PORTRÄT NR. 7:

Howard Carter – ein Archäologe neuer Schule

Howard Carter, der wohl bekannteste Ägyptologe der Welt, behauptete sein ganzes Leben lang, im Jahre 1873 geboren worden zu sein. Ein Fehler, den er schon früh in seiner Karriere und wohl ganz ohne Hintergedanken beging. Erst nach seinem Tod am 2. März 1939 entdeckte seine Nichte Phyllis Walker in der Geburtsurkunde ihres Onkels, dass er erst ein Jahr später, am 9. Mai 1874, im Stadthaus seiner Familie in Brompton in Kensington zur Welt kam.

Die Carters stammten aus Swaffham, einer kleinen Marktstadt in Norfolk. Der Ort hatte immer eine hohe emotionale Bedeutung für Carter. Die Carters von Swaffham waren für ihr künstlerisches Talent bekannt. Howards Vater, ein bekannter Maler und Zeichner, arbeitete teils in Swaffham, teils in London für die Illustrated London News und hatte sich vor allem als Tiermaler einen Namen gemacht.1 Dieses Talent ging auch auf seinen Sohn über.

Carter verbrachte er einen Großteil seiner Kindheit und Jugend in Swaffham; dort wuchs er bei seinen Tanten Kate und Fanny auf. Eigenen Angaben zufolge war er ein eher schwächliches Kind und konnte weder am regulären Schulleben noch an sportlichen Aktivitäten teilnehmen.2 Carter besuchte eine Dame School, eine Art rudimentärer Grundschule, wo er die Grundzüge des Lesens, Schreibens und Rechnens lernte. Briefe aus seinen frühen Jahren in Ägypten zeigen, dass er selbst als Teenager über kaum mehr als diese Grundausbildung verfügte. Carters Stärke waren das Malen und Zeichnen. In seiner Jugend begleitete er oft seinen Vater, wenn dieser Auftragsarbeiten in den umliegenden Herrenhäusern und Landsitzen erledigte. Das war die beste Schule für die Fähigkeiten, die ihm schon mit 15 Jahren den Lebensunterhalt sicherten und ihn letztlich nach Ägypten bringen sollten.

Einer der Orte, die Carter mit seinem Vater besuchte, war Didlington Hall, der Landsitz der Familie Tyssen-Amherst3. Didlington Hall verfügte über eine bedeutende Sammlung altägyptischer Relikte, von monumentalen Statuen über kleinere Plastiken und Kleinkunst bis hin zu Texten auf Papyrus. Das Interesse am pharaonischen Ägypten war in Didlington Hall sehr groß, und es ist kaum verwunderlich, dass Mitglieder der Familie ihren Teil zur Ägyptologie beigetragen haben.4 Ob Carter sich oft in Didlington Hall aufhielt, ist nicht bekannt. Später schrieb er aber, die Amherst-Sammlung habe seine Ägypten-Sehnsucht geweckt. Zumindest war er mit der Familie so gut bekannt, dass ihn Lady Amherst 1891 für Arbeiten in Ägypten empfahl. Es sollte sich als Wendepunkt in Carters Leben erweisen.

Lady Amherst unterstützte den Egypt Exploration Fund (EEF) und war mit dem Ägyptologen Percy Newberry bekannt, der die Ägyptische Sammlung oft besuchte. Newberry war für den EEF tätig und hatte zusammen mit dem Bauingenieur George Fraser5 den Auftrag, einen Survey in Beni Hassan6 und Deir el-Bersche7 durchzuführen. Sie sollten die vielen Altertümer und Stätten dokumentieren und so vor Verfall und Schaden durch Umwelt und Besucher retten. Alles Sichtbare sollte für die Wissenschaft aufgenommen, gezeichnet und beschrieben werden. Die Unternehmung startete 1890 und es wurde schnell klar, dass die viele Arbeit nicht in der geplanten Zeit zu bewältigen war. Verschiedene Spenden, unter anderem von Lady Amherst, ermöglichten die Einstellung weiterer Mitarbeiter. Und Lady Amherst war es auch, die den 17 Jahre alten Carter und seine zeichnerischen Fähigkeiten an Newberry empfahl. Doch bevor Carter die Unternehmung des EEF 1891 verstärken sollte, bekam er in Didlington Hall die Möglichkeit, sich mit der altägyptischen Kultur eingehend vertraut zu machen. Die Sammlung bot sicherlich einen guten Einstieg, um erste Erfahrungen als Zeichner altägyptischer Bilder zu sammeln. Aber Carter sollte die Pharaonen noch intensiver studieren und bekam im Sommer und im frühen Herbst 1891 die Chance, unter der Aufsicht von Francis L. Griffith die altägyptische Sammlung des British Museum so oft zu besuchen und dort so viele Stücke zu zeichnen, wie er wollte. Darüber hinaus sollte er auch die Reiseberichte und Zeichnungen des frühen 19. Jahrhunderts studieren, die im Magazin des Museum archiviert waren. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Aufzeichnungen Robert Hays. Carter studierte sie eingehend und kopierte sie. Hays Aufzeichnungen enthielten auch Szenen und Inschriften aus den Gräbern von Beni Hassan und Deir el-Bersche, wo Carter zunächst für den EEF arbeiten sollte.

Im Herbst 1891 verließ Carter erstmals seine Heimat. Mit dem Zug fuhr er von London an die Küste, überquerte den Kanal und reiste quer durch Europa nach Italien, wo er eine Schiffspassage nach Alexandria buchte. Carter hatte sich von einem angehenden Tiermaler zu einem archäologischen Zeichner mit Potenzial entwickelt. Durch die Anstellung beim EEF bekam er die Chance, das Leben eines Auftragskünstlers für eine komplett neue Welt zu verlassen. So mag er sich gefühlt haben, als er in Alexandria Newberry traf und den Orient betrat. In Kairo besuchte Carter das Museum und traf das erste Mal auf Petrie, der ein paar Tage in Kairo verbrachte, bevor er seine Arbeit in Amarna aufnahm. Er scheint auf Carter großen Eindruck gemacht zu haben. Zumindest beschrieb Carter das Aufeinandertreffen als „eines dieser beeindruckenden Ereignisse in seinen frühen Jahren“8. Für Carter war Petrie ein Mann, der das nötige Urteilsvermögen, genug Selbstvertrauen und die Kraft hatte, archäologische Fragen wirklich zu lösen. Und was Carter wohl am meisten beeindruckte, war, dass Petrie neben seinem großen und detailreichen Wissen vor allem ein Gespür für die feinen Künste hatte und sie schätzte.

Zusammen mit Newberry, Fraser und einem Zeichner namens Marcus W. Blackden9 ging es dann im Winter 1891/92 nach Beni Hassan und Deir el-Bersche. Carter fühlte sich wohl. Er empfand die Lebensumstände als durchaus komfortabel. Die Sicht, die man von den erhöht auf einer Terrasse liegenden Gräbern von Beni Hassan über den Nil und das umliegende Land hatte, beschrieb er als „glorious“ und die Darstellungen in den Gräbern als einzigartig. Ägypten faszinierte Carter immer mehr, nur Newberrys Methoden störten ihn.10 Der ungewöhnliche Szenenreichtum der Grabdarstellungen, die Farbenpracht, die Detailgenauigkeit, mit der die Ägypter das Dargestellte lebendig werden ließen, all das war für den Künstler Carter wichtig. All das sollte in irgendeiner Form dokumentiert werden. Aber so wie Newberry die Darstellungen aufnahm, war das in Carters Augen nicht mehr als ein bemühter Versuch. Newberrys Methode sah vor, die Darstellungen (egal ob Relief oder Malerei) mittels großer Papierrollen, die von der Grabdecke an den Wänden hinab aufgehängt wurden, möglichst akkurat zu kopieren. Die Kopien wurden dann aufgerollt und später in London mit Tinte nachgezeichnet. Aus Carters Sicht konnte jeder Künstler bessere Kopien erstellen, wenn er mit freier und verständiger Hand ein Faksimile anfertigte11, das auch die Farben berücksichtigte. Aber er war der Neue im Team und hatte die Aufgaben, die Newberry ihm auftrug, zu erfüllen. Und sein Chef war sehr zufrieden mit ihm, wie Briefe zwischen Newberry und Griffith nahelegen. Die Arbeit in Beni Hassan ging schneller voran als erwartet, und bald wechselte das Team nach Deir el-Bersche. Hier bekam Carter die Gelegenheit mehrere Darstellungen selbst zu kopieren, und wie die Publikationen zu den Gräbern zeigen, durfte er diese später in England höchstwahrscheinlich selbst mit Tinte nachzeichnen. Carters Arbeit hatte eine andere Qualität als Newberrys. Die Zeichnungen wirken, auch wenn sie noch weitgehend in Newberrys Stil gefertigt sind, viel detailreicher und originalgetreuer. Carter nutzte seine Chance und stellte seine Fähigkeiten unter Beweis. Er zeigte, dass er die Methode Newberrys verbessern konnte; dass seine Zeichnungen in den Publikationen genutzt wurden, zeigt einmal mehr, dass Newberry und Griffith Carters Arbeit schätzten.

