„Also los, Leute, noch eine Klappe.“
Lexie biss die Zähne zusammen. Das war jetzt der dreizehnte Take, und wenn sie ihren Text noch einmal verbockte, würden ihre Kollegen ihr mit Sicherheit an die Gurgel gehen. Der Regisseur rief „Action“, und wie durch ein Wunder schaffte Lexie es dieses Mal, die Szene durchzuspielen, ohne sich zu verhaspeln.
Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung ging durch die Reihen. Sie alle waren müde. Seit drei Wochen arbeiteten sie jetzt ohne Pause, und langsam ging allen der Schwung aus. Noch eine Woche hier, danach zwei weitere Wochen Dreharbeiten in London … eine Aussicht, die allen wie eine Ewigkeit vorkam.
Für die nächste Szene war ein Kostümwechsel bei Lexie angesagt. Sie war dankbar für die Zeit in ihrem Wohnwagen, das würde ihr eine ruhige Minute geben, um sich zu sammeln.
Nachdem sie aus Madrid zurückgekehrt waren, hatte Lexie ihr Möglichstes getan, um Cesar aus dem Weg zu gehen. Mit wenig Erfolg, hielt er sich jetzt doch die meiste Zeit am Set auf … deshalb vergaß sie auch ständig ihren Text und konnte sich nur mit Mühe auf die Arbeit konzentrieren. Heute jedoch … heute hatte er sich nicht blicken lassen, und das war noch schlimmer.
Sie befürchtete nämlich, dass sie sich in den Mann verliebt hatte, der sie und ihren Körper mit seinem Kuss wieder zum Leben erweckt hatte. Wie Dornröschen im Märchen.
Deshalb hatte sie ihn die ganze Woche zu meiden versucht. Weil sie nicht wusste, wie sie diese neu erweckten Gefühle kontrollieren sollte.
Sie kam sich vor wie der Teenager, über den sie sich kürzlich noch lustig gemacht hatte, fühlte sich aufgeregt und nervös. Am Wochenende hatte Cesar sie nur auf seinen Schoß zu ziehen brauchen, und schon war sie wild vor Verlangen. Immer und immer wieder hatte er sie auf den Gipfel getrieben.
Er ahnte nicht, mit wem er es zu tun hatte, welch dunkles Geheimnis sie in sich verbarg. Und mit jedem Mal, das er sie berührte, fühlte sie sich verwundbarer, so als könnte alles jeden Moment aus ihr heraussprudeln. Mit jedem Mal wurde das Risiko größer, dass sie ihm ihre Seele offenbarte.
Deshalb mied sie ihn. Wie ein Feigling. Trotzdem konnte sie nur an ihn denken, sie träumte ständig von ihm. Inzwischen wirkte es sich sogar negativ auf ihre Arbeit aus. Es half auch nicht, dass Anfang nächster Woche der Teil im Film anstand, vor dem ihr am meisten grauste. Nur konnte sie mit niemandem darüber reden.
Als es an ihrer Tür klopfte, antwortete sie automatisch mit einem: „Bin gleich so weit“, weil sie annahm, einer der Kameraassistenten würde ihr Bescheid geben wollen, dass die Aufnahmen weitergingen. Doch dann wurde die Tür aufgeschoben und Cesar kam herein.
Sofort schien der relativ große Wohnwagen winzig, als er die Tür hinter sich schloss. Er sah so großartig aus. So dunkel und entschlossen.
Lexie war atemlos, und es hatte nichts mit dem engen Kostüm zu tun. „Du solltest nicht hier sein. Sie werden mich gleich rufen …“
Cesar verschränkte die Arme. „Das hier scheint der einzige Ort zu sein, an dem ich dich finden kann.“
Lexie errötete. Unter seinem Blick lief ein Prickeln über ihre Haut. Gott, sie wollte ihn, hier und jetzt, sofort.
