9. KAPITEL

„Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir gleich nach dem Frühstück zum Castillo zurückkehren? Es gibt ein Problem, um das ich mich dringend kümmern muss.“

Am Morgen war Lexie allein im Bett aufgewacht, und sie war froh darum gewesen. Die Unterhaltung mit Cesar gestern Abend hatte die Erkenntnis gebracht, dass sie trotz aller gemachten Erfahrungen noch immer an der Fantasie von Familie und dem glücklichen Heim festhielt. Aber das war eine Illusion. Genau wie sie sich etwas vormachte, wenn sie glaubte, sie könnte das, was zwischen ihr und Cesar Da Silva passierte, irgendwie kontrollieren. Der Mann hatte ihr aufgezeigt, wie schwach ihr Selbstschutz immer gewesen war.

Sie zog sich gerade im Schlafzimmer an, und endlose Erleichterung überkam sie bei seinen Worten. „Nein, natürlich nicht“, antwortete sie – viel zu hastig. „Diese Woche stehen ein paar heftige Szenen an. So bleibt mir dann mehr Zeit, mich darauf vorzubereiten.“ Die Angst vor diesen Szenen packte erneut nach ihr.

Mit verschränkten Armen lehnte Cesar am Türrahmen, und unter seinem Blick reagierte ihr Körper sofort. Ja, es würde gut sein, etwas mehr Abstand zu diesem Mann zu bekommen …

„Du brauchst dich nicht gleich so begeistert anzuhören.“

Sie wurde rot, wusste nicht, wohin mit ihrem Blick. „Es ist nicht so, dass ich zurückfahren will … Du bist wunderbar großzügig und aufmerksam …“

Er war so schnell bei ihr, dass sie nicht wusste, wie ihr geschah. „Du musst mir nicht danken.“

„Doch“, erwiderte sie unsicher. „Das verlangt die Höflichkeit.“

„Ich will keine Höflichkeit von dir“, knurrte er. „Ich will dich.“

Er legte die Hand an ihren Nacken, zog ihren Kopf heran und küsste sie. Lexie musste sich an ihm festhalten, weil ihre Knie nachzugeben drohten.

Als er sich von ihr löste, öffnete sie die Augen. Großer Gott, sie bekam kaum Luft.

„Vielleicht kann ich sie überzeugen, dass sie allein damit fertig werden“, meinte er heiser.

Es dauerte eine Sekunde, bevor sie den vollen Sinn seiner Worte begriff, und in ihrem Magen begann es zu flattern. Trotzdem beeilte sie sich zu sagen: „Du solltest zurückgehen, wenn sie deine Hilfe brauchen. Und ich muss mich wirklich auf die Szenen für nächste Woche vorbereiten.“

„Du wirst aber bei mir im Apartment wohnen.“

Sie öffnete schon den Mund, um zu widersprechen, doch dann sah sie das entschlossene Glitzern in seinen Augen und seufzte ergeben. „Einverstanden.“

Spät in der Nacht kehrte Cesar endlich in das Castillo zurück. Er war müde und frustriert. Das aufgetauchte Problem war komplizierter als zuerst angenommen. Und dann war er auf dem Rückweg auch noch von seinem Verwalter aufgehalten worden, was zu einem längeren Gespräch über die geplanten Renovierungen im Castillo ausgeufert war. Renovierungen, die plötzlich ganz neue Überlegungen aufwarfen, so als hätte sich etwas in seinem Innern verschoben.

Doch daran wollte er jetzt nicht denken, jetzt wollte er nur zu Lexie.

Im Apartment war alles still, es wirkte leer. Wenn er sich vorstellte, dass Lexie, des Wartens müde, vielleicht wieder in ihre Suite zurückgegangen war, wuchs die Frustration in ihm noch mehr an.

Aber nein … da lagen ihre Sneaker, gleich vor der Couch. Schwaches Licht brannte. Die Brust wurde ihm eng, als er Lexie sah, tief und fest schlafend auf der Couch ausgestreckt. Das Top war ihr ein wenig hochgerutscht, legte einen Streifen heller Haut am Bauch frei. Einen Arm hatte sie über den Kopf gehoben, der andere lag gerade unterhalb ihres Busens.

Leise ging er zu ihr, war sich nicht einmal bewusst, dass der Ärger und die Frustration, die er eben noch verspürt hatte, einem ganz anderen Gefühl wichen – Verlangen.

