Sie erreichten die ersten Ausläufer des Gebirgszugs mit Anbruch der Dunkelheit. Das Gelände stieg leicht an, der Baumbewuchs wurde etwas dichter und große Felsbrocken machten das Vorankommen schwieriger. Dann hörte Grand das Plätschern von Wasser.
»Ich glaube, ich höre einen Bach oder so was«, sagte er.
»Ja, ich höre es auch«, bestätigte Jalina.
Sie umrundeten einen weiteren, mannshohen Felsbrocken und sahen vor sich einen kleinen, von weiteren Felsen umschlossenen Kessel. Zwischen zwei der Brocken entsprang ein kleiner Wasserfall, der munter herunter plätscherte und ein Rinnsal bildete, das zwischen den Felsen und in der zunehmenden Dunkelheit verschwand.
»Wir sollten hier rasten«, schlug Jalina vor. »Morgen können wir dann die Berge besteigen. Vielleicht sehen wir von weiter oben etwas.«
»In Ordnung!«, stimmte Grand zu. »Irgendeinen Grund, warum man uns hier abgesetzt hat, muss es ja geben. Wenn wir ein paar Hundert Meter höher sind, können wir die ganze Ebene überblicken.«
Jalina stöhnte. »Ich hoffe nur, wir müssen nicht über den gesamten Gebirgszug, um unser Ziel zu erreichen, was es auch sein mag. Meine Füße beschweren sich jetzt schon.«
Sie beugte sich zu dem kleinen Wasserfall, um mit den Händen etwas von der dringend benötigten Flüssigkeit zu schöpfen.
»Stop! Warte!«, rief Grand. »Wir wissen nicht, ob wir das trinken können.«
Jalina zuckte zurück, was ihr das Leben rettete. Nicht etwa, weil das Wasser ungenießbar gewesen wäre, sondern weil im nächsten Augenblick ein faustgroßer Stein dicht an ihrem Kopf vorbeiflog und an der Felswand zerschellte. Er hätte ihr mit Sicherheit den Schädel zerschmettert.
Sofort hechten die beiden in die Deckung eines Felsens. Grand sah sich suchend um, was in der hereinbrechenden Dunkelheit nicht viel Sinn machte. Er konnte zwar abschätzen, aus welcher Richtung der Stein gekommen sein musste, doch er konnte nicht sicher sein, ob sich noch weitere Angreifer in der Nähe befanden.
»Zumindest wissen wir jetzt, dass wir hier nicht alleine sind«, flüsterte Jalina.
»Und dass wir hier wie auf dem Präsentierteller sitzen«, gab Grand grimmig zurück.
»Denkst du, das sind andere Kandidaten?«
»Keine Ahnung«, musste Grand zugeben. »Entweder das oder der Planet ist nicht unbewohnt und wir sind hier nicht willkommen.«
»Zum Glück scheinen der oder die Unsichtbaren ebenfalls nicht über Waffen zu verfügen. Das spricht eher für andere Kandidaten.«
»Es könnte sich auch um das hiesige Äquivalent zu unseren Neandertalern handeln. Steinzeitmenschen oder dergleichen.«
»Rückzug?«
»Rückzug und Umgehung. So leicht lassen wir uns hier nicht vertreiben.«
Inzwischen war es fast völlig dunkel geworden. Am pechschwarzen Himmel waren nur wenige Sterne zu sehen. Grand mutmaßte, dass sich das System der roten Riesensonne am äußeren, sternarmen Rand seiner Galaxie befinden musste. Da es hier auch keinen Mond zu geben schien – es sei denn, er stünde gerade auf der anderen Seite des Planeten –, konnte man kaum die Hand vor Augen sehen. Das spärliche Licht reichte gerade aus, um nicht gegen den nächsten Felsblock zu laufen. Sich unbemerkt an den unbekannten Gegner heranzupirschen würde nicht ganz einfach sein.
In den nächsten zwanzig Minuten gelang es Grand und Jalina, sich so leise wie möglich den Hang hochzuarbeiten. Sie befanden sich jetzt seitlich und etwa zwanzig Meter über dem kleinen Kessel mit der Wasserquelle. Sie hatten bewusst einen möglichst großen Bogen geschlagen, um sich mit Sicherheit oberhalb des Gegners zu befinden.
Doch ihre Vorsicht wäre nicht notwendig gewesen, wie sich bald herausstellte. Direkt neben der Quelle flackerte ein Feuer auf.
