Sie mussten bewusstlos geworden sein. Seltsamerweise konnte sich Grand nicht mehr an den Sprung von der Fähre der Wächter hinunter zur Oberfläche der Sphäre der Erleuchtung
erinnern. Seine letzte Erinnerung bestand darin, dass er und Jalina den Schritt ins Leere gewagt hatten. Danach – nichts mehr. Bis jetzt!
Grand öffnete vorsichtig die Augen. Neben ihm lag Jalina. Er stützte sich auf die Ellbogen und blickte sich um. Er konnte kaum glauben, was er sah.
Dann hörte er ein leises Stöhnen, das in einen gemurmelten Fluch überging. Auch Jalina war wach.
»Bist du in Ordnung?«, fragte Grand.
»Ja, ich denke schon. Wie lange waren wir weg?«, kam die Gegenfrage, gefolgt von einem überraschten Ausruf, als auch Jalina sich umblickte.
»Das kann nicht echt sein«, sagte sie erstaunt, ohne Grands Antwort auf ihre Frage abzuwarten. Es war nicht herauszuhören, ob sie mit diesen Worten Hoffnung oder Bestürzung ausdrücken wollte.
»Ich fürchte, das ist es doch!« Grand stand auf und dreht sich einmal um die eigene Achse. Sie befanden sich mitten in einer Grassteppe – oder was immer hier als Gras durchging. Rings um sie erstreckte sich ein Teppich aus kurzen, dunkelblauen, dicht stehenden Halmen. Zu seiner Linken zeichneten sich Berggipfel in der Ferne ab. Ohne den Durchmesser dieses Planeten zu kennen, war es schwierig, die Entfernung abzuschätzen. Wenn er der Erde ähnelte, worauf die kaum unterscheidbare Gravitation hinwies, mussten es mindestens dreißig Kilometer bis zu den ersten Hängen sein. Davor und dahinter breitete sich eine endlose Grassteppe aus, durchzogen von sanften Hügeln und nur hin und wieder unterbrochen von baumähnlichen Gewächsen mit ebenfalls dunkelblauen Blättern. Rechts von ihnen wurde der Grasbewuchs spärlicher und ging allmählich in eine Sandfläche über, die sich zumindest optisch nicht von einer irdischen Wüste unterschied. Ein Ende war nicht auszumachen.
Am wolkenlosen, orangefarbenen Himmel stand eine große, rote Sonne ziemlich genau im Zenit. Möglicherweise handelte es sich um einen Überriesen oder aber der Planet befand sich lediglich auf einer engen Umlaufbahn. Grand tippte auf Ersteres. Planeten in einem engen Orbit befanden sich meist in einer gebundenen Rotation mit dem Zentralgestirn und wendeten ihm stets die gleiche Seite zu. Dies war hier offensichtlich nicht der Fall, da die Temperatur durchaus erträglich, wenn auch sehr warm war. Bei einer gebundenen Rotation hätten hier Temperaturen herrschen müssen, die ein Überleben ohne einen hitzebeständigen Raumanzug unmöglich gemacht hätten, von Pflanzenbewuchs ganz zu schweigen.
»Fuck!«, sagte Jalina und bewies wieder einmal ihre Vorliebe für terranische Slangausdrücke. »Ich dachte, wir sollten gegen mehr als hundert andere Kandidatenpaare antreten und uns einen Wettkampf auf Leben und Tod liefern. Aber hier ist ja niemand. Was soll der Scheiß?«
Grand wusste, dass Jalina ihre Frustration hinter dieser unflätigen Sprache verbarg und nahm es ihr nicht übel. Er hätte am liebsten selbst lauthals geflucht. Das alles hier ergab keinen Sinn.
»Einmal abgesehen davon haben wir ein ganz anderes Problem«, sagte er stattdessen. »Wir wissen nicht, wo wir sind, und tragen weder irgendwelche Waffen bei uns, noch verfügen wir über Defensivsysteme. Aber wenn wir uns in einem Wettkampf befinden, wird es sicher nicht lange friedlich bleiben.«
»Und wir sind völlig wehr- und schutzlos«, ergänzte Jalina. »Außerdem verfügen wir über keinerlei Vorräte, und ich sehe hier nichts, was ich essen oder trinken möchte.«
»Ich sehe nichts, was wir essen oder trinken könnten , selbst wenn wir wollten«, entgegnete Grand.
