Aus einiger Entfernung beobachte Cesar Da Silva die Menschen, die sich um das schlichte Grab versammelt hatten, und sein Magen zog sich krampfhaft zusammen. Nur widerwillig gestand er sich ein, dass ihn die Zeremonie berührte. Und nicht zum ersten Mal fragte er sich, wieso er überhaupt hergekommen war. In der Jackentasche schlossen sich seine Finger um das kleine Etui.
Ein ironisches Lächeln umspielte seine Lippen. Wer hätte gedacht, dass er, der Herr der Logik, mit siebenunddreißig sich derart gefühlsduselig verhalten würde?
Langsam löste sich die kleine Gesellschaft auf, die Trauergäste gingen ihrer Wege über den Friedhof mit den aufwändigen Grabsteinen und dem grünen Gras, offensichtlich regelmäßig gewässert in der Athener Hitze. Schließlich standen nur noch zwei Männer an dem offenen Grab, beide groß, beide mit dunklem Haar, beide breit gebaut. Genau wie Cesar.
Es war nicht verwunderlich, dass sie sich ähnelten. Er war ihr Halbbruder. Von dessen Existenz sie nichts wussten. Einer der Männer legte dem anderen die Hand auf die Schulter. Das da vorn waren Rafaele Falcone und Alexio Christakos. Sie hatten alle drei dieselbe Mutter, aber verschiedene Väter.
Bei dem Gedanken an die Familie, die ihm verweigert worden war, erwartete Cesar gleißende Rage zu verspüren, stattdessen fühlte er nur dumpfen Schmerz.
Die Männer kamen in seine Richtung, er konnte ein paar Worte aufschnappen, die der Wind ihm zutrug. Es klang wie: „Nicht einmal für die Beerdigung konntest du dich rasieren?“ Falcone erwiderte etwas mit einem doppeldeutigen Lächeln, und Christakos sagte grinsend etwas zu ihm.
Die Leere in Cesar füllte sich prompt mit Ärger. Was unsinnig war. Ja, die Männer frotzelten gutmütig miteinander, nur wenige Meter vom Grab der Mutter entfernt. Aber seit wann empfand er einen Beschützerinstinkt für die Frau, die ihm im Alter von drei beigebracht hatte, dass man sich auf niemanden verlassen konnte?
Langsam ging Cesar auf die beiden zu. Falcone sah auf, die Worte erstarben ihm auf den Lippen, das Lächeln schwand. Erst sah er Cesar mit forschendem Blick an, dann, als Cesar schweigend zurückstarrte, wurde Falcones Blick kalt. Cesar registrierte, dass beide Männer die schönen und ach so verräterischen Augen der Mutter geerbt hatten, wenn auch in unterschiedlichen Grüntönen.
„Können wir Ihnen helfen?“, fragte Falcone kühl.
Mit einem schnellen Blick zu dem Jüngeren an Falcones Seite ließ Cesar den Blick zu dem Grab weiter hinten wandern. Abfällig verzog er die Lippen. „Gibt es noch mehr von uns?“
Falcone sah zu Christakos, der die Stirn runzelte. „Von uns? Wovon reden Sie?“
Cesar hielt die düstere Leere in sich eisern in Schach. „Du erinnerst dich nicht, oder?“, wandte er sich an Falcone.
Doch an den Augen des Halbbruders konnte er sehen, dass eine vage Erinnerung auflebte. „Sie ist mit dir zu uns gekommen“, sagte er. „Du musst ungefähr drei gewesen sein. Ich war damals fast sieben. Sie wollte mich mitnehmen, aber ich wollte nicht. Nicht, nachdem sie mich allein gelassen hatte.“
„Wer sind Sie?“, fragte Falcone heiser.