Er kam auf sie zu, und sie konnte ihm nicht ausweichen. Er schlang den Arm um ihre Taille und zog sie an sich. Ein heißes Prickeln durchlief ihren Körper, doch seltsamerweise fühlte sie sich mit einem Mal ruhiger und ausgeglichener.
„Du bist mir die ganze Woche aus dem Weg gegangen. Warum?“, knurrte er.
„Die Aufnahmen … ich muss mich auf meine Arbeit konzentrieren“, antwortete sie matt.
Seine Augen glühten. „Du allein hast Schuld daran, dass ich mich auf nichts mehr konzentrieren kann.“
„Wirklich?“ Es war keineswegs angebracht, dass sie bei seinen Worten eine solche Befriedigung empfand. Man stelle sich vor … sie brachte diesen ernsten, immer so gefassten Mann durcheinander. Sie musste das Lächeln zurückhalten.
„Ich spiele keine Spielchen, Lexie.“
Sie wurde blass. „Ich auch nicht, Cesar. Ich bin dir aus dem Weg gegangen, weil am letzten Wochenende … Es ist lange her für mich.“ Genauer wäre wohl: noch nie. „Ich bin nicht an so etwas gewöhnt. Ich meine, ich habe keine Affären.“
Verlegen senkte sie das Kinn auf die Brust, doch mit einem Finger hob Cesar ihren Kopf wieder an.
„Dios, weißt du eigentlich, was es mit mir anstellt, dich in diesen Kostümen zu sehen?“ Sein Griff um ihre Taille wurde fester „Komm heute Abend zu mir in meine Wohnung.“
Widerstand war zwecklos. Sie sehnte sich danach, einfach Ja zu sagen, ihm die Initiative zu überlassen, damit sie weder nachdenken noch eine Entscheidung treffen musste. „Einverstanden.“ Und dieses Mal ließ das Lächeln sich nicht unterdrücken.
Cesar beugte gerade den Kopf, um sie zu küssen, als von draußen die Stimme des Regieassistenten erklang.
„Lexie, wir sind so weit. Alle warten auf Sie.“
Cesar hielt reglos inne, und fast hätte Lexie gestöhnt.
„Danke, ich komme sofort.“
Cesar lächelte doppeldeutig. „Ich sorge für das Dinner. Komm zu mir, wenn hier alles abgeschlossen ist. Und bringe eine Tasche fürs Wochenende mit.“
Fast hätte sie die Augen verdreht. „Cesar, ich wohne im Castillo. Da kann ich jederzeit …“
„Tu’s einfach“, schnitt er ihr das Wort ab.
„Na gut“, gab sie nach, aber bei seinem keinen Widerstand duldenden Befehlston war ihr Lächeln spöttisch geworden.
Am nächsten Tag beschwerte Lexie sich gutmütig: „Warum kannst du mir nicht einfach sagen, wohin es geht?“
Cesar blieb so abrupt stehen, dass sie beinahe gegen ihn geprallt wäre. Er nahm ihre Hände in seine und schaute sie an. Der Wind spielte in seinem Haar, ganz in Schwarz gekleidet sah er lebendiger aus denn je. Fast hätte Lexie hingerissen geseufzt.
„Tu einfach, was man dir sagt“, meinte er gespielt streng.
Einer seiner Angestellten trug ihr Gepäck zu dem Hubschrauber, der auf dem Heliport des Castillo bereitstand.
Heute Morgen hatte Cesar sie früh geweckt, und wie eine zufriedene Katze hatte sie sich genüsslich zwischen den wirklich schrecklich zerwühlten Laken gerekelt, bis ihr klar geworden war, wo sie sich eigentlich befand: in Cesars Bett!
Während der unglaublichen Nacht hatte sie immer wieder Tränen zurückblinzeln müssen, aber so viel Kraft es sie auch gekostet haben mochte, sie war entschlossen gewesen, Cesar nicht zu zeigen, wie ergriffen sie war.