»Sind die wirklich so blöd? Die können doch nicht ernsthaft glauben, sie hätten uns mit ihrem Steinchen vertrieben.« Jalina flüsterte immer noch, obwohl die beiden im Licht des Feuers sichtbaren Gestalten sich ihrerseits keine Mühe gaben, leise zu sein.
»Ich habe die zwei schon mal gesehen«, raunte Grand. »Sie waren in der gleichen Gruppe wie Rigoran und Silvar, als es auf die Fähre ging.«
»Wir hätten uns die Wasserstelle teilen können!«
»Vergiss nicht, dass dies ein Wettkampf ist. Wir kennen zwar weder die Regeln noch wissen wir, wie die einzelnen Runden ablaufen. Aber es ist sicher, dass Kandidatenpaare ausscheiden müssen. Also heißt es jeder gegen jeden. Allerdings sind sie wirklich nicht besonders klug vorgegangen.«
»Gut für uns!«, stellte Jalina befriedigt fest. »Sollen wir sie ausschalten, umbringen oder was?«
»Ich habe keine Ahnung, was man von uns erwartet«, musste Grand zugeben, dem der Gedanke, zwei andere Anwärter hinterrücks zu überfallen, nicht sonderlich gefiel. Auch wenn die beiden Fremden am Feuer diese Skrupel offensichtlich nicht teilten.
»Du könntest sie mit deinem Knüppel ruhigstellen«, schlug Jalina vor.
Tatsächlich schleppte Grand nach wie vor das Aststück mit sich herum. Er hatte es provisorisch am Gürtel seines Overalls befestigt, um es nicht ständig in der Hand tragen zu müssen.
Er war überzeugt, jenes Paar vor sich zu haben, das zusammen mit den Agenten des Devorators auf die Fähre gegangen war. Kurz kam ihm der Gedanke, ob Rigoran und Silvar wohl ebenfalls auf diesem Planeten sein mochten. Es spielte allerdings keine große Rolle. Ihr vordringlichstes Problem befand sich am Feuer unter ihnen. Sie mussten unbedingt an die Quelle herankommen, wenn sie am nächsten Tag eine Chance haben wollten, ihren Marsch fortzusetzen. In der Dunkelheit eine andere Wasserstelle finden zu wollen war aussichtslos. Ohne Wasser aber wäre für sie beide bald Endstation. Grand spürte schon jetzt ein drängendes Durstgefühl, und er war sich sicher, dass es Jalina nicht anders ging.
Die beiden Unbekannten waren von annähernd humanoider Gestalt. Allerdings besaßen sie außer den zwei stämmigen Beinen vier Arme, zwei auf jeder Seite. Ihre Körper waren vollständig behaart und sie trugen lediglich eine Art Lendenschurz. Der Kopf ähnelte dem einer Katze, mit Schnurrhaaren, kleinen, spitzen Ohren und einer vorstehenden Schnauze. Vielleicht konnten sie im Dunkeln ebenso gut sehen wie eine Katze, was den gezielten Steinwurf erklären würde – und ein unbemerktes Anschleichen schwieriger machte.
Grand konnte keine Ausrüstungsgegenstände sehen. Wahrscheinlich hatte man auch diesen beiden jegliches technologische Gerät vor dem Sprung in die Sphäre abgenommen.
»Vielleicht können wir mit ihnen reden«, schlug Grand leise vor.
»Dein verdammter Humanismus wird uns noch mal umbringen!« Jalina schüttelte den Kopf. »Aber meinetwegen! Wie sollen wir es angehen?«
»Du versuchst, dich näher heranzuarbeiten. Ich umgehe sie in einem Bogen und komme aus der anderen Richtung.«
»Na schön. Aber halte vorsichtshalber deinen Knüppel bereit!«
Grand hauchte Jalina einen Kuss auf die Wange und kroch auf Händen und Knien von dem Felsblock weg, hinter dem sie Deckung gesucht hatten. Erst als er sicher war, dass man ihn von der Wasserquelle aus nicht mehr sehen konnte, erhob er sich und schlich denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Er versuchte, so leise wie möglich zu sein. Vielleicht konnten die beiden auch so gut hören wie eine Katze.
Eine Viertelstunde später stand er wieder an der Stelle, die sie bereits vor Einbruch der Nacht passiert hatten. Zur Wasserstelle waren es nur noch ein paar Meter. Grand konnte den Schein des kleinen Feuers zwischen den Felsen hindurchschimmern sehen. Er atmete tief