Ihm fielen die kleinen Knopfhörer auf, der mp3-Spieler lag neben der Couch auf dem Boden. Der Druck auf seiner Brust wurde stärker, als er sich vorstellte, wie schwer es für Lexie sein musste – als Schauspielerin mit Legasthenie.

Als hätte sie seine Anwesenheit gespürt, hob sie müde die Lider und blinzelte ihn verschlafen an, bevor sie sich aufzurappeln versuchte.

„Oh Gott, wie spät ist es?“

Cesar setzte sich auf die Sofakante und stützte die Arme zu ihren Seiten auf. Mit dem zerzausten Haar und so schlaftrunken sah sie unglaublich sexy aus.

„Du solltest längst im Bett liegen.“

Sie lächelte, und eine berauschende Leichtigkeit erfüllte Cesar. Lockend, verführerisch …

„Sollte ich also, ja? Und was gedenkst du in dieser Hinsicht jetzt zu unternehmen?“

Er gab sich gespielt streng. „Ich sorge dafür, dass du dorthin kommst und dich brav unter die Decken kuschelst – und zwar an mich.“

Mit ihr auf den Armen stand er auf, und auf dem Weg ins Schlafzimmer schmiegte sie sich an seine Brust, fand mit unbeirrbarer Genauigkeit seinen Hals, um kleine, zärtliche Küsse auf seine Haut zu setzen.

Sanft legte er sie auf das Bett, zog sich mit einer fließenden Bewegung das Hemd über den Kopf. Lexie beobachtete ihn verträumt, noch immer im Halbschlaf. Sie brauchte nicht wach zu sein, damit er diese Wirkung auf sie hatte.

Doch dann, als wurde sie aus einem Traum aufwachen, stürzte die Filmszene, die sie auswendig gelernt hatte, urplötzlich auf sie ein. Ihre Stimmung änderte sich abrupt, das warme Verlangen erlosch schlagartig. Jetzt erinnerte sie sich auch, dass dort auf der Couch albtraumhafte Bilder in ihrem Kopf abgelaufen waren, während sie geschlafen hatte. Kein Wunder.

Cesar beugte sich über sie, stützte sich auf die Arme, und Lexie versteifte sich. Für eine Weile hatte die Intimität mit Cesar sie vergessen lassen, wer sie wirklich war. Was ihr zugestoßen war. Welches Ausmaß die düsteren Geheimnisse hatten, die in ihr wohnten.

Er würde es nie wissen wollen. Warum auch? Das hier war nur eine kurze Affäre. Locker, lässig, leicht. Doch im Moment empfand Lexie das genaue Gegenteil. Sie fühlte sich, als würde das Gewicht der Welt auf ihren Schultern liegen.

Cesar streckte die Hand aus, wollte sie streicheln, und Lexie schreckte vor der Berührung zurück. Alles in ihr drängte sie, so schnell wie möglich von ihm wegzukommen – bevor er sie mit seinen Liebkosungen dazu brachte, alles preiszugeben. Ein solch hässliches Zerrbild hatte hier keinen Platz …

„Lexie?“ Verständnislos verharrte er reglos.

Sie rutschte unter seinen Armen hindurch und aus dem Bett. Ihr war eiskalt, alles in ihr war taub. Cesar starrte sie an, als würden plötzlich zwei Köpfe auf ihren Schultern sitzen.

„Was tust du da?“

Sie hatte ihre Reisetasche gefunden und stopfte achtlos die Sachen hinein, die sie gestern getragen hatte. Wie wunderbar der Tag gewesen war. Aber den hatte eine andere Person erlebt. Eine Person, die nicht diese schrecklichen Erinnerungen mit sich herumtrug, die sie jetzt bombardierten. „Ich gehe in mein Zimmer.“

Er fasste nach ihrem Arm, schüttelte ungläubig den Kopf. „Was soll das? Was ist los?“

Sie zog ihren Arm zurück und wich rückwärts, getrieben von wachsender Panik und noch einem anderen Gefühl: dem Drang, die Reisetasche fallen zu lassen und sich Cesar in die Arme zu werfen, damit er sie festhielt und ihr versicherte, dass sie bei ihm in Sicherheit war. Aber daran hatte er kein Interesse – an einer verwundeten Lexie. Er würde die Beine in die Hand nehmen und rennen, so schnell er konnte.