Denn mit jeder Liebkosung, mit jedem Kuss von ihm heilte ihre Seele mehr. Eine Seele, die vor so langer Zeit brutal zerstört worden war.
Wie befohlen, hatte sie eine kleine Reisetasche zusammengepackt und sich dann auf den Weg in sein Apartment gemacht. Cesar war gerade dabei gewesen, das Dinner vorzubereiten. Ihn am Herd stehen zu sehen, hatte sie völlig überrumpelt, schien ihr das doch so völlig untypisch und … verführerisch, dass sie Mühe gehabt hatte, Gelassenheit zu zeigen, die sie nicht verspürte.
Jetzt half er ihr beim Einsteigen in den Hubschrauber und reichte ihr die Kopfhörer. Sie hatte es aufgegeben, von ihm erfahren zu wollen, wohin sie fliegen würden, befestigte den Sicherheitsgurt und setzte die Kopfhörer auf.
Er lächelte. „Keine Sorge, es wird dir gefallen.“
Die Rotoren begannen sich zu drehen. Ein aufgeregtes Flattern meldete sich in Lexies Magen, als der Helikopter in die Luft stieg und das Castillo unter ihnen immer kleiner wurde.
Cesar zeigte ihr die Weinberge, die zum Anwesen gehörten. Er besaß mehr Land, als sie sich vorgestellt hätte. Es war überwältigend – und es machte ihr klar, wie viel Verantwortung ihm allein für dieses Erbe hier oblag.
Sie drehten ab, die gerade erst aufgegangene Sonne stand jetzt in ihrem Rücken. Lexie starrte aus dem Seitenfenster, als sie über Flüsse und Berge flogen. Dann ließen sie die karge Landschaft hinter sich, Ansiedlungen und Dörfer tauchten auf, und Cesar bedeutete Lexie lächelnd, den Blick nach vorn zu richten. War das etwa das Meer, das da unten so blau glitzerte?
Sie schaute zu ihm, und er zwinkerte ihr verschmitzt zu. Am liebsten hätte sie albern und breit wie ein Honigkuchenpferd zurückgegrinst. Wenig später flogen sie über eine Stadt, die Tonziegel der Dächer leuchteten in der Sonne. Auf einem Hügel stand ein majestätisch wirkender Palast, und eine große Hängebrücke spannte sich über einen Fluss. Die Stadt selbst, in die Hügel gebaut, wirkte eher altmodisch, von hier oben konnte man Straßenbahnen erkennen und wunderschöne alte Gebäude mit bunten Mosaiken an den Fassaden.
Lexie schnappte nach Luft. „Lissabon?“, fragte sie Cesar mit großen Augen, und er nickte.
Deshalb also hatte er ihr gesagt, sie solle ihren Reisepass mitnehmen! Eine Welle zärtlicher Dankbarkeit schwappte über sie. Sie erinnerte sich an den Tag in dem einschüchternden Arbeitszimmer, an dem sie so entschlossen darauf bestanden hatte, dass sie sich Madrid, Salamanca und Lissabon ansehen wolle.
Er hatte sie zu allen drei Städten gebracht.
Der Hubschrauber setzte auf dem Dach eines Gebäudes auf, und Cesar half Lexie beim Aussteigen. Sie erkannte, dass es sich bei dem Gebäude um ein Hotel handelte, als ein Empfangskomitee aus Angestellten und Zollbeamten sie begrüßte. Nach Erledigung der Formalitäten nahm Cesar Lexies Hand, und sie warf ihm einen leicht spöttischen Blick zu.
„Du brauchst also nicht anzustehen?“
Er grinste. „Da Silva ist kein rein spanischer Name. Es gibt auch portugiesische Vorfahren. Daher werden mir … ein paar Privilegien zugestanden.“
Fast hätte sie geschnaubt. Sie ging jede Wette ein, dass ihm unzählige Privilegien gewährt wurden, im Gegenzug zu seinem Engagement und seinen Investitionen. Ganz offensichtlich kam er öfter nach Lissabon, und dass er den Respekt der Leute nicht als selbstverständlich voraussetzte, berührte sie.