Aber der Aufenthalt in Beni Hassan und Deir el-Bersche brachte auch die Schwierigkeiten zwischen den beteiligten Personen zutage. Fraser und Blackden hatten sich gegen Newberry verschworen und sahen in Carter seinen Schüler. Was der Anlass für diese Spannungen war, ist letztlich nicht zu klären. Womöglich waren die Charaktere einfach zu verschieden. Während der Arbeit in Deir el-Bersche besuchten Carter und Newberry mehrmals Petrie in Amarna. Bei ausgedehnten Wanderungen in die nähere Umgebung trafen sie am 21. Dezember 1891 auf drei Männer – Newberry beschrieb sie als Beduinen –, die ihnen von einem Grab in der Wüste erzählten, das Malereien, Statuen und Inschriften enthalte. Newberry vermutete, dass es sich um das lang gesuchte Grab des Echnaton handeln könnte, und beschloss, besagte Stelle in der Wüste zu besuchen. Zu seiner und Carters Enttäuschung fanden sie aber kein Grab, sondern nur einen Steinbruch. Immerhin entdeckten sie Inschriften, die viel älter waren als die Relikte in Amarna oder die Gräber in Deir el-Bersche. Das entschädigte für die anfängliche Enttäuschung. An eine nähere Untersuchung war aber zunächst nicht zu denken. Die Feiertage verbrachte Newberry in Minya in Gesellschaft eines Major Brown, während Carter mit Petrie feiern wollte. Zum Missfallen Newberrys waren auch Fraser und Blackden beim Major geladen. Während dieser Feiertage erfuhren Fraser und Blackden von Newberrys Entdeckung. Zwei Tage nach Weihnachten machten sie sich auf, die Stelle des Steinbruchs näher zu untersuchen, ohne Newberrys Wissen. Dank der Inschriften konnten sie den Steinbruch als Hatnub identifizieren. Sie proklamierten die Entdeckung für sich und sicherten sich die Publikationsrechte, die nach landläufiger Meinung Newberry und Carter zugestanden hätten. Das verschlechterte die Stimmung im Team deutlich, und Carter fand sich inmitten eines Streits wieder. Er fühlte sich natürlich Newberry verbunden. Später beschrieb er diesen Vorfall als Ereignis, das ein unangenehmes Gefühl in das Camp brachte, und Blackden und Fraser bezeichnete er aufgrund ihres unkollegialen Verhaltens als „dirty dogs“12.

Aber Carter sollte in dieser Zeit des Zwists die Möglichkeit bekommen, unabhängig von seinen Teamkollegen sich neuen archäologischen Herausforderungen zu stellen. Schon im Sommer 1891 bot Petrie dem EEF an, einen Lehrling in Amarna auszubilden, ein Angebot, dass für den EEF von größtem Wert war. Petrie galt als äußerst erfahrener und zukunftsweisender Archäologe, der schon früh verstanden hatte, was selbst heute noch keine allgemein akzeptierte Wahrheit ist: Ein guter Schreibtisch-Ägyptologe ist nicht zwingend ein guter Feldägyptologe. Umso mehr war es für die Vorsitzenden des EEF von Interesse, dass ein Mann wie Petrie die Ausbildung junger, aussichtreicher und vom EEF angestellter Archäologen übernahm. Zunächst wurde Blackden für diese Ausbildung vorgesehen. Er war zwar, genauso wie Carter, nicht als Archäologe, sondern als Zeichner angestellt, aber die Fähigkeit zu zeichnen und die entsprechende Beobachtungsgabe sind auch heute noch bei Grabungen von Vorteil. Blackdens Verbindung mit Fraser und beider Verhalten gegenüber Newberry ließen jedoch seine Chancen auf eine Ausbildung bei Petrie sinken. Außerdem zeigte sich Blackden unentschlossen: Er wusste nicht, wie sehr er die Arbeit in Deir el-Bersche für Petries Unternehmung vernachlässigen durfte. Dies brachte Carter auf den Plan, der ja öfter mit Newberry bei Petrie zu Besuch gewesen war. Zeitgleich bot Lord Amherst über Newberry Petrie seine finanzielle Unterstützung und Partnerschaft für die Arbeit in Amarna an. Im Gegenzug wollte er ein paar Funde für seine Sammlung. Petrie willigte ein und stellte ein Grabungsareal zur Verfügung, auf dem sein neuer Lehrling für Lord Amherst und unter seiner Aufsicht arbeiten konnte. Diese Rolle kam nun Carter zu, und auch wenn Petrie zunächst nicht sehr zufrieden mit der Wahl seines Schülers war, kam die Wahl Lord Amherst natürlich sehr entgegen. Er sah in Carter einen loyalen Repräsentanten seiner Anliegen.

Am 2. Januar 1892 begann also Carter für Lord Amherst bei Petrie zu arbeiten. Nach einer Woche Einführung wurde er sich selbst überlassen, sozusagen „ins kalte Wasser geschubst“. Petrie erwartete, dass Carter ganz selbstständig mit seinem Areal vorankam. Mit der Zeit schien Petrie die Qualitäten Carters immer mehr zu schätzen. Ende Januar schrieb er in sein Tagebuch, dass Arbeiter ihm einen Gipskopf des Königs Echnaton gebracht hätten, der nicht gezielt beim Graben, sondern „einfach so“ gefunden worden sei. Das Objekt beschäftigte ihn so sehr, dass er Carter rief, um mit ihm den Fund zu besprechen. Ganz offensichtlich betrachtete Petrie Carters Kenntnisse in der bildenden Kunst als so wertvoll, dass er sie zurate zog.

Die Funde in Amarna beschränkten sich auf Keramik, Reste von Glasherstellung und einige Statuen, die in die Amherst-Sammlungen wanderten. Aber Carter fand Gefallen an der archäologischen Arbeit und profitierte enorm von Petries Erfahrung und Rat. Zusammen unternahmen sie regelmäßig Wanderungen in der Umgebung, um die Grenzstelen zu identifizieren und die vielen Grabanlagen zu sichten. Petrie gab seinem jungen Kollegen die Verantwortung über einen Survey, der das Straßennetz von Amarna klärte, und er ließ ihn Zeichnungen von Echnatons Grab anfertigen, die im Vergleich zu den älteren ägyptologischen Dokumenten vorbildlich waren. Carter lernte viel in dieser Zeit; später schrieb er:

Ich glaube, während dieser Monate harter Arbeit verlieh mir Petries Training immer mehr das Naturell eines Forschers – systematisch zu graben und zu untersuchen.13

Anfang Mai 1892 erreichte Carter eine traurige Nachricht: Sein Vater war im Alter von 57 Jahren verstorben. Die Saison in Amarna näherte sich dem Ende, Zeichnungen wurden fertiggestellt, Objekte dokumentiert und Kisten für den Fundtransport gebaut. In den letzten Maitagen schickte Petrie dann 150 Kisten mit Funden aller Art nach Kairo. Carter und Petrie folgten. Als sie in Kairo ankamen, erreichte Carter ein Brief von Newberry. Er wollte Carter für die kommende Wintersaison 1892/93 wieder in seinem Team haben. Fraser und Blackden wurden entlassen, um einen reibungslosen Fortgang zu gewährleisten. Carter wurde also erneut durch den EEF angestellt. Nach den Trainingsmonaten bei Petrie mag die Arbeit unter Newberry eher langweilig gewesen sein, aber so blieb Carter zumindest in Kontakt mit dem EEF und konnte weiter in Ägypten arbeiten.

Im Dezember 1892 kehrten Newberry und Carter mit einem neuen Team nach Mittelägypten zurück. Erst wollten sie die zeichnerische Aufnahme der Gräber von Deir el-Bersche fortführen und dann nach Amarna gehen, um dort die Grabmalereien und Inschriften zu dokumentieren. Darauf sollten weitere Nekropolen im Süden folgen. Ein sportliches Unterfangen für eine Saison. Das Team wurde von Newberrys Bruder John unterstützt, einem Architekten, der nach drei Wochen weiter im Süden in Deir el-Bahari die neue Ausgrabung des EEF unter der Leitung von Edouard Naville verstärken sollte. Als das Team in Kairo ankam und seine Grabungsgenehmigung abholen wollte, war der damals neu eingesetzte Generaldirektor des Antikendienstes Jaques de Morgan bei einer Inspektion in Assuan. Newberry schrieb ihm die geplanten Arbeitsabsichten, und das Team brach nach Mittelägypten auf. Nachdem sie in Beni Hassan und Deir el-Bersche farbige Faksimiles von Details der Grabwandszenen angefertigt hatten, ging es weiter nach Amarna. Am 25. Januar 1893 begannen Newberry und Carter die Gräber der Beamten zu vermessen und zu zeichnen. Drei Tage später kam de Morgans Antwort. Der Antikendienst versagte Newberry die Genehmigung für Amarna. Newberry reiste umgehend nach Kairo, um die Situation zu klären, da sein Team bereits einen guten Teil der Inschriften und Szenen kopiert hatte. Er hoffte, de Morgan umstimmen zu können.