Verständnislosigkeit wich kühler Sachlichkeit. „Ich hatte dir bereits gesagt, dass ich nichts von Spielchen halte, Lexie.“

„Ich spiele keine Spiele“, sagte sie traurig. „Ich kann das im Moment einfach nicht. Ich brauche … Raum.“

Lange musterte er sie, bevor seine Miene undurchdringlich wurde. Er tat einen Schritt zurück. „Natürlich, nimm dir so viel Raum, wie du brauchst.“

Sie hob ihre Tasche auf und verließ Cesars Wohnung, und die ganze Zeit pumpte Adrenalin wild durch ihre Adern. Sie kehrte zurück in ihr leeres Zimmer, und dort wurde ihr mit erschreckender Gewissheit klar, dass sie es war, die leer war.

Leer im Innern. Zerstört und zerbrochen. Für kurze Zeit hatte sie geglaubt, sie wäre auf wundersame Weise geheilt worden. Doch das hatte sie sich nur vorgemacht. Dieser Zusammenbruch war der Beweis.

Ich brauche Raum.

In Cesar brodelte es, und es war ihm anzusehen. Die Haushälterin warf nur einen kurzen Blick auf ihn und drehte sich schnell wieder um.

Seit zwei Tagen fraßen die Worte an ihm. In der einen Minute war Lexie weich und nachgiebig gewesen, sexy und verführerisch … und in der nächsten hatte sie sich vollkommen versteift. Dios, sie hatte ihn angesehen, als würde er ihr etwas antun wollen.

Dieses Gefühl behagte ihm nicht. Es gefiel ihm nicht, dass sie die animalische Seite in ihm hervorkehren konnte. Ihre Worte waren wie ein Schlag in den Magen gewesen. Bei dem Gedanken, dass sie eine Ahnung davon erhascht haben könnte, was sie in ihm auslöste, wurde ihm eiskalt. Aber er hatte von ihr abgelassen, hatte ihr bewiesen, wie unwahr ihre Worte waren. Nur hatte er auch die Panik in ihren Augen gesehen. Panik wovor?

Ende der Woche würde die Filmcrew nach London weiterziehen – sehr zu seinem Bedauern. Anfangs hatte er auf keinen Fall mit hineingezogen werden wollen, doch jetzt …

Zwei Tage hatte er sich vom Set ferngehalten, nun jedoch trieb es ihn in den alten Flügel des Castillo, wo im Moment die Dreharbeiten stattfanden. Die Tatsache, dass er Lexie unbedingt sehen musste, versetzte ihn in eine unmöglich düstere Laune.

Die Crew nickte ihm grüßend zu, und irgendwie brachte er sogar eine höfliche Reaktion zustande. Als er näher kam, fiel ihm auf, dass die Tür zum Filmset geschlossen war. Da seltsame Stille in der Luft hing, fragte er leise einen der Regieassistenten, was da drinnen gedreht wurde. Der junge Mann schüttelte nur den Kopf, doch als Cesar zur Tür gehen wollte, hielt der Assistent ihn zurück.

„Sie können jetzt nicht da rein, Mr Da Silva. Sie arbeiten an der Vergewaltigungsszene. Nur die Leute, die unbedingt dafür gebraucht werden.“

Die Vergewaltigungsszene.

Cesar gefror das Blut in den Adern, auch wenn er nicht wusste, weshalb. Er ging zu der Wand aus Monitoren in einer Ecke des Raumes, auf denen die Filmaufnahmen immer mitverfolgt werden konnten. Normalerweise scharten sich die Schauspieler darum, doch heute saß nur der Videotechniker an dem Tisch.

Cesar ging hinüber und setzte sich dazu. Der Techniker reichte ihm stumm ein Paar Kopfhörer, da auch der Ton abgestellt war. Nun konnte Cesar alles mitverfolgen.

Der Regisseur gab Lexie und Rogan, dem männlichen Hauptdarsteller, die letzten Anweisungen. Cesar sog harsch die Luft ein, als er Lexie sah. Ihr Haar hing wirr herunter, sie trug ein dünnes weißes Nachthemd, das vorn offen stand, als hätte es jemand mit Gewalt zerrissen, der Ansatz ihrer Brüste war deutlich zu sehen. Dann zog der Regisseur sich zurück, die Kamera schwenkte auf Lexie und Rogan.

