, der jedoch nicht aus Gold, sondern aus Ton ist. Auch neuere Grabungen zeigen, dass Hierakonpolis noch zahlreiche Überraschungen für die Archäologie bereithält: So konnte eine archäologische Unternehmung um Renée Friedman die älteste Palast- und Ritualanlage Ägyptens sowie Reste eines „vordynastischen Zoos“ nachweisen.51
Quibell leitete unter Petries Ägide außerdem die Arbeiten am Totentempel Ramses’ II. Auch privat profitierte er von den Bedingungen der Expeditionen Petries. Angeblich lernte er seine spätere Frau Annie Pirie näher kennen, als sich beide in den provisorisch errichteten Unterkünften in den Vorratsspeichern des Ramesseums von einer Lebensmittelvergiftung erholten.52
1899 wechselte Quibell in den Antikendienst. Hier wurde er zuerst Inspektor für die gesamte Deltaregion und das Gebiet von Mittelägypten. 1904 folgte die Beförderung zum Chefinspektor für die Region Luxor, bevor er schließlich 1905 die Aufsicht über die Region Sakkara erhielt. Zu seinen Entdeckungen gehörten in dieser Zeit die Grabanlage von Juja und Tuja, das spätantike Kloster des Jeremias, das Grab des Hesire sowie zahlreiche weitere frühdynastische Grabanlagen und Fundstätten. Wie Hilda Petrie begleitete auch Annie ihren Mann auf seinen Ausgrabungen und zeichnete für ihn.
Von 1914 bis 1923 arbeitete Quibell als leitender Kurator am Kairoer Museum, wo er vor allem in den Kriegsjahren maßgeblich das Museum und seine Ausstellung mitgestaltete. Bis 1925 versah er darüber hinaus den Posten des Generalsekretärs des Ägyptischen Antikendienstes. Obwohl sich Quibell anschließend in den Ruhestand versetzen ließ, arbeitete er zusammen mit Cecil Firth53 an der Stufenpyramide des Djoser und übernahm nach dessen überraschendem Tod die Grabung selbst.
Quibell verstarb im Alter von 68 Jahren, nachdem er zuvor noch Walter Emery54 als Nachfolger auf seiner Grabung eingewiesen hatte. Auch wenn der Bekanntheitsgrad James Quibells hinter dem seines Lehrers Petrie zurückbleibt, so sind seine archäologische Karriere, seine Leistungen und seine Funde außergewöhnlich, und er gehört zweifellos zu den größten Ägyptologen seiner Zeit.