Auf seiner Reise erreichte ihn ein Brief des Schatzmeisters des EEF: Carter solle sich umgehend nach Kairo begeben, um bei Tell Timai einem Mann namens Guthrie Roger zur Seite zu stehen. Roger war nach Ägypten gesandt worden, um im Auftrag des EEF und des Papyrologen Arthur Hunt14 die sogenannte „Mendes-Bibliothek“ zu finden: unterirdische Kammern, gefüllt mit Papyri, die bereits Naville entdeckt, aber nicht untersucht hatte. Carter sollte ihn mit seiner archäologischen Erfahrung unterstützen. Also begab sich Carter Anfang Februar 1893 nach Kairo, um mit Roger die nötigen Vorbereitungen für ihre Delta-Unternehmung zu treffen. Die ganze Sache war überstürzt, und der EEF hatte kaum verwertbare Informationen gesandt. Carter und Roger reisten ins Delta und suchten nach den von Naville beschriebenen unterirdischen Kammern. Nur konnten sie sie nicht finden. Hilfe kam von Petrie, der in einem Brief an Newberry die Lage der Kammern etwas genauer beschrieb. Mit Hilfe dieser Informationen konnte Carter am 10. Februar 1893 vermelden, dass er drei oder vier vielversprechende Orte gefunden habe und dass jeder mindestens zwei Monate lang untersucht werden müsse. Wie auch immer die Suche weiterging, am 1. März 1893 schrieb Carter, er habe die Kammern gefunden und sie seien aussichtsreich. Nur fehlte ihm bislang eine offizielle Genehmigung, sodass der ortansässige Scheich jegliche weitere Arbeit untersagte. Immer wieder schrieb Carter dem EEF, um daran zu erinnern, dass sie immer noch keine Genehmigung hatten und die Arbeit still stand. Carter selbst hatte nicht den nötigen Einfluss, um eigenhändig eine Genehmigung zu beantragen, und die Bürokratie des EEF war zu schwerfällig, um schnell Abhilfe zu verschaffen. Unterdessen beschwerte sich Newberry, ihm fehle ein wichtiger Mitarbeiter und die Arbeit in Mittelägypten komme ebenfalls nicht voran. Tell Timai entpuppte sich immer mehr als Verschwendung von Zeit und Geld, und Carter war das unzufriedene Opfer. Am 9. April 1893 schrieb Newberry an den EEF, dass er Carter wieder dringend in Deir el-Bersche brauche. Er berichtete, Carter besitze immer noch keine Genehmigung und sitze in Tell Timai untätig und unzufrieden die Zeit ab. Newberry versprach, Carter wieder freizustellen, sobald die Genehmigung für Tell Timai käme.15 Das zeigte Wirkung: Am 13. April 1893 kehrten Newberry und Carter nach Mittelägypten zurück. Nachdem sie in den nächsten zwei Wochen Gräber in El-Scheich Said aufgenommen hatten, kehrte Newberry zurück nach England, während Carter nach Deir el-Bersche ging, um noch einige Farbfaksimiles für die bevorstehende Publikation anzufertigen. Newberry hatte mittlerweile genug Vertrauen in Carters Arbeit, um ihn mit dessen Aufgaben allein zu lassen. Die Genehmigung für Tell Timai kam nicht und sollte auch nie kommen.

Mai 1893 beendete Carter seine Arbeit in Deir el-Bersche. Der EEF stellte ihn erneut für ein Jahr ein, immer noch als archäologischen Zeichner, obwohl seine Erfahrungen mit Petrie und seine fruchtlosen Aufgaben in Tell Timai keinen Zweifel an seinen Fähigkeiten als Archäologe ließen. Über den Sommer sollten die Publikationen für Beni Hassan und Deir el-Bersche fertiggestellt werden, doch dann stellte sich heraus, dass Newberrys Arbeit die Mittel des EEF überbeanspruchen würde und die Spenden unter den Erwartungen geblieben waren. Newberry musste pausieren, und es wäre das frühe Ende von Carters Karriere gewesen, hätte der EEF nicht die Grabung in Deir el-Bahari am großen Terrassentempel der Hatschepsut begonnen. Dort war Platz für einen weiteren Zeichner, und Carter hatte beste Referenzen.

Carter nahm also im Dezember 1893 seine Arbeit als Zeichner in Deir el-Bahari auf und wurde Teil von Navilles Team. Zu dieser Zeit waren dessen Arbeitsmethoden nicht unumstritten. Vor allem Petrie kritisierte Navilles Vorgehen und nannte ihn einen „site-cleaner“, der nur darauf bedacht sei, beschriftete Bauwerke aus dem Schutt zu bergen, ohne den feinen archäologischen Details genügenden Wert beizumessen.16 Carter, der durch die Petrie-Schule gegangen war, dürfte Navilles Methoden ebenfalls kritisch gesehen haben. Aber er war als Zeichner angestellt und nicht als Ausgräber – und er war gerade einmal 19 Jahre alt.

Zu dieser Zeit glich Deir el-Bahari einer riesigen Schutthalde, sodass Naville für das Wegräumen von Schutt, Geröll und Sand zunächst drei Kampagnen plante. Die zeichnerische Aufnahme der Tempeldekoration konnte beginnen, sobald erste Tempelwände freigelegt waren, was im Dezember 1893 der Fall war. Naville überließ Carter die zeichnerische Aufnahme der Tempeldekoration. Carter schreibt, er habe viele Versuche und Hilfsmittel ausprobiert, um herauszufinden, wie die Reliefs und Inschriften am besten und akkuratesten kopiert werden könnten. Letztlich lieferten er und seine Zeichner eine hervorragende Arbeit ab, die noch lange als Meisterstück galt. Carter bekam in Deir el-Bahari die Chance, eine eigene Methode archäologisch-zeichnerischer Aufnahmen zu entwickeln und zu verwirklichen. Das Ergebnis aller Kampagnen wirkt insgesamt sehr homogen, egal von wem die einzelnen Zeichnungen stammen. Sie tragen alle Carters Handschrift.

Carter übernahm unter Naville zahlreiche Aufgaben. Neben dem Zeichnen überwachte er gelegentlich die Arbeiter beim Wegschaffen des Schutts und er wurde der Fotograf des Teams. Wo er seine Kenntnisse in der Fotografie erworben hatte, ist nicht bekannt. Aber seine Bilder sind von guter Qualität und dokumentieren Details in der Wanddekoration und den Arbeitsfortschritt. Carter half bei der Sichtung der aus dem Schutt geborgenen Wandfragmente. Um sie zu zeichnen, fügte man sie wieder in ihre Originalposition in den Tempelwänden ein. Carter gewann immer mehr archäologische Erfahrung, auch wenn seine Hauptbetätigung die zeichnerische Aufnahme blieb. Die Fertigstellung der Zeichnungen ging Naville zu langsam voran, daher bat er den EEF um die Entsendung eines weiteren Künstlers. Carter schlug seinen älteren Bruder Vernet vor, der im Februar 1894 nach Ägypten reiste, um Carter zu unterstützen. Es dauert nicht lange bis Naville von den Fähigkeiten der Brüder überzeugt war. Er schrieb in einem Brief:

Mr. Verney [sic!] Carter begann sofort zu arbeiten. Er zeichnet so gut wie sein Bruder, für Hieroglyphen-Zeichnungen in Farbe und in Schwarz sind sie ganz sicher Künstler ersten Ranges, und ich glaube, dass die Tafeln, die aus ihren Kopien angefertigt werden, einen sehr guten Eindruck von der Schönheit der Arbeit vermitteln werden.17

Die Ausgrabung endete Mitte März, aber die Carters arbeiteten bis Ende April weiter, um möglichst viel aufnehmen zu können. Die Hitze dieser letzten Wochen machte Vernet Carter sehr zu schaffen, sodass für die folgende Winterkampagne 1894/95 ein neuer Zeichner namens Percy Brown angestellt wurde.

In der Kampagne 1895/96 konnte Naville die Aufräumarbeiten abschließen. Über die Jahre hatte sich das Tal von Deir el-Bahari verwandelt und es war zu einem attraktiven Anziehungspunkt für die Touristen dieser Zeit geworden. Carter war noch bis 1899 mit der Aufnahme der Tempelreliefs und Inschriften beschäftigt. Seine Assistenten wechselten regelmäßig, aber dank seiner Brüder Vernet und William und seiner Schwester Amy Carter, die gute Verbindungen zur Londoner Künstlerszene hatten, fand Carter in den Sommern zwischen den Kampagnen vielversprechende Talente für seine Arbeit in Deir el-Bahari. In den Wintern 1895/96 und 1896/97 wurde er zusätzlich durch die Petrie-Schülerin Rosalind Paget18 unterstützt. Sie sollte vor allem farbige Faksimiles von Hieroglyphen und anderen Details anfertigen. Die ganze zeichnerische Leistung wurde bis 1908 in sechs Bänden veröffentlicht.

Mit den Jahren entwickelte sich Carter in nahezu allen Belangen immer mehr zu Navilles Stellvertreter und wurde mit diversen baulichen und technischen Problemen betraut. Naville äußerte sich ausnahmslos positiv über Carters Arbeit. Carters Erfolge blieben auch vom EEF nicht unbeachtet, der nun jährlich sein Gehalt anhob. Einer seiner frühen Kollegen in Deir el-Bahari, John Newberry19, beschrieb Carter anfänglich noch als jung und gesellschaftlich unerfahren, als einen Mann, der geistesabwesend sein Whiskyglas randvoll füllte, dann lachte, um Verzeihung bat und versuchte, den Whisky zurück in die Flasche zu füllen, wobei er einen guten Teil vergoss.20 Aber über die Jahre wurde er reifer und erwachsener und entwickelte sich zu einem hervorragenden Archäologen mit vielen Qualitäten.