Man führte sie einen Stock tiefer in eine luxuriöse Suite, wie sie Lexie noch nie gesehen hatte. Von der großen Terrasse aus hatte man einen atemberaubenden Blick auf den alten Palast und die Hängebrücke, die sich über den Tejo spannte. Staunend ging Lexie hinaus und schaute sich das beeindruckende Panorama an. Bis sie hinter sich die Wärme spürte. Sie schloss die Augen, blockte die schrillen Stimmen in ihrem Kopf ab, die laut vor der Gefahr warnten, und spürte Cesars Lippen auf ihrem Nacken. Ihre Finger klammerten sich unwillkürlich fester um das Geländer, seine Liebkosung sandte heiße Schauer durch ihren Körper.
Sie drehte sich zu ihm um. Seine Augen glühten.
„Ich habe ein umfangreiches Programm für uns zusammengestellt, Miss Anderson.“
Lexie bemühte sich, gelassen zu bleiben, und hob skeptisch eine Augenbraue. „So, tatsächlich?“
Er nickte und zog leicht an einer ihrer goldenen Strähnen. „Im Moment habe ich allerdings etwas ganz anderes im Sinn.“
Sie hatte längst Mühe mit dem Atmen. „Wirklich …?“
„Oh ja.“
Und dann presste er mit zersetzender Genauigkeit seinen Mund auf ihre Lippen, und Lexie war es gleich, wo sie waren, solange sie nur diesen Moment auskosten konnte.
„Noch ein Absacker?“
Nickend schaute Lexie zu Cesar. „Ja, gern.“
Er ging zum Barschrank, und sie folgte seiner großen muskulösen Statur mit sehnsüchtigem Blick.
Nach diesem wunderbaren Tag wirbelte alles in ihrem Kopf. Sie wollte Cesar nicht sehen lassen, wie überwältigt sie war, deshalb ging sie hinaus auf die Terrasse. Aus der Suite drang das Läuten eines Handys an ihr Ohr, dann Cesars tiefe Stimme, und sie war dankbar für die Minute für sich allein. Sie würde die Verschnaufpause nutzen, um die Erlebnisse zu verarbeiten und sich zu sammeln.
Die frische Abendluft kühlte ihre Wangen. Seit sie und Cesar sich heute Vormittag geliebt hatten, schien ein konstantes Feuer in ihr zu brennen. Danach hatte er sie nicht schlafen lassen, so wie sie gewollt hatte, sondern hatte sie praktisch unter die Dusche gezerrt und die passende Garderobe für sie gewählt – ein hübsches Top, Jeans und Sneakers.
Zuerst war er mit ihr zum Kastell St. Georg gefahren, von wo aus man einen atemberaubenden Blick auf die Stadt hatte. Danach, als hätte er ihre Gedanken gelesen, hatten sie eine Fahrt mit einer der gelben Straßenbahnen unternommen. Cesar hatte eng hinter ihr gestanden, und bis sie bei der Alfama, dem alten arabischen Stadtkern, ausstiegen, war Lexie eindeutig viel zu heiß gewesen.
Hand in Hand waren sie durch die engen Gassen unter den behangenen Wäscheleinen hergeschlendert, hatten die wunderschönen Wandreliefe bestaunt und den lachenden Kindern, die die dunklen Schöpfe zu den kleinen Fenstern heraussteckten und ihnen „Bom dia!“ zuriefen, lächelnd zugewinkt. In einem kleinen Restaurant, dessen Terrasse auf den Fluss hinausging, hatten sie einen leichten Lunch gegessen, danach waren sie weiter Hand in Hand durch die Stadt geschlendert.
Irgendwann hatte Lexie Cesar gefragt: „Keine Paparazzi?“, und lächelnd hatte er geantwortet: „Nein, hier nicht.“
Bei der Vorstellung, dass sie wirklich allein hier waren und Cesar keine anderen Pläne hatte, kroch ein beunruhigend warmes Gefühl über Lexies Rücken.