Rogan packte Lexie beim Arm und zerrte sie zum Bett, Lexie flehte und bettelte um Gnade, doch er drückte sie brutal auf das Bett nieder, schob ihr grob das Nachthemd an den Beinen empor und machte Anstalten, sich an ihr zu vergehen. Die Kamera zoomte auf Lexies Gesicht, sie war blass, ihre Augen blickten leer. Rogans Hand war zu sehen, wie er ihren Kopf niederhielt, im Hintergrund hörte man sein animalisches Stöhnen.

Dann ertönte das „Cut“ des Regisseurs. Doch Cesar nahm nur das donnernde Rauschen in seinen Ohren wahr. Er war wie gelähmt, konnte sich nicht rühren.

Die Ratio sagte ihm, dass das alles nur gespielt war. Jetzt konnte er auch sehen, wie Rogan Lexie aufhalf. Der Schauspieler wirkte mitgenommen, Lexie war gespenstisch blass. Eine ungute Ahnung kroch über Cesars Rücken. Für alle Beteiligten musste eine solche Szene schlimm sein, aber er fühlte, dass da noch mehr war.

Doch dann hörte er, dass es wieder von vorn losging … Die Stimme des Kameraassistenten: „Szene Einhundert, die zwanzigste … und … Klappe!“

Cesar riss sich die Kopfhörer herunter. „Sie haben das schon neunzehnmal gedreht?“ Fassungslos starrte er den Videotechniker an.

Der Mann schluckte. „Ja, Sir. Der Regisseur will die Szene aus allen Winkeln aufnehmen.“

Wut loderte in Cesar auf. Die Kamera war wieder auf Lexies Gesicht gerichtet. Eine Träne rollte über ihr Gesicht. Eine echte Träne.

Cesar sprang auf, hätte dabei fast den Tisch mit den Monitoren umgeworfen. Er musste zu ihr! Mit ausholenden Schritten marschierte er zu der Tür, stieß den Regieassistenten, der ihn aufhalten wollte, unwirsch zur Seite und drückte die Tür auf, gerade als in dem Zimmer der Ruf ertönte: „Szene Einhundert, die einundzwanzigste …“

„Genug!“ Cesars Stimme klang scharf wie ein Peitschenknall.

Lexie drehte den Kopf zu Cesar. Die blauen Augen standen riesengroß in ihrem Gesicht … ein stummes Flehen lag darin. Das war nicht mehr gespielt, das war echt. Er wusste nicht, warum, aber er wusste es einfach.

Er marschierte zu Lexie, riss sie an sich. Und zum ersten Mal in zwei Tagen fühlte er sich wieder einigermaßen normal.

Der Regisseur plusterte sich auf. „Was soll das, Da Silva? Sie können nicht einfach …“

Mit Lexie auf den Armen – Lexie, die sich viel zu leicht und zerbrechlich anfühlte – drehte er sich zu dem Regisseur um. „Sie befinden sich auf meinem Besitz. Und auf meinem Besitz werde ich genau das tun, was ich will“, sagte er klirrend kalt.

„Aber die Szene ist noch nicht fertig …“

„Wenn die Szene noch immer nicht fertig ist, sollten Sie den Job als Regisseur besser an den Nagel hängen.“ Damit marschierte Cesar zum Raum hinaus, Lexie schützend an sich gehalten.

Er trug sie bis zu seinem Apartment und in sein Schlafzimmer. Mit ihr auf dem Schoß setzte er sich auf die Bettkante. Er bebte am ganzen Körper, Adrenalin und Wut tobten in ihm.

Erst nach einer lange Weile bewegte Lexie sich. „Ich würde gerne duschen“, sagte sie leise, ohne ihn anzusehen.

Cesar stand auf, stellte sie auf die Füße. Endlich hob sie den Blick zu ihm, aber ihre Augen waren leer. So als würde sie ihn gar nicht sehen.

Er ging ins Bad, drehte die Dusche auf. „Soll ich dir helfen?“, bot er ihr an.

Sie schüttelte den Kopf, verschwand im Bad. Nur mit Mühe hielt Cesar sich davon ab, ihr zu folgen.

Es dauerte lange, bevor das Wasserrauschen endlich aussetzte. Irgendwann kam Lexie, in seinen Bademantel eingewickelt, wieder aus dem Bad hervor. Das Haar hing ihr nass über den Rücken.

„Hier, trink das.“ Cesar reichte ihr ein Glas Cognac.