Ende 1899 schrieb Carter ein Telegramm an den EEF mit der Bitte, seine Kündigung zu akzeptieren. Der Antikendienst (seit Herbst 1899 wieder unter der Leitung von Gaston Maspero) hatte beschlossen, Carter als Chefinspektor für Oberägypten anzustellen. Die Aufgaben des Inspektorats waren der Schutz und die Erhaltung der altägyptischen Monumente, das Durchführen von Grabungen des Antikendienstes und die Überwachung der archäologischen Unternehmungen anderer. Der EEF kam Carters Bitte nach und stellte ihn zum 1. Januar 1900 frei. Für manche akademisch ausgebildeten Ägyptologen mag die Berufung Carters unverständlich gewesen sein, aber seine gute Leistung unter Naville hatte ihm diese Stelle eingebracht. Naville sah in ihm einen verlässlichen Stellvertreter, der feldarchäologisch versiert war, Arabisch sprach, mit den ägyptischen Arbeitern umzugehen wusste und Erfahrung mit Problemen der Architektur, der Technik und anderer Bereiche hatte. Carter war bestens gerüstet für die neue Stelle, und Maspero und Naville waren gute Freunde. Chefinspektor für Unterägypten wurde Quibell, der sich ob der Wahl Carters überrascht zeigte; er hätte eher Newberry auf dem Posten erwartet.21

Als neuer Chefinspektor von Oberägypten begann Carter mit der Begutachtung der thebanischen Nekropole. Er wollte ein System zu ihrem Schutz entwickeln, und der erste Schritt war das Anbringen von Türen in Grab- oder Kapelleneingängen. Die Arbeit ging nur schleppend voran, und beim Antikendienst war das Geld knapp. Doch Carter besaß einen gewissen gesellschaftlichen Charme, der immer wieder größere und kleinere Spenden von Besuchern zur Folge hatte, die er umgehend in sein Projekt investierte. Zunächst versuchte er es mit Holztüren; es zeigte sich aber, dass Holz keine Grabräuber abhalten konnte. Doch auch die später eingebauten Eisentüren halfen nur bedingt, wenn die Diebe wirklich ambitioniert waren. Gerade in der thebanischen Nekropole und vor allem im Tal der Könige musste man mit Grabplünderungen rechnen. Der Antikenmarkt florierte und bediente die große Nachfrage nach altägyptischen Antiquitäten europäischer und amerikanischer Reisender. Es gehörte zu den Aufgaben eines Chefinspektors, besonders gefährdete Orte zu überwachen, Diebe, wenn sie identifiziert werden konnten, vor Gericht zu bringen und gestohlene Gegenstände sicherzustellen. Carter war in diesen Dingen sehr gewissenhaft und erfolgreich. Ein Fall jedoch machte ihm wirklich zu schaffen.

1898 war das Grab Amenophis’ II. gefunden worden, das neben der unversehrten Mumie des Königs, die in einem Quarzit-Sarkophag ruhte, auch weitere Mumien und einige Grabbeigaben enthielt. Zu Beginn seiner Amtszeit im Jahr 1900 ließ Maspero mit Carters Hilfe die im Grab verbliebenen königlichen Mumien (abgesehen von Amenophis II.) nach Kairo schaffen. Dann wurde ein Eisentor in den Grabeingang gebaut, und Wächter bewachten das Tal der Könige rund um die Uhr. Trotzdem wurde das Grab am 24. November 1901 beraubt. Carters Untersuchung des Falls blieb erfolglos, obwohl er von den ortansässigen Autoritäten und der Polizei unterstützt wurde. Es schien, als seien die Wächter im Tal überrumpelt worden. Dann hatten die Diebe das Grab aufgebrochen, ein Modellboot gestohlen und die königliche Mumie fachmännisch aufgeschnitten: Sie hatten genau gewusst, wo sie wertvolle Objekte finden würden. Carter hatte die Vermutung, dass die Familie Abd er-Rasul, eine lang zurückreichende Grabräuberdynastie aus dem nahen Dorf Gurna, hinter dem Coup steckte. Alle Verhöre und Durchsuchungen brachten jedoch kein Ergebnis. Für Carter hatte der Fall einen schalen Beigeschmack. Er vermutete, dass die Wächter im Tal in alles eingeweiht gewesen waren. Es war schon einige Zeit vergangen, als Carter das vermisste Modellboot in einer Glasvitrine im Kairoer Museum entdeckte – es musste über einen Antikenhändler an das Museum verkauft worden sein. Carter folgte der Spur und fand heraus, dass das Oberhaupt der besagten Familie, Mohammed Abd er-Rasul, das Boot an einen Hehler in Giza verkauft hatte.22 Er hatte mit seiner Vermutung Recht gehabt.

Solche Erfolge gegen den Antikenhandel bescherten Carter indes nicht nur Freunde. Der bekannte und gut vernetzte Antikenhändler Jan H. Insinger23 ließ in einer Alexandriner Zeitung einen Brief veröffentlichen – eine Attacke gegen Carter und die aus seiner Sicht überhandnehmende Anstellung von Briten im Antikendienst, die im Kampf um die besten Antiquitäten immer mehr eine Monopolstellung innehätten. Eine solche Reaktion auf Carters Arbeit als Chefinspektor kann man nur auf seinen Erfolg gegen die Grabplünderungen zurückführen.

Auch wenn Carter immer wieder Inspektionsreisen in den Süden unternahm, so konzentrierte sich seine Hauptarbeit doch auf die Region Theben. Hier fanden die meisten zu beaufsichtigenden Grabungen statt. Genehmigungen mussten eingehalten und die Fundteilung überwacht werden. Im Rest der von Carter kontrollierten Region wurde kaum gearbeitet. Ein weiteres bedeutendes Projekt neben den Eisentüren war das Installieren von Licht in mehreren Gräbern im Tal der Könige. Die vielen von den Besuchern bei der Besichtigung der Gräber benutzten Fackeln, Kerzen und Magnesiumfackeln hinterließen Spuren an den Wänden, die inzwischen die Reliefs und Malereien überdeckten. Hier konnte nur elektrisches Licht helfen. Carters Generator steht bis heute im unvollendeten Grab Ramses’ X. Die viele Arbeit im Tal der Könige ermöglichte Carter, das Tal und die Gräber eingehend kennen zu lernen, ein Vorteil, der ihm später noch nützen würde.

Als Chefinspektor konnte er eigene Grabungen durchführen. Bereits 1898 war Carter während seiner Beschäftigung bei Navilles Deir el-Bahari-Projekt auf etwas gestoßen, das damals sein Interesse erregt hatte: Ein Sturm mit heftigem Regen hatte Spuren am Tempel der Hatschepsut hinterlassen; Carter war mit einem Kollegen per Pferd unterwegs, um die umliegende Gegend auf weitere Schäden zu prüfen. Bei ihrer Rückkehr zum Grabungshaus stolperte Carters Pferd auf der Ebene vor dem Hatschepsut-Tempel und stürzte mitsamt Reiter. Ursache war ein kleines Loch im Boden, das Spuren von darunterliegendem Steinwerk aufwies. Carter schloss sofort, dass sich hier ein Grab befinden musste. Er berichtete Naville und dem EEF von dem Fund, in der Hoffnung, man würde dort graben, aber der Ort lag außerhalb des für Naville genehmigten Areals. Jetzt, im Jahr 1900, war er als Chefinspektor endlich in der Lage, der Sache nachzugehen. Finanziert von einem unbekannten Spender, begann Carter am Bab el Hosan („Tor des Pferdes“) umfangreiche Ausgrabungen – es war die erste Grabung, die er selbst organisierte und leitete. Er stieß auf einen gewaltigen künstlich angelegten Graben, der nach 17 Metern einen versiegelten Eingang aufwies. Dies ließ zunächst auf ein nicht beraubtes Grab schließen, doch dahinter fand Carter nur einen weiteren 150 Meter langen Gang, der abwärts in eine große Kammer führte. Dort befanden sich eine komplett in Leinen gewickelte Statue, ein beschrifteter hölzerner Sarg und einige Töpfe mit den Resten von Lebensmittelbeigaben. Ein von dort senkrecht hinabführender Schacht war bis oben hin mit Schutt gefüllt. Carter vermutete hier den Zugang zur eigentlichen Grabkammer. Er ließ seine Arbeiter mit der Räumung beginnen, stoppte aber die Arbeiten am 20. April 1900, um erst in der Wintersaison fortzufahren. Am 31. Dezember 1900 erreichte sein Team eine Kammer am Ende des 30 Meter tiefen Schachts, aber sie fanden nur drei grob geschnitzte Boote und wenige Töpfe vor. Letztlich konnte immerhin in einem anderen, deutlich kürzeren Schacht eine kleine Truhe geborgen werden, in der eine weitere kleine Kiste ruhte, deren Inschriften den Eigentümer dieser Grabanlage auswies: Es war der Pharao Mentuhotep II. aus der 11. Dynastie, der 500 Jahre vor Hatschepsut in Deir el-Bahari seinen Totentempel errichten ließ. Entsprechend konnte auch die in Leinen gewickelte Statue24 zugewiesen werden, die heute zu den Highlights der pharaonischen Plastik zählt.

In seiner Zeit als Chefinspektor war Carter maßgeblich daran beteiligt, dass der reiche amerikanische Reisende Theodore M. Davis25 eine Grabungskonzession für das Tal der Könige erwarb. Carter war zeitweise Teil von Davis’ Team (bis 1904) und die Arbeiten förderten über mehrere Kampagnen so viele Grabanlagen zutage wie keine andere Mission zuvor, darunter das Grab der Hatschepsut und das Grab Thutmosis’ IV. In dieser Zeit sprach Carter in einem Brief an Lady Amherst (18. April 1904) auch erstmals davon, dass er im Auftrag Lord Amhersts nach dem Grab Amenophis’ I. suchen würde, wenn das im Sinne des Lords wäre26 – ein Ziel, das ihn noch lange beschäftigen sollte. Im Jahr 1904 blieb seine Suche danach erfolglos.

Im Herbst desselben Jahres wurde Carter nach Kairo versetzt. Er und Quibell tauschten die Posten. Maspero hatte diesen Stellentausch schon für 1903 geplant, aber Carter hatte in Theben zuvor noch einige Projekte abschließen wollen. Immerhin hatte er hier die letzten 11 Jahre gearbeitet. Carter kannte Luxor und Theben-West gut. Er hatte hervorragende Beziehungen zu den Einheimischen und den gut betuchten Reisenden, die jedes Jahr an den Ufern des Nils vor Anker gingen. Er kannte die Antikenhändler und die Grabungsmissionen. Er war sozusagen in Theben-West zu Hause. Und trotzdem schreibt er selbst, dass ihm der Wechsel willkommen war. Nach so langer Zeit war Carter etwas „Theben-müde“.