Das hier war gefährlich.
In Bélem besuchten sie das Mosteiro dos Jerónimos und die Grabstätte Vasco Da Gamas, danach zeigte Cesar auf einen kleinen Laden mit einer blauen Marquise, vor dem eine lange Schlange geduldig wartenden Menschen stand. Sie stellten sich an, und auf Lexies fragenden Blick hin antwortete Cesar: „Es lohnt sich, glaube mir.“
Als sie endlich an der Reihe waren, bestellte Cesar in fließendem Portugiesisch und reichte Lexie dann ein kleines Puddingtörtchen.
„Probier“, drängte er sie, nachdem sie einen freien Tisch in dem gemütlichen Café gefunden hatten. Und Lexie tat wie geheißen und musste ein genießerisches Aufstöhnen zurückhalten, als das knusprige Vanillegebäck ihr auf der Zunge zerging.
Nach einer ausgiebigen Stadtrundfahrt mit dem Wagen, den Cesar arrangiert hatte, waren sie zurück im Hotel angekommen, doch statt direkt in die Suite zu gehen, hatte Cesar sich mit der jungen Frau am Empfang in Portugiesisch unterhalten, die prompt kichernd rot anlief. Fast hatte Lexie Mitleid mit ihr, wenn da nicht … ja, wenn da nicht dieser Stich Eifersucht sie durchfahren hätte.
„Ich sehe dich dann in ungefähr zwei Stunden.“ Mit einem flüchtigen Kuss ließ er sie stehen, und sie starrte ihm nur perplex nach.
Zwei Frauen kamen auf Lexie zu und übernahmen sie – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie erhielt das volle Programm des dem Hotel angeschlossenen Schönheitssalons einschließlich Ganzkörpermassage.
Danach schwebte sie praktisch zurück in die Suite, so entspannt war sie. Cesar wartete auf sie mit einer Flasche eisgekühlten Champagners, und nachdem Lexie sich umgezogen hatte – sie trug ein altrosa schulterfreies Kleid –, waren sie zum Dinner ausgegangen.
Und jetzt … jetzt ließ Lexie den nächtlichen Lichterglanz einer der ältesten Städte Europas auf sich wirken. Sie war überwältigt, meinte die Kontrolle über ihre Emotionen verloren zu haben. Und Cesars Gesellschaft … er schien so unbeschwert, um Jahre jünger …
Was sie allerdings an das eigene dunkle Geheimnis erinnerte. Nächste Woche würde sie sich mit einer alten Narbe tief in ihrem Innern konfrontiert sehen, und das jagte ihr Angst ein. Sie fühlte sich schrecklich verwundbar, hatte das Zusammensein mit Cesar doch Risse in ihrer überlebenswichtigen Schutzhülle aufbrechen lassen.
„Entschuldige, aber den Anruf musste ich annehmen.“
Sie verspannte sich, als sie seine Stimme neben sich hörte. Er reichte ihr ein kleines Glas Portwein. Sie schnupperte daran, zwang sich zu einem Lächeln und prostete ihm zu. „Sehr passend, sind wir doch in dem Land, aus dem dieser schwere Wein kommt.“
Zustimmend erhob auch er sein Glas. Heute Abend sah er geradezu umwerfend gut aus. Groß, elegant – und doch strahlte er pure männliche Energie aus.
Lexie nippte an dem Wein, auch, um Cesars viel zu intensivem Blick auszuweichen. Dieser wunderbare Tag hatte sie überempfindlich gemacht, und in gewisser Weise war sie sogar verärgert über Cesar – weil er sie bezaubert hatte, weil er sie dazu gebracht hatte, sich in ihn zu verlieben.