Sie krauste die Nase, nahm den Schwenker aber an und nippte, reichte ihm das Glas wieder zurück. Er stellte es auf dem nahen Tisch ab. Er wusste nicht, was er sagen sollte, was er tun konnte.

„Du hättest eine solche Szene nicht spielen sollen.“ Er zog eine Augenbraue in die Höhe, als sie trotzig das Kinn anhob. „Oder möchtest du zurück, um auch noch die nächsten zehn Takes durchzustehen?“

Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, Cesar stützte sie und führte sie in den Wohnraum zur Couch. „Nein, das dachte ich mir.“ Mit verschränkten Armen stellte er sich vor sie, auch wenn er sich zu ihr setzen und sie an sich ziehen wollte. Ich brauche Raum, hatte sie gesagt, und in Gedanken fluchte er. „Sagst du mir jetzt, was mit dir los ist?“

Lexie sah zu Cesar auf, wandte dann hastig das Gesicht wieder ab. Er wirkte so … streng, so entschlossen. Die Rüstung, mit der sie sich die letzten zwei Tage umgeben hatte, fiel von ihr ab.

Als er da so entschieden in die Szene geplatzt war … Er würde nie ahnen, wie dankbar sie ihm dafür war. In ihr hatte immer der verzweifelte Wunsch gelebt, wissen zu können, dass jemand kommen und sie retten würde.

„Wieso bist du ins Set geplatzt?“, stellte sie die Gegenfrage.

Er lief im Zimmer auf und ab, strahlte ungezügelte Energie aus. „Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung. Aber als ich da draußen auf dem Monitor mit angesehen habe, wie … Irgendetwas stimmte nicht mit dir, das wusste ich.“ Er blieb stehen, schüttelte den Kopf. „Das war nicht gespielt von dir, Lexie.“

Er hatte es also gespürt. „Du hast recht, es war nicht gespielt … zum Schluss nicht mehr“, gab sie zu. Als er sich einen Stuhl nahm und sich vor sie setzte, sie nachdenklich studierte, stellte sie fest, dass sie es ihm erzählen wollte. Sie holte tief Luft. „Mit vierzehn wurde ich von dem Mann meiner Tante vergewaltigt.“

„Was?“ Entsetzt starrte er sie an.

Sie kaute an ihrer Lippe, aber jetzt war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen. „Meine Eltern waren mit meiner Tante ausgegangen, mein Onkel hatte sich bereit erklärt, den Babysitter zu spielen. Als die anderen schliefen, hat er mich ins Schlafzimmer meiner Eltern gezerrt und dort vergewaltigt.“

„Die anderen?“

„Meine fünf jüngeren Geschwister.“

Dios mio, Lexie! So ein krankes Monster …“ Er wirkte, als sei ihm speiübel. „Deshalb hast du mich an dem Abend so angesehen. Du hattest Angst, ich würde dir etwas antun …“

Hastig schüttelte sie den Kopf. „Nein, Cesar, vor dir hatte ich keine Angst.“ Sie legte die Hand auf seinen Arm, fast wäre er zurückgezuckt. „Ich wusste, dass diese Szene bevorstand. Davor grauste mir … Es ist das erste Mal, dass ich so etwas spielen muss. Es lag mir schon die ganze Zeit über im Magen …“

Cesar machte sich von ihrem Griff frei und stand auf, lief unruhig im Zimmer auf und ab. Als er sich zu ihr umdrehte und sie anblickte, glitzerten seine Augen hart. „Mein Gott“, wiederholte er.

Schmerz flammte mit einem Mal in ihr auf. Er sah sie an, als wäre sie eine Fremde. Beschmutzt. Ekelerregend. Das Schuldgefühl, gegen das sie so lange und hart gekämpft hatte, wallte in ihr auf. Du hast doch darum gebettelt. Hast ständig mit deinem kleinen Hintern vor meiner Nase gewackelt. Die Worte ihres Vergewaltigers hallten noch heute in ihren Ohren.

Ihr war eiskalt. „Ich muss mich entschuldigen. Ich hätte nichts davon sagen sollen.“

Sie stand auf. Verachtete sich selbst für ihre Schwäche, dass sie Cesar ihr Geheimnis gebeichtet hatte. Dass sie sich dazu hatte verleiten lassen zu glauben, seine Intuition gäbe ihm das Recht, es zu erfahren.