Er verließ also Luxor Ende des Jahres 1904 Richtung Kairo. Doch dort erwartete ihn gleich zu Beginn des neuen Jahres ein folgenschwerer Zwischenfall, die sogenannte Saqqara affair. Am 8. Januar 1905 besuchte eine französische Reisegruppe die Monumente von Sakkara. Der Besuch endete in einer Schlägerei, die wohl der Auslöser dafür war, dass Carter noch im selben Jahr seinen Dienst quittierte. Es gibt verschiedene Berichte über den Vorfall, die die Sicht beider Seiten wiedergeben. Carter gab seinem Chef Maspero gegenüber Folgendes an: 15 streitlustige französische Männer kamen nach Sakkara, und einige von ihnen begaben sich zum Grabungscamp von Petries Frau, die unabhängig von Carter von einer Gruppe ungehobelter Franzosen berichtete, die sie bedrohten. Die Gruppe zog aber kurz darauf zum resthouse weiter. Dort hielten sie sich eine Weile auf und tranken. Dann wünschten sie die Monumente zu sehen und wurden gebeten, die entsprechenden Eintrittsgelder zu entrichten. Nicht alle waren bereit, zu zahlen. Anschließend machte sich die Gruppe mit einem Wächter zum Serapeum auf. Der Wächter verlangte die Eintrittskarten und wollte nur diejenigen einlassen, die auch welche besaßen. Aufgebracht versuchte sich die französische Gruppe mit Gewalt Zutritt zu verschaffen und brach eine der Halterungen auf, die das Vorhängeschloss der Zugangstür hielt. Als sie das Serapeum betraten, fanden sie sich in vollkommener Dunkelheit wieder und verlangten vom Wächter Kerzen. Der aber entgegnete, er hätte keine, und der Antikendienst statte Touristen generell nicht mit Kerzen aus. Die Gruppe ging den Wächter hart an und verlangte ihr Geld zurück. Dem Wächter eilten ein ägyptischer Inspektor und ein Reis zu Hilfe, die ebenfalls hart angegangen wurden. Daraufhin kehrte die Gruppe unter Begleitung der Ägypter zum resthouse zurück und man rief den Chefinspektor. Carter kam sofort. Mittlerweile hatten die Franzosen die Wächter aus dem Resthouse gedrängt, die Türen verbarrikadiert und zwangen den Inspektor, ihnen ihr Geld zurückzugeben. Carter versuchte mit der Gruppe zu sprechen, die seiner Aussage nach sehr unfreundlich und rüpelhaft auftrat. Ohne eine Erklärung für den Vorfall zu bekommen, befragte er den Inspektor, der ihm alles schilderte. Daraufhin ermahnte Carter die Franzosen, sie hätten keinerlei Recht, sich so gegenüber seinen Männern zu verhalten und sich überhaupt im resthouse aufzuhalten. Sollten sie nicht umgehend das Haus verlassen, sähe er sich genötigt, sie hinauswerfen zu lassen. Er fragte nach ihren Namen und Adressen. Die Franzosen weigerten sich, seinen Forderungen nachzukommen. Carter verwarnte sie ein weiteres Mal und befahl seinen Wächtern, die Gruppe hinauszukomplimentieren. Da schlug einer der Franzosen einen Wächter mit der Faust nieder. Carter ging dazwischen und wurde ebenfalls mit der Faust bedroht. Er befahl dem Reis, mit weiteren Leuten einzugreifen. Als die Franzosen begannen, mit Stühlen des Antikendienstes auf die Wächter einzuschlagen, erlaubte Carter seinen Leuten, sich zu verteidigen. Eine Prügelei entbrannte, bei der einige der Franzosen verwundet wurden. Einer ging nieder und die Gruppe floh aus dem Haus. Carter packte den niedergeschlagenen Franzosen. Ein anderer kehrte zurück, um seinem Freund zu Hilfe zu eilen. Steine wurden auf das Haus geworfen. Carter ließ sich von beiden Franzosen die Namen geben und nannte ihnen den seinen und seine Position. Daraufhin verließen die beiden Franzosen unter Drohgebärden das Haus. Carter sandte sofort Männer aus, um die Polizei und die entsprechenden Würdenträger der Umgebung zu informieren. Dann verblieben er und seine Männer bis zum Eintreffen der Polizei im Haus, um nicht mit der französischen Gruppe, die draußen wartete, ein weiteres Mal aneinanderzugeraten. Die französischen Reisenden indes stellten den Vorfall in der französischsprachigen Zeitung L’Égypte etwas anders da: Sie hätten zu Recht ihr Geld zurückgefordert und seien von Carter und seinen Männern grundlos verprügelt und so um ihr Recht gebracht worden.

Der Fall zog aufgrund des großen öffentlichen Interesses und der Zeitungen immer größere Kreise und wurde schnell zu einem Politikum, das die stetig schwelenden Probleme und Vorurteile zwischen französischen und britischen Kreisen in Ägypten hochkochen ließ. Die Entente cordiale, das Abkommen zwischen den Kolonialmächten Frankreich und England, das die Interessenskonflikte in Afrika lösen sollte, war noch nicht einmal ein Jahr alt. Entsprechend fürchtete der britische Generalkonsul Lord Cromer, dass dieser Vorfall mehr aufs Spiel setzten könnte, als er wert war. Er musste seinem französischen Kollegen Monsieur de la Boulinière irgendeine Form der Wiedergutmachung anbieten. Es wurde eine Kommission einberufen, die den Vorfall näher untersuchen sollte. Über zwei Tage hörte man verschiedene Zeugen an: fünf Männer der französischen Gruppe sowie Carter, den Reis und sechs seiner Wächter. Hier war nun eine gewisse Fähigkeit zur Diplomatie gefordert – etwas, das man Carter nie nachsagen konnte. Er war fest davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben. In einem Briefwechsel mit Maspero wird deutlich, dass der Generaldirektor des Antikendienstes hinter Carter stand. Es gab nur ein Problem: Carters Erlaubnis, dass sich seine Männer verteidigen durften. Im Ägypten des Jahres 1905 war kein Szenario vorstellbar, das einen Gewaltakt eines Ägypters gegen einen Europäer rechtfertigen würde. Carter sah sich trotz allem im Recht und er sprach davon, dass er seinen Dienst quittieren müsse, wenn die Franzosen nicht ihre rechtmäßige Strafe bekämen. Maspero hatte unterdessen mit dem französischen Generalkonsul gesprochen, und der Vorfall wäre in Vergessenheit geraten, wenn Carter sich bei de la Boulinière entschuldigt und sein Bedauern über den Vorfall ausgedrückt hätte. Carter hatte aber kein Gespür für die Feinheiten der Diplomatie. Er bestand auf seinem Recht und wäre nur bereit gewesen, um Entschuldigung zu bitten, wenn die Franzosen bestraft worden wären oder ihrerseits den Antikendienst um Entschuldigung gebeten hätten. Er lenkte auch nicht auf Anraten seiner Kollegen und Freunde ein, die ihn davor warnten, aufgrund dieses Vorfalls seine Karriere zu riskieren.

Carters Engstirnigkeit führte dazu, dass der Generaldirektor ihn erneut versetzen musste. Der Antikendienst konnte zwei weitere Chefinspektoren einstellen und die einzelnen zu kontrollierenden Gebiete verkleinern. Carter wurde ein neuer Posten im Delta mit Sitz in Tanta zugewiesen. Und wie Maspero in mehreren Briefen eindeutig klarmachte, war die Versetzung keine Reaktion auf Carters Verhalten in Sakkara, sondern auf sein Verhalten danach. Carter müsse dafür, dass er nicht eingelenkt habe, gerügt werden. Carter verstand die Welt nicht mehr. Es traf ihn hart, dass man ihm seine Qualität als Gentleman absprach.27 Er bat Maspero aufgrund der Anstrengungen der letzten Monate um Urlaub, was mitten in der Saison sehr ungewöhnlich war. Maspero gestattete die Auszeit. Vielleicht hatte er Angst, Carter könnte kündigen. Er bat ihn in England, fernab der Sakkara-Angelegenheit, die ganze Sache noch einmal zu überdenken. Maspero hoffte, Carter würde seine Haltung und Handlungen zumindest verstehen können. Daraufhin akzeptierte Carter Tanta, vielleicht weil Maspero immer hinter ihm stand, und ging am 8. März 1905 in das sogenannte „nördliche Inspektorat“. Seinen genehmigten Urlaub von drei Monaten trat er dann am 20. März an.

Am 5. Mai 1905 kehrte Carter früher als erwartet nach Ägypten zurück. Die Arbeit trieb ihn. Er wollte sein Inspektorat in Tanta vorbereiten. Carter, der die überwältigenden Monumente und die mondäne Gesellschaft von Luxor und Kairo gewohnt war, fand sich an einem Ort wieder, der vom Baumwollhandel bestimmt war. Die meisten Europäer waren Franzosen und man sprach Französisch. Die Monumente in seinem Inspektorat mussten gegen das, was er gewohnt war, dürftig erscheinen, und das Haus, das er sich als Büro und Wohnung mietete, ließ jegliche Annehmlichkeiten vermissen. Entsprechende Umbauten und Restaurierungsarbeiten konnte der Antikendienst nicht übernehmen. Carter ging es im Jahr 1905 nicht sonderlich gut. Die Ereignisse Anfang des Jahres, seine Maßregelung, seine Versetzung, all das hatte ihn wohl so sehr mitgenommen, dass er immer wieder krank wurde und Ruhephasen brauchte. Selbst der längere Urlaub im Frühjahr brachte keine wirkliche Besserung. Seine Vorgesetzten, die sich inständig Carters Energie und Erfolge aus seiner Zeit in Luxor auch für das Delta wünschten, machten sich Sorgen über seinen schlechten Allgemeinzustand, der sich bis Oktober nicht besserte. Kein Erfolg konnte ihn aus seiner depressiven Stimmung retten. Lediglich ein kurzer Aufenthalt auf Zypern scheint wieder ein wenig von seiner ehemaligen Begeisterung entfacht zu haben. Aber ein Brief an seine Mutter, den er am 6. Oktober aus Tanta abschickte und in dem er über seine Zeit auf Zypern berichtete, zeigt in einer kurzen Anmerkung, wie er seine Arbeit im Delta empfand: „came back to harness on Monday“28. Am 21. Oktober 1905 reichte Carter seine Kündigung beim Antikendienst ein. Maspero versuchte ihn, umzustimmen, zu halten, zumindest so lange, bis Carter einen neuen Posten gefunden hatte. Er hatte erkannt, dass sein bester Mann jegliche Motivation verloren hatte. Trotzdem hielt er an ihm fest, so gut es ging. Er schrieb dem Freund, wie ihn sein Ausscheiden nach den vielen Jahren der erfolgreichen Zusammenarbeit schmerzte; doch nichts konnte Carters Entschluss ändern. Am 4. Dezember 1905 schrieb die Egyptian Gazette, Carter habe sein Inspektorat beim Antikendienst gekündigt.