Sie wollte ihn herausfordern, wollte seine Fassade durchdringen und dahintersehen. „Wie kommt es, dass du nicht verheiratet bist?“
Die Worte waren noch nicht ganz über ihre Lippen, als sie schon wünschte, sie könnte sie zurücknehmen. Sie sah, wie Cesar die Augen zusammenkniff, und still verfluchte sie sich. Irgendwie musste sie ihn ablenken, musste dem Ganzen eine mehr heitere Note geben. „Ich meine, du bist doch ein guter Fang. Du hast noch alle eigenen Zähne, hast keinen Mundgeruch und besitzt zudem ein eigenes Haus …“ Nur befürchtete sie, dass sie ihn damit nicht täuschen konnte. Sie nahm noch einen Schluck von ihrem Glas.
Er lächelte schmal. „Die eigenen Zähne hat bisher noch keine als Pluspunkt angeführt.“
Nein, sicher nicht. Vermutlich sahen sie alle nur das wandelnde Dollarzeichen in ihm. Aber Cesar würde sich niemals von einer Frau zum Narren halten lassen, und sie sollte er auf keinen Fall als Goldgräberin verdächtigen.
„Ich wollte dir für diesen unglaublich schönen Tag danken.“ Kummer packte nach ihr, wenn sie daran dachte, dass ihre gemeinsame Zeit befristet war. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Und da sie also nichts zu verlieren hatte, konnte sie genauso gut ihre Neugier befriedigen. „Hast du jemals davorgestanden? Vor einer Heirat, meine ich.“
Cesar versteifte sich, seine Finger hielten das feine Glas fester. Dann entspannte er sich bewusst. „Meine Mutter hat mich in jungen Jahren aufgegeben, aufgewachsen bin ich bei alten Leuten, die im Grunde nicht mehr waren als Aufpasser. Sie konnten nicht akzeptieren, dass mein Blut nicht so rein und pur war, wie sie es gerne gehabt hätten. Solche Erfahrungen sind nicht gerade förderlich für etwas so Frivoles wie Heim und Familie.“
In Lexie zog sich alles zusammen. Heim und Familie hatten nichts Frivoles an sich. Sie erkannte etwas über sich selbst: Irgendwo tief in sich hielt sie noch immer an der Hoffnung fest, dass sie eines Tages die Chance erhalten würde zu beweisen, dass die eigenen schlimmen Erfahrungen mit Familie die Ausnahme waren.
„Deine Halbbrüder …“, hob sie rau an. „Auf den Fotos von der Hochzeit sahen sie doch sehr glücklich aus.“
Sein Blick wurde hart. „Sie sind anders aufgewachsen, ihnen boten sich andere Perspektiven.“
„Deine Mutter war bei ihnen … Nur frage ich mich, ob es deshalb besser oder leichter für sie war.“
„Ja, wer weiß“, stimmte er ihr tonlos zu.
Sie wollte den Arm um ihn legen, tat es jedoch nicht. „Wirst du dich wieder mit ihnen treffen?“
„Wir haben nichts gemein, jetzt erst recht nicht mehr.“ Er wandte ihr das Gesicht zu, und die Kälte in seinen Augen ließ sie erschauern. „Schon vor Langem habe ich den Entschluss gefasst, nie zu heiraten.“
„Warum?“ Seine so kühl hervorgebrachten Worte empfand sie wie einen körperlichen Schlag.
„Das Castillo ist kein Platz für Kinder. Die Linie meiner Familie ist geprägt von Gier und Snobismus. Nach meinem Tod wird das Anwesen in den Besitz der Stadt übergehen, sollen sie damit machen, was sie wollen. Das Vermögen wird an diverse Stiftungen verteilt. Deshalb versuche ich auch, so viel wie möglich zu verdienen.“
„Aber …“ Verzweifelt suchte sie nach einem Weg, seine harte Schale zu durchdringen. „Du hattest gesagt, dass du das Castillo renovieren willst. Wozu? Warum überlässt du es der Stadt nicht so, wie es ist?“
Mit leerem Blick sah er sie an. „Weil das Gift längst in meinem Blut ist.“
Seine grimmige Bemerkung ließ sie verstummen. Sie wünschte, sie könnte etwas tun, um ihn zu trösten. Doch obwohl er nur Zentimeter von ihr entfernt stand, hatte sich eine unüberwindbare Kluft zwischen ihnen aufgetan.