„Wohin gehst du?“

„In mein Zimmer.“

Sie steuerte die Tür an, doch Cesar hielt sie bei der Hand fest. „Verdammt, Lexie, du bleibst hier.“

Heiße Tränen brannten in ihren Augen. Es machte sie nur noch wütender. Sie hatte nicht einmal geweint, als es passiert war. Dazu war sie zu schockiert gewesen, zu traumatisiert. Aber dieser Mann … mit einem Blick, mit einer Berührung brachte er sie dazu, sich in Tränen aufzulösen, ließ sie sich wünschen, sie könne sich an ihn lehnen und sich auf ihn verlassen, wenn sie doch so lange allein zurechtgekommen war …

Sie riss ihre Hand los. „Lass mich in Ruhe, Cesar. Lass mich einfach gehen.“

Er schüttelte den Kopf. „Du solltest jetzt nicht allein sein.“

Der Schmerz wuchs an. Cesar fühlte sich einfach nur verpflichtet. „Ich habe die Therapie schon vor Jahren abgeschlossen. Du brauchst nicht den barmherzigen Samariter zu mimen, nur weil deine Bettgespielin defekte Ware ist.“

Jetzt wurde Cesar wütend. „Lege mir nicht Worte in den Mund, die ich nicht gesagt habe. Die ich nicht einmal denke. Du bist nicht defekt. Du bist perfekt.“

Ihr Ärger verpuffte, ließ sie schwach und zitternd zurück. „Es tut mir leid, ich hätte dir nichts davon erzählen sollen.“

„Ich bin froh, dass du es getan hast. Es ist nur verdammt schwer zu verarbeiten.“ Er ließ sie los, trat von ihr zurück, und Lexie fühlte sich, als hätte man ihr etwas genommen.

„Hör zu, ich komme klar“, lenkte sie ein. „Ich wusste, dass diese Szene schwierig wird. Anfangs wollte ich das Filmangebot deshalb sogar ablehnen, aber dann habe ich mich entschieden, mich davon nicht aufhalten zu lassen. Das ist lange her, Cesar, und ich habe alles Nötige unternommen, um darüber hinwegzukommen. Eine solche Szene ist selbst unter normalen Umständen haarig. Für jeden.“

Kopfschüttelnd kam Cesar wieder auf sie zu, berührte ihre Wange. „Du hättest das nicht allein durchmachen dürfen.“

Die Emotionen, die sich in ihr aufbauten, ängstigten sie. „Ich war immer allein.“

Er musterte sie intensiv, und Sehnsucht und Verlangen erwachten in ihr. Lexie legte ihre Hand auf seine.

„Bitte …“

Ein Wort nur. Sie sah, wie seine Augen sich weiteten, und wusste, er hatte verstanden, worum sie ihn bat. Für einen Moment glaubte sie, er würde sich sträuben. Er würde nie ahnen, wie sehr sie ihn gerade jetzt brauchte.

„Bist du dir sicher?“, fragte er rau.

Sie nickte. „Ja.“

„Ich will dir nicht wehtun.“

„Das wirst du nicht.“

Aber er rührte sich nicht. Vielleicht wurde er ja nicht mit der hässlichen Wahrheit fertig. Lexie wich einen Schritt zurück, ließ ihre Hand sinken. Sie hatte sich gerade selbst zum Narren gemacht.

„Ist schon in Ordnung, wenn du mich nicht mehr willst. Ich …“

Seine Hand schoss blitzschnell vor, hielt sie fest. „Natürlich will ich dich“, knurrte er rau. „Du brennst wie Feuer in meinem Blut. Ich brauche dich.“

Ja, sie brauchte ihn auch. Ihre Sinne erwachten zum Leben, als er sie an sich zog und sie sanft küsste. Als er den Kopf hob und sie bei der Hand nahm, um sie ins Schlafzimmer zu führen, gab es kein Zögern bei ihr, nichts von der Panik, die sie vorhin am Set verspürt hatte, zeigte sich. Sie hatte sich in die Angst vor der Szene hineingesteigert, doch das war jetzt vorbei.