Carter zog nach Kairo und verbrachte dort den Winter in der Gesellschaft europäischer und amerikanischer Reisender. Er wollte zu seinen Wurzeln zurück und als freischaffender Zeichner und Maler arbeiten. Im Februar 1906 war er wieder in Luxor und begleitete Touristen als Führer und Dolmetscher. Viel hatte er nicht. Er konnte sich kein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung leisten und lebte zunächst zeitweise in Gurna bei einem Ägypter, der seinerzeit unter Carters Inspektorat in Luxor Scheich der Wächter im Tal der Könige gewesen war. In den Folgejahren konnte Carter auf verschiedenen Grabungen als Zeichner arbeiten und wurde dafür gut bezahlt. Meist arbeitete er für Davis, dessen Publikation zum Grab des Juja und der Tuja mehrere von Carter angefertigte Bildtafeln enthält. 1908 bezog er wieder seine alte Unterkunft in Theben-West, die er vom Antikendienst mietete.

Bereits seit 1905 bereiste der Earl of Carnarvon29 mit seiner Frau Ägypten. Ein vier Jahre zuvor in Deutschland erlittener Autounfall bereitete ihm Beschwerden, die er durch Kuraufenthalte am Nil zu erleichtern suchte. Bei diesen Aufenthalten wuchs in ihm der Wunsch, eine Grabungskonzession zu erwerben und nach Altertümern zu graben. Zu dieser Zeit war Arthur Weigall Chefinspektor in Luxor und nicht sonderlich begeistert von solchen „Amateurarchäologen“. Er wies Lord Carnarvon ein Areal zu, in dem der Neuling nicht „zu viel Schaden“ anrichten konnte.30 Zunächst bekam Lord Carnarvon einige Schutthalden in Gurna zugewiesen, daher bat er im darauffolgenden Jahr um die Konzession Dra Abu el-Naga, etwas nördlich von Gurna. Der Antikendienst erlaubte ihm dort zu arbeiten, ohne dass Weigall die Chance hatte, Einspruch zu erheben, woraufhin er die Arbeiten Lord Carnarvons in der thebanischen Nekropole in ein schlechtes Licht rückte. Aufgrund Weigalls Beschwerden musste Maspero eine Lösung für das „Problem Carnarvon“ finden, und er fand sie: Lord Carnarvon sollte ein erfahrener Archäologe zur Seite gestellt werden – Masperos einstiger Günstling Carter. Für Lord Carnarvon dürfte diese Lösung äußerst willkommen gewesen sein. Seine Unternehmungen bekamen dadurch wissenschaftliches Gewicht. Und Carter hatte wieder eine Perspektive in seiner eigentlichen Leidenschaft: der Archäologie.

So begann die folgenschwere Zusammenarbeit zwischen Carter und Lord Carnarvon, die im November 1922 mit der Entdeckung des Grabes des Tutanchamun, des bedeutendsten archäologischen Fundes des 20. Jahrhunderts, ihren Höhepunkt erreichen sollte. 1909 schrieb Maspero in einem Bericht der Arbeiten des Antikendienstes, Lord Carnarvon habe die Aufsicht über seine Unternehmung „unserem ehemaligen Inspektor Mr. Howard Carter anvertraut, über dessen zeitweilige Rückkehr zur archäologischen Arbeit wir froh sind“31.

Lord Carnarvon und Carter arbeiteten in einem Gebiet, das im Süden vom Asasif, dem zum Tempel der Hatschepsut führenden Tal, begrenzt wurde und entlang des Westgebirges nach Norden bis Dra Abu el-Naga führte. Trotz der Tatsache, dass dort in der Antike Gräber angelegt wurden, war das Areal nicht sehr beliebt. Die Bewohner der umliegenden Dörfer hatten es schon mehrfach durchsucht. Die Arbeit wurde 1912 in dem Buch Five Years’ Explorations at Thebes veröffentlicht. Die Publikation umfasst die Grabungskampagnen zwischen 1907 und 1911, die durchaus bedeutende Erkenntnisse für die Ägyptologie erbracht hatten. Carter hatte die Möglichkeit, seine Grabungsmethoden weiterzuentwickeln und die Standards der Zeit voranzutreiben. Lord Carnarvon und er legten besonderes Augenmerk auf ein behutsames Vorgehen. Sobald vielversprechende Entdeckungen gemacht wurden, reduzierten sie die Arbeiter auf die nötige Mindestzahl und machten sich selbst „die Finger schmutzig“ – so etwas war zu dieser Zeit eine echte Seltenheit. Carter hatte in Lord Carnarvon einen Finanzier gefunden, der nicht wie die anderen von den Suiten der Tophotels oder dem eigenen luxuriösen Nilschiff aus Anweisungen gab, sondern der mit auf der Fläche stand und, wo immer es nötig war und wie es seine Gesundheit zuließ, mit anpackte. Carter konnte diesen Mann respektieren und sie teilten eine Leidenschaft für Antiquitäten. Lord Carnarvon baute sich auch mit Hilfe Carters eine Sammlung für seinen Sitz Highclere Castle auf. Dafür war Carter der richtige Mann: In seiner Zeit als Chefinspektor Oberägyptens hatte er gute Beziehungen zu den Einheimischen geknüpft und einen tiefen Einblick in das Netz des Grabräuber und der Antikenhändler bekommen. Er kannte den Markt. Und jetzt war er nicht mehr für den Antikendienstes tätig; es stand ihm frei, den Markt und die Antikenhändler selbst zu frequentieren. Und er nutzte seine Kontakte, um an Informationen über „inoffizielle Funde“ zu kommen.

Die gemeinsame Arbeit zwischen Carter und Lord Carnarvon schien zukunftsträchtig und sollte sich mit wenigen Ausnahmen auf Theben-West konzentrieren. Carter baute sich mit der materiellen Unterstützung Lord Carnarvons ein neues Haus: Castle Carter II. Sein altes Haus bei Medinet Habu, dem Totentempel Ramses’ III., das er als Chefinspektor bewohnt hatte und nun vom Antikendienst mietete, Castle Carter I, war mehr und mehr zum Streitpunkt zwischen ihm und Weigall geworden; Carter und der Lord waren Weigall nach wie vor ein Dorn im Auge. Der Bau von Castle Carter II schaffte in dieser Sache ein wenig Entspannung. Es wurde 1911 auf einem Hügel nördlich von Dra Abu el-Naga, direkt am Ausgang eines Wadis errichtet, durch das man in das Tal der Könige kam. Carter hatte nun eine feste Basis in Theben-West und plante weitere Unternehmungen mit Lord Carnarvon. Zunächst versuchten die beiden eine Konzession für Dashur zu bekommen, aber Maspero verweigerte dies aufgrund eines alten Gesetztes: die Gräberfelder von Dashur, Sakkara und Abusir waren Unternehmungen des Antikendienstes vorbehalten. Daraufhin beantragten Carter und Lord Carnarvon eine Konzession im Delta, die die Reste der antiken Stadt Xois barg. Auch wenn die Arbeitsbedingungen im Delta schwer waren und man durchaus mit enttäuschenden Funde rechnen musste – Carter hatte dahingehend bereits Erfahrung –, sollte die Konzession dem Antikendienst zeigen, dass Lord Carnarvon vor allem aus wissenschaftlichem Interesse grub. Also beantragte Lord Carnarvon im Herbst 1911 die Konzession, aber die erste Kampagne im April war nur von kurzer Dauer. Die Arbeits- und Lebensumstände im Delta waren inakzeptabel, Ergebnisse und Dokumentation enttäuschend. Trotz dieser Erfahrung beantragten Carter und Lord Carnarvon für das Jahr 1913 eine weitere Konzession im Delta: Tell el-Balamun. Lord Carnarvon war dort wohl nur kurz anwesend. Carter vermutete an diesem Ort die in der Antike bedeutende Stadt Diospolis und wollte im Frühjahr 1913 einen ersten Grabungsversuch unternehmen, um mehr über den Ort herauszufinden. Sollten motivierende Funde ausbleiben, wollte er Ende Mai nach Luxor und im Juni nach England zurückkehren.32 Auch wenn Carter Ende Mai in einem Brief an Newberrys Frau von einer erfolgreichen Kampagne in Balamun berichtet – es konnte der antike Name der Stadt identifiziert und Schmuck gefunden werden –, kehrten Carter und Lord Carnarvon nicht mehr ins Delta zurück.