„Entschuldige“, wisperte sie, „ich hätte nichts sagen sollen.“
Seine Mundwinkel hoben sich zu der Andeutung eines Lächelns, doch es hatte keinerlei Ähnlichkeit mit jenen, die sie heute bei ihm gesehen hatte. „Wie ist es denn bei dir, Lexie? Träumst du von einem Haus mit einem weißen Gartenzaun und dem Lachen pausbackiger Kinder um dich herum?“
Ein Kaleidoskop von Bildern bombardierte Lexie. Ein schreiendes Baby, Schwestern mit groben Händen und missbilligenden Blicken. Strenge Mienen von offiziell aussehenden Leuten. Und dann nichts außer Stille. Nur noch maßloser Schmerz.
„Lexie?“
Sie blinzelte. Cesar musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. Irgendwoher fand sie die Kraft, die Lippen zu einem matten Lächeln zu verziehen. „Du hast den Hund vergessen. Es muss auch noch einen Hund geben.“
„Ja, natürlich, du hast recht. Kein Idyll ohne Hund.“
Er stellte sein Glas ab und nahm Lexie ihres aus den Fingern, dann zog er sie an sich. Ihr war eiskalt, sie zitterte. Verzweifelt sehnte sie sich nach Wärme, die die innere Kälte vertreiben würde. Die die Bilder, die gerade vor ihr aufgeschossen waren, ausblenden würde.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schlang die Arme um Cesars Nacken, schmiegte sich der Länge nach an seinen Körper. Sie sah das Aufblitzen in seinen Augen, und das Eis in ihrem Innern begann zu schmelzen.
„Küss mich, Cesar.“
Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor der Ausdruck auf seiner Miene gierig wurde.
Es wurde ein fiebriger Kuss, und bevor Lexie die Fähigkeit zum Denken verlor, wurde ihr noch klar, dass sie beide vor ihren eigenen Dämonen davonliefen. Nur stärkte es dieses Mal nicht das Gefühl, dass sie etwas gemein hatten, dieses Mal schuf es einfach nur düstere Leere.
Sehr viel später blickte Cesar mit weit offenen Augen in die Dunkelheit. Die Enge, die sich bei Lexies Frage um seine Brust gelegt hatte, war nicht mehr so drückend, aber noch immer da, auch wenn sein Körper von sehr viel angenehmeren Gefühlen geflutet worden war.
Wie kommt es, dass du nicht verheiratet bist?
Andere Frauen hatten ihm dieselbe Frage gestellt, und zwar mit einem kalkulierenden Glitzern in den Augen. In Lexies Augen hatte dieses Glitzern nicht gelegen. Er hatte noch nie mit anderen über seine Kindheit gesprochen, aber bei Lexie schien er sich nicht zurückhalten zu können, sobald er in ihre großen blauen Augen blickte.
Er hatte ihr alles erzählt. Nicht einmal sein Freund Juan wusste von seinen Plänen für das Castillo. Und sobald er alles herausgelassen hatte, hatte er sich leer gefühlt. Diese Leere hatte ihn dazu getrieben, Lexie mit dem idyllischen Szenario zu provozieren.
Für einen Moment hatte sie ausgesehen, als hätte er ihr ein Messer in den Leib gerammt. Entsetzt, blass, schockiert. Die Vorstellung war ihr also offensichtlich ein Gräuel, auch wenn sie den Witz mit dem Hund noch angefügt hatte.
Dabei war er hier der Witz. Denn zum ersten Mal im Leben sehnte er sich nach etwas, das seiner festen Überzeugung nach weit außerhalb seiner Reichweite lag.