»Was jetzt?«
»Es bringt nichts, einfach hier sitzen zu bleiben. Ich habe zwar keine Ahnung, was von uns erwartet wird, aber Passivität ist es bestimmt nicht. Ich sehe nur ein Ziel, das wir ansteuern können, und das sind die Berge da hinten.« Er deutete auf die Bergkette, die sich in der Ferne in einem blassen Grau abzeichnete.
»Dann los! Es macht keinen Sinn zu warten«, sagte Jalina entschlossen.
»Einen Moment noch!« Grand wandte sich ab und ging zu einem etwa einhundert Meter entfernten Baum. Die vielleicht drei Meter hohe Pflanze besaß einen kräftigen Stamm, der von einer schwarzen, rauen Rinde überzogen war. Ungefähr in Grands Kopfhöhe gabelte er sich in ein paar Dutzend kerzengerader Äste, die ringsum mit den dunkelblauen Blättern bewachsen waren. Weitere Gabelungen oder Zweige gab es nicht. Das Gebilde wirkte beinahe künstlich.
Grand richtete sich auf und ergriff einen der armdicken Äste. Mit vollem Körpergewicht hängte er sich an das Ende und begann zu schaukeln. Schließlich brach der Ast mit einem lauten Knacken in der Mitte durch. Eine gelbe, dickflüssige Substanz trat an der Bruchstelle aus. Das holzartige Material unter der Rinde war hellbraun und hart.
Grand entfernte alle Blätter von dem etwa einen Meter langen Aststück und wog es prüfend in der Hand.
»Besser einen Knüppel als gar keine Waffe«, sagte er zu Jalina. »Alle Kandidaten mussten ihre Waffen abgeben, und das verschafft uns zumindest einen kleinen Vorteil bei überraschenden Begegnungen.«
Jalina zuckte nur mit den Schultern. »Wenn du dich damit besser fühlst, soll es mir recht sein. Wir sollten uns beeilen. Es wird einige Stunden dauern, bis wir die Berge erreichen. Die Sonne hat sich schon ein ganzes Stück weiterbewegt und wir sollten vor Anbruch der Dunkelheit dort sein.«
Grand nickte zustimmend. Auch er hoffte, einen geschützten Platz zu finden, bevor die Nacht hereinbrechen würde. Hier auf der offenen Ebene wären sie einem Angriff schutzlos ausgeliefert.
Die Kachlax hatten ihnen zwar ihre Waffen und auch die Skinfield-Generatoren abgenommen, doch sie hatten ihre Bordoveralls anbehalten dürfen. Entweder hatten die Wächter der Sphäre nicht bemerkt, dass ihre Bekleidung mit Nanotechnologie gespickt war, oder es war ihnen egal gewesen. Auch die Mini-Translatoren im Gehörgang hatte man ihnen gelassen.
Abgesehen von den integrierten Analysesensoren und dem im linken Ärmel eingearbeiteten Touchpad – das Grand längst angezeigt hatte, dass es hier keine für ihren Metabolismus gefährlichen Substanzen oder Krankheitserreger in der Luft gab – konnte das schmutzabweisende Material auch die Körpertemperatur regeln. Je nach dem Bedürfnis seines Trägers kühlte oder wärmte es so, wie es die Umgebung verlangte. Zumindest würden sie bei dem Gewaltmarsch und den hier herrschenden Temperaturen keinen Hitzestau erleiden. Zudem machten die Nanoassembler im Blut und in den Zellen ihre Körper überaus leistungsfähig. Allerdings waren sie nicht in der Lage, verlorene Flüssigkeit oder Energie zu ersetzen. Dies konnte bald zum Problem werden. Grand und Jalina mussten unbedingt Wasser und Nahrung auftreiben.