Vor dem Bett blieb Cesar stehen und sah ihr tief in die Augen. „Wenn du aufhören willst, dann …“

Sie schüttelte den Kopf, machte sich an den Knöpfen seines Hemdes zu schaffen. „Ich werde nicht aufhören wollen.“

Zärtlich schob er ihr den viel zu großen Bademantel von den Schultern, zärtlich küsste er sie, zärtlich drückte er sie auf das Bett nieder und zärtlich streichelte er sie. So viel endlose Zärtlichkeit … Und bei jeder Liebkosung murmelte er: „Vertrau mir.“

Und ja, sie vertraute ihm. Mit seinen vorsichtigen Berührungen entlockte er ihr immer wohligere Seufzer, die zu einem lustvollen Stöhnen wurden, bis sie die Finger in das Laken krallte und ihre Lust laut hinausschrie. Als er sich zwischen ihre Schenkel schob und in sie eindrang, hatte sie das Gefühl, als würde er ihre Seele berühren. Er musste es spüren: Sie liebte ihn. Es ging noch tiefer als Liebe, denn er war der erste Mann, mit dem sie sich erlaubte, intim zu sein. Er war der einzige Mann, mit dem sie sich vorstellen konnte, intim zu sein. Der Einzige, mit dem sie intim sein wollte.

Die Erkenntnis kam zusammen mit der Welle der seligen Erlösung, die sie mitriss und emporhob, bevor sie irgendwann wieder zur Erde zurückschwebte. Und Cesar war da, um sie aufzufangen. Mit ihr in den Armen rollte er sich auf den Rücken, sodass sie auf seiner Brust zu liegen kam, die Haut schweißfeucht, die hämmernden Herzen im Einklang.

Im Nachhall des Höhepunkts versuchte Lexie, die erschütternde Erkenntnis zu begreifen. So viel war in den letzten Tagen passiert. Aus Furcht vor der anstehenden Filmszene hatte sie sich von allen Leuten abgesondert. Es hatte sie an ihre erste Zeit in London erinnert, als sie ohne jede Hilfe und ganz allein dagestanden hatte.

Cesar stützte sich auf einen Ellbogen. „Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er besorgt.

Sie nickte und sah ihn an. Das Haar war zerzaust. Ein leichter Bartschatten lag auf seinem Gesicht, seine Augen glühten wie grüne Edelsteine. Sie liebte ihn. Nur wusste sie auch, dass er nur Verlangen nach ihr empfand … und im schlimmsten Fall Mitleid.

Cesars Stimme drang in ihre Gedanken. „Wie ist es dann weitergegangen?“

Die Wärme in ihr schwand. „Mit wem? Mit meinem Onkel?“

Er nickte stumm.

Sie wappnete sich für den Schmerz, der jedes Mal zurückkehrte, wenn sie daran dachte. „Nichts. Meine Eltern wollten davon nichts hören. Sie waren tief religiös, Stützen der Gemeinde. Sie ertrugen den Gedanken an den Skandal nicht.“

„Er ist unbehelligt davongekommen?“ Cesar klang schockiert-

Sie zog das Laken um sich, setzte sich auf. „Ungefähr ein Jahr später kam er bei einem Autounfall ums Leben. Aber ja, vor dem Gesetz hat er sich nie verantworten müssen.“

„Wie haben sie dir nur so etwas antun können? Es einfach zu ignorieren!“

Sie konnte ihn nicht länger ansehen. Auf ihrer Seele lag ein noch schwärzerer Fleck. Plötzlich fühlte sie sich so müde und leer. Ende der Woche würde die Crew nach London zurückkehren, dann würde sie Cesar so oder so verlieren.

„Das ist noch nicht alles“, hob sie leise an. „Ich wurde schwanger von der Vergewaltigung. Während der Schwangerschaft versteckten meine Eltern mich bei einer entfernten Verwandten auf dem Land. Für neun Monate lebte ich praktisch das Leben einer Gefangenen. Mit knapp fünfzehn gebar ich einen Sohn. Ich nannte ihn Connor. Zwei Tage nach der Geburt wurde er zur Adoption freigegeben. Ich weiß nur, dass er irgendwo in der Nähe von Dublin aufwächst. Und dass sie ihm Connor als zweiten Namen gelassen haben.“

Sie ließ Cesar nicht aus den Augen. Er schien zutiefst erschüttert. Das war es dann also wohl. Sie hatte die ganze hässliche Wahrheit vor ihm ausgebreitet. Sie hatte immer gewusst, dass es zu viel war. Zu viel für jeden, erst recht für jemanden, der eine lockere Affäre gewollt hatte, keine düsteren Geheimnisse.

Mit blinden Augen stand sie vom Bett auf.

Es war vorbei.