Den Sommer verbrachte Carter wie angekündigt in England, bis er gut gelaunt im Herbst nach Ägypten zurückkehrte. Die bevorstehende Grabungskampagne sollte wieder in Theben-West stattfinden. Er wollte sich endlich einer Sache widmen, die er schon seit 1903 im Hinterkopf gehabt hatte: dem Grab Amenophis’ I. Vor ihm hatten bereits andere behauptet, das Grab gefunden und identifiziert zu haben. Aber Carter war von ihren Berichten nicht überzeugt. Alles begann mit einem malerischen Abend im Jahr 1912: Er schrieb:

Ich gab mich selbst dem angenehmen Gefühl der Träumerei hin, während ich die Ruhe der Natur beobachtete. Es war einer dieser wunderbar warmen Abende, wenn sich alles zur Rast zu begeben scheint. Die untergehende Sonne goss ihre goldgelben Strahlen über die Landschaft. In der Ferne waren die Spitzen weißer Segel durch die Palmen inmitten eines Meers aus Grün zu sehen, wie sie den Fluss hinabglitten. Hinter dem fruchtbaren Tal ließ sich die arabische Wüste in ihren schillernden Schattierungen vermuten. Ihre fernen purpurnen Hügel, bekrönt von einer sanften goldenen Färbung, verschmolzen nach und nach mit der Umgebung. Der Abend ging schnell zu Ende. Langsam wurde man einer kühlen Brise gewahr, die von den Hügeln der lybischen Kette herunter kam; als sich in der Ferne, über den Wüstenrand zwischen meinem Haus und dem fruchtbaren Land, die Silhouette eines Mannes abzeichnete, der sich langsam näherte.33

Der Mann, der sich dort näherte, war Gad Hassan, ein Grabräuber und Nachbar Carters. Er brachte Carter einen Korb mit Alabastergefäßen, die die Namen Amenophis’ I. und seiner Mutter Ahmes-Nefertari trugen. Nachdem Carter die Funde gekauft hatte, konnte er Gad Hassan überreden, ihn zur Quelle dieser Funde zu bringen. Natürlich zahlte Carter dem Mann eine Kompensation dafür, dass er ihm das Grab zeigte. Am nächsten Tag führte Gad Hassan Carter zu einer Stelle, die in Richtung des Tals der Könige und über den Gipfel des Hügels von Dra Abu el-Naga hinweg lag. Dort war ein Loch – ein Schacht, der unter einem großen überhängenden Felsen in die Erde hinabführte. Am Nachmittag kehrte Carter mit ein paar Männern zurück und begann, die Stelle zu untersuchen. Sie fanden ein Grab mit einigen Kammern, die tief in den Fels geschlagen worden waren und in die frühe 18. Dynastie datiert werden konnten. Nur gab es kaum identifizierbare Funde. Trotzdem war die Räumung und Untersuchung einer solchen Grabanlage in Carters Augen immer lohnenswert. Also begannen er und Lord Carnarvon zwei Jahre später, im Frühjahr 1914, an dieser Stelle zu arbeiten. Die Arbeit begann Ende Februar und die Ergebnisse waren gering, aber aus Carters Sicht ausreichend, um die Anlage als Grab Amenophis’ I. zu rekonstruieren. Die Arbeit war also alles in allem „keine Zeitverschwendung“, wie Carter sich ausdrückte.34

Carters Objekt der Begierde war immer das Tal der Könige gewesen, das nach wie vor in der Hand von Davis war. Davis’ Kampagnen hatten zahlreiche Gräber hervorgebracht, darunter allein neun königliche Anlagen. Aber die jüngsten Kampagnen ließen solche Erfolge vermissen. Davis und Maspero waren fest davon überzeugt, dass das Tal nun erschöpft war. Carter war anderer Meinung und er sollte Recht behalten. Zunächst blieb ihm und Lord Carnarvon nur, Maspero ihr Interesse an der Konzession deutlich zu machen, damit sie, sollte Davis seinen Anspruch aufgeben, als Erste seine Nachfolge antreten konnten. Diese Chance tat sich am Ende der Grabungssaison 1914 auf. Davis war 77, krank und seine letzte Kampagne blieb ohne jeden Erfolg. Er gab das Tal der Könige auf, und Lord Carnarvon konnte die Konzession im Juni erwerben. Carter war am Ziel und sah einer interessanten neuen Kampagne im Winter 1914/15 entgegen.

Dann brach im August 1914 der Erste Weltkrieg aus. Carter war zu diesem Zeitpunkt 40 Jahre alt und für den Militärdienst nicht mehr erste Wahl. Im Herbst hielt ihn nichts mehr von einer Rückkehr nach Ägypten ab, und im Frühjahr 1915 begann er am Grab Amenophis’ III. zu arbeiten, einem Grab, das ihn bereits früher interessiert hatte, das aber bis dato in der Hand von Davis gewesen war. Die Kampagne dauerte exakt einen Monat, vom 8. Februar bis zum 8. März. Warum die Arbeit nach einem Monat beendet wurde, ist nicht mehr zu klären. Nebenher scheint Carter hier und da Aufträge für das Militär ausgeführt zu haben, auch wenn er keinen offiziellen Rang in der Armee bekleidete. Welcher Art diese Aufträge waren, ist nicht bekannt. Der Kriegsdienst dürfte ihn indes nicht allzu sehr in Beschlag genommen haben. In den Kriegsjahren beteiligte sich Carter an mehreren ägyptologischen Projekten und Publikationen, vor allem in Zusammenarbeit mit Alan H. Gardiner35, einem herausragenden ägyptologischen Text- und Geschichtswissenschaftler. Darüber hinaus wurde er immer mehr zu einem gefragten Spezialisten und Gutachter für den Antikenhandel. Nicht nur Lord Carnarvon suchte seine Expertise und seine Dienste. Carters Vorteil: Er war im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen während der Kriegsjahre in Ägypten. Auch für den Verkauf von britischen Sammlungen nach Amerika wurde Carter als Gutachter herangezogen.36 Er hatte in den Kriegsjahren immer etwas zu tun.

Im Sommer 1916 (Carter hielt sich zu diesem Zeitpunkt in England auf) gingen starke Regenfälle auf die thebanische Nekropole nieder. Flutartig stürzten Wassermassen die vielen Wadis des Wüstengebirges hinab und rissen Schutt und Gesteinsbrocken mit sich. Jeder erfahrene Grabräuber wusste, dass solche Regenfälle häufig verborgene Hinweise auf Gräber freilegten. Und so wurde in diesen Tagen auch tatsächlich ein bemerkenswerter Fund im „Tal der Affengräber“ (Wadi Qubbanet el-Qirud) südlich der Nekropole gemacht: ein Grab, das die Bestattungen von drei königlichen Gemahlinnen Thutmosis’ III. enthielt. Man fand wertvolle Metallobjekte und beschriftete Gefäße, die ein kleines Vermögen wert waren. Als Carter im Oktober nach Luxor zurückkehrte, war der Fund in aller Munde. Er interessierte sich sehr für den Fund, denn ihm war bewusst, dass in der Gegend des Wadis durchaus weitere bedeutende und noch unentdeckte Gräber ruhen konnten. Eines Nachmittags im Oktober wurden in den Dörfern der thebanischen Nekropole Gerüchte über einen weiteren Fund laut. Schnell kam es zu Streitereien zwischen den rivalisierenden Grabräuberbanden. Carter sollte vermitteln. Dank seiner langjährigen Beziehungen zu den Einheimischen vertrauten ihm die Dörfler. Mitten in der Nacht rief er einen Trupp seiner ehemaligen Arbeiter zusammen, die von Scheich Mansour, einem einflussreichen Dorfoberhaupt, begleitet wurden. So schnell wie möglich näherten sie sich über die Hügel der Fundstelle, die am Ende des Wadi Sikket Taqet Said lag, eines Nebenwadis des Tals der Affengräber. Dort baumelte ein Seil vom oberen Rand der Klippe hinab in einem Spalt, von dem aus Stimmen zu hören waren. Carter stieg vorsichtig hinab. „Ein Seil um Mitternacht hinunterzusteigen, in ein Nest voll emsiger Grabräuber, ist ein Zeitvertreib, der zumindest nicht langweilig ist“, kommentierte Carter mit britischem Understatement sein Vorgehen.37 Er überraschte acht Grabräuber und brachte sie dazu (mit welchen Mitteln auch immer), ganz friedlich zu verschwinden. Zurück blieben er und der Fund, den es zu untersuchen galt. Die anstrengenden Arbeiten dauerten 20 Tage. Wenn auch die Funde unspektakulär waren, so brachte das Grab doch eine interessante Erkenntnis: Es war für Hatschepsut angelegt worden, noch bevor sie die Königsmacht übernahm.

Ende des Jahres 1917 machte sich das Gefühl breit, dass der Krieg sich langsam dem erhofften Ende zuneigte. Mittlerweile hatte Pierre Lacau den Posten des Generaldirektors des Antikendienstes von Maspero übernommen, und Carter konnte wieder zu seiner gewohnten Arbeit zurückkehren. Seine Winterkampagne 1917/18 startete am 1. Dezember 1917 „im Osttal, beginnend in dem kleinen Seitental, das zwischen den Gräbern Ramses’ II. und Ramses’ VI. liegt“38. Carter und Lord Carnarvon gruben also bereits in unmittelbarer Nähe des Grabes, das sie später berühmt machen sollte, das zu diesem Zeitpunkt aber noch unter Arbeiterhütten versteckt war.39 Ziel ihrer Grabung war es, zunächst Schutt und Geröll bis auf den felsigen Grund abzutragen, denn nur so bestand die Möglichkeit noch unentdeckte Gräber zu finden. Die Kampagne dauerte bis zum 2. Februar 1918 und die Ergebnisse waren mager. Aber Carter war froh, endlich wieder archäologisch tätig zu sein, trotz des anhaltenden Krieges.

Im März begab er sich auf eine Reise nilaufwärts bis Kairo, um eine weitere vielversprechende Konzession für Lord Carnarvon zu finden. Diese Reise gefiel ihm sehr, vor allem weil er Stätten besuchen konnte, an denen er vor vielen Jahren tätig gewesen war und die er seitdem nicht mehr besucht hatte. Amarna tat es ihm besonders an. Dort eine Konzession für seinen Finanzier zu erwerben, scheiterte jedoch an den Plänen Lacaus, der Amarna als offizielle Grabungsstätte des Antikendienstes sichern wollte. Letztlich fiel im Sommer 1918 die Wahl auf Meir, einen Friedhof aus dem Alten und Mittleren Reich, der die Gräber der lokalen Elite beherbergte. Dort sollte die Winterkampagne stattfinden; sie begann am 1. Dezember 1918. Zum Team gehörte erstmals Arthur R. Callender40, der später ein wichtiges Mitglied bei den Arbeiten am Grab des Tutanchamun war. Erste Testgrabungen sollten zeigen, ob sich die Arbeit in Meir überhaupt lohnen würde. Enttäuschende Funde ließen Carter die Grabung am 15. Januar 1919 beenden. Er kehrte nicht wieder nach Meir zurück.

Seit November 1918 war der Krieg endlich zu Ende, und Carter wollte sich nun ausschließlich auf das Tal der Könige konzentrieren. Lord Carnarvon war während der Kriegsjahre nicht mehr in Ägypten gewesen und sein Gesundheitszustand war angegriffen, zumal er sich von einer Blinddarmoperation im Jahr 1918 erholen musste. Als Carter Anfang 1919 aus Meir zurückgekehrt war, widmete er sich im Februar noch ein paar Tage dem Grab Thutmosis’ I. im Haupttal. Mehr als die Räumung des Areals wurde aber nicht mehr geleistet, ein Beitrag zum generellen Plan, Schutt und Geröll im gesamten Tal bis zum Felsboden zu beseitigen. Die Arbeit musste wohl auch aus Sicherheitsgründen eingestellt werden: Unruhen hatten das Nachkriegsägypten ergriffen.

Ende Juni kehrte Carter nach England zurück. Er besuchte seine Familie, Freunde und Kollegen und arbeitete mit Lord Carnarvon an dessen Sammlung, von der ein Teil in Lord Carnarvons Londoner Stadthaus gebracht wurde. Wie jedes Jahr kehrte er im Herbst nach Ägypten zurück, um seine Winterkampagne am 19. Dezember im Tal der Könige fortzusetzten. Seine Untersuchungen konzentrierten sich mit einigen Ausnahmen auf das Areal zwischen den Gräbern Ramses’ II. und Ramses’ VI. Mitte Februar reiste auch Lord Carnarvon wieder nach Luxor und bezog Unterkunft in Castle Carter II. Das ersparte einen langen Arbeitsweg. Die Ergebnisse der Winterkampagne waren enttäuschend. Einen kleinen Höhepunkt gab es am 26. Februar, als 13 schön gearbeitete Alabasterkrüge nahe dem Eingang zum Grab des Merenptah gefunden wurden. Die Kampagne endete am 20. März 1920.

Carter muss eisern daran geglaubt haben, dass er noch etwas Bedeutendes im Tal der Könige finden würde. Es wirkt fast, als hätte er während seiner ganzen Arbeit dort das Grab Tutanchamuns im Fokus gehabt. In seinen späteren Aufzeichnungen behauptete er, er habe immer gewusst, wonach er im Tal suchte und warum er Lord Carnarvon davon überzeugen musste, die Konzession zu erwerben. Der Name Tutanchamun war bekannt, Davis hatte bereits früher Objekte dieses Königs im Tal gefunden. Nur das Grab selbst war noch nicht entdeckt. Carter und Lord Carnarvon waren sich sicher, „dass da Areale waren, bedeckt vom Schutt anderer Ausgräber, die nie genau untersucht worden waren. […] Wir hatten definitiv die Hoffnung, dass wir das Grab eines bestimmten Königs finden würden, des Königs Tutanchamun“41. Aber die Zeit sollte Carter noch etwas länger auf die Probe stellen.

Während der darauffolgenden Kampagne im Winter 1920/21 starb Carters Mutter, aber er blieb trotzdem in Ägypten, um die Suche nach Tutanchamun weiter voranzutreiben. Zunächst grub er im Bereich Ramses II./Ramses VI. Am 23. Dezember vermerkte er in den Grabungsnotizen, dass er die Arbeit nun auf das Areal vor dem Grab Ramses’ VI. konzentrieren wolle, um die Reste von Arbeiterhütten sorgfältiger zu untersuchen. Elf Tage später musste er die Arbeit dort aber schon wieder abrechen. Er wich in den hinteren Teil des Tals zum Grab Thutmosis’ III. aus, weil Touristen und der Besuch des Sultans die Arbeit im vorderen Bereich störten. Später kehrte er zwar wieder in das alte Areal zurück, widmete sich aber nicht mehr den Arbeiterhütten.42 Die Grabung endete ohne nennenswerte Erfolge am 3. März 1921. Das hatte schon eine gewisse Tragik: Wie man heute weiß, befand sich der Eingang zum Ziel seiner Suche direkt unter den Hütten.

Gegen Ende des Jahres musste Carter länger als gewohnt in England bleiben. Im Herbst unterzog er sich in Leeds einer Operation. Ihm wurde die Gallenblase entfernt und er blieb sechs Wochen zur Genesung im Krankenhaus. Erst im Januar 1922 konnte er nach Ägypten zurückkehren, um die nächste Kampagne im Tal der Könige durchzuführen. Am 8. Februar wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Es war eine kurze und unproduktive Saison, die im März beendet wurde. Sicher litt Carter noch unter den Folgen der Operation. Schon im April waren er und Lord Carnarvon wieder auf dem Weg nach England. Darauf folgte (zumindest Carters Überlieferung zufolge) ein dramatischer Sommer. Lord Carnarvon lud ihn nach Highclere Castle ein, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Er selbst war zu dem traurigen Entschluss gekommen, aufgrund der mageren Jahre die Konzession im Tal der Könige aufzugeben und ein profitableres Grabungsareal zu erwerben. War es nach all dem Misserfolg noch sinnvoll weiterzumachen? Carter war fest davon überzeugt: Solange es nur einen einzelnen Bereich gab, der noch nicht bis auf den Felsgrund untersucht war, war es jedes Risiko wert, mit Grabungen im Tal fortzufahren. Zumindest eine letzte Kampagne wollte Carter durchführen. Sie sollte früher als gewohnt starten. Sein Ziel war es, die Arbeiterhütten unterhalb des Eingangs zum Grab Ramses’ VI. zu beseitigen. Die Unternehmung würde nur einen geringen Kostenaufwand haben – wenige erfahrene Arbeiter, das Areal war klein. Sollte Lord Carnarvon sich nicht überzeugen lassen, würde er selbst diese letzte Kampagne finanzieren. Doch Lord Carnarvon ließ sich überzeugen. Carter reiste von England nach Frankreich und bestieg dort am 5. Oktober 1922 ein Boot nach Ägypten. Sechs Tage später erreichte er Kairo, und am 27. Oktober 1922 traf er in Luxor ein, im Gepäck ein neues Haustier, einen Kanarienvogel in einem goldenen Käfig. Als er mit dem Vogel bei seinem Haus eintraf, sollen ihn die Einheimischen mit folgenden Worten empfangen haben:

Glückwunsch – es ist ein goldener Vogel, der Glück bringen wird. Dieses Jahr werden wir, so Gott will, ein Grab voll mit Gold finden!43

Diese Prophezeiung sollte sich bewahrheiten. Am 1. November begannen die Arbeiten im Tal der Könige, die zum wohl bedeutendsten Fund in der Geschichte der Ägyptologie führten, wenn nicht sogar in der Geschichte der Archäologie überhaupt. Am 4. November 1922 trug Carter folgende Notiz in sein Grabungstagebuch ein: „No. 433. Entrance of tomb of“.44 Das Grab des Tutanchamun war gefunden.

Was folgt, ist bekannt. Mit Tutanchamun wurde der wohl bedeutendste Schatz der Archäologie wissenschaftlich „gehoben“. Die Begeisterung für die Schätze und die Mysterien alter Kulturen hat nie abgenommen und ist nach wie vor eine Triebfeder für die Beschäftigung mit der Antike. Aber inzwischen hat sich die Suche nach Schätzen gewandelt: Wo früher das Objekt und sein Sachwert im Vordergrund standen, geht es heute um die Rekonstruktion der Zusammenhänge, in die diese Objekte gehörten, und darum, auf diesem Weg ein Verständnis alter Kulturen zu entwickeln. Alle haben sie zu dieser Entwicklung (über Schriften und Bilder die Gedanken und Vorstellungen der alten Ägypter und ihren Blick auf die Welt zu verstehen) beigetragen – die Schatzjäger, Abenteuer und Wissenschaftler, die in der Zeit zwischen Napoleon und der Entdeckung des Grabes des Tutanchamun unser Wissen über das alte Ägypten zusammengetragen haben. Ohne die Sammlungen und Kuriositätenkabinette und die Menschen, die sie bestückten, wäre wohl nie ein Interesse am alten Ägypten entstanden. Ohne Menschen wie John Gardner Wilkinson, Auguste Mariette oder William Matthew Flinders Petrie wäre es vielleicht nur beim Bestücken der Kabinette geblieben. Man sammelte, man wollte verstehen, und dazu musste man genau betrachten lernen. Aus Neugier entstand Interesse, aus Interesse Wissenschaft. Und aus der Schatzsuche wurde die Archäologie Ägyptens.