Cesar lächelte schmal, seine Augen erreichte das Lächeln jedoch nicht. „Ich bin dein älterer Bruder – Halbbruder. Ich heiße Cesar Da Silva. Ich kam her, um der Frau, die mich geboren hat, die letzte Ehre zu erweisen. Auch wenn sie es nicht wirklich verdient hat. Aber ich war neugierig, wer noch aus der Versenkung auftauchen würde. So wie es aussieht, sind es nur wir drei.“
Christakos explodierte. „Was, zum Teufel …?“
Cesar sah ihn nur kalt an. Irgendwo tief in ihm meldeten sich Gewissensbisse, darüber, dass er eine solche Neuigkeit ausgerechnet an einem Tag wie diesem eröffnete. Aber dann dachte er an die vielen düsteren Jahre, die diese beiden Männer nicht hatten durchmachen müssen, und unterdrückte alle Skrupel.
Falcone sah noch immer benommen aus. Er zeigte auf seinen Halbbruder. „Das ist Alexio Christakos … unser jüngerer Bruder.“
Cesar wusste genau, wer der andere war … die anderen beiden. Seine Großeltern hatten sichergestellt, dass er alles über sie erfuhr. „Drei Brüder von drei Vätern … doch euch hat sie nicht aufgegeben und den Wölfen überlassen.“
Er machte einen Schritt vor, genau wie Alexio. Die beiden Männer standen sich fast Nase an Nase gegenüber, Cesar nur ein Stückchen größer.
„Ich bin nicht gekommen, um mich mit dir anzulegen, Bruder“, stieß Cesar aus. „Mit euch habe ich kein Problem. Mit keinem von euch beiden.“ Lügner, meldete sich eine Stimme in seinem Hinterkopf.
Alexios Lippen wurden schmal. „Nur mit unserer verstorbenen Mutter … falls es stimmt, was Sie behaupten.“
Cesar lächelte bitter. „Oh, es ist die reine Wahrheit – und daher umso bedauerlicher.“
Er ging an den beiden vorbei zu dem offenen Grab, bevor ihn Emotionen überwältigten, die er nicht beim Namen kennen konnte. Am Grab zog er das Etui aus seiner Jackentasche und warf es in das gähnende Loch, es landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Sargdeckel. In der Schatulle war ein altes silbernes Medaillon mit der Abbildung des Heiligen Pedro Regalado, dem Schutzpatron der Stierkämpfer.
Noch heute war die Erinnerung so lebendig wie eh und je. Seine Mutter in dem schwarzen Kostüm, das Haar streng zurückgekämmt. Trotz der rot geweinten Augen war sie unvorstellbar schön gewesen. Sie hatte sich das Medaillon vom Hals genommen und es ihm umgehängt.
„Es wird dich beschützen, Cesar. Ich kann es im Moment nicht. Trage es immer, hörst du? Ich komme bald zurück und hole dich.“
Sie war nicht zurückgekommen. Und als sie dann kam, war es zu spät. Etwas in seinem Innern war gestorben – die Hoffnung.
In jener Nacht hatte Cesar das Medaillon abgenommen. Sechs Jahre war er damals alt gewesen, und das Wissen hatte sich in ihm gefestigt, dass er sich nur auf sich selbst verlassen konnte, auf niemanden sonst. Das Medaillon hatte er schon lange nicht mehr nötig, seine Mutter sollte es zurückbekommen.
Irgendwann wandte er sich vom Grab ab. Seine Halbbrüder standen noch immer an derselben Stelle, steif und mit undurchdringlichen Mienen. Fast hätte er gelächelt, er kannte diese Mienen so gut wie seine eigene. Druck lag auf seiner Brust, dort, wo sein Herz sitzen müsste. Aber unzählige Frauen hatten ihm immer wieder bestätigt, dass er kein Herz besaß.
Nein, er hatte diesen Männern nichts zu sagen. Diesen Fremden. Nicht einmal Neid verspürte er noch, nur dumpfe Leere.
Er ging zu seinem Wagen zurück und instruierte seinen Chauffeur, loszufahren. Es war vollbracht. Er hatte sich von seiner Mutter verabschiedet. Das war mehr, als ihr von ihm zustand. Sollte ein winziger Rest seiner Seele noch nicht komplett verdörrt sein, bestand nun vielleicht die Hoffnung, dass sie noch gerettet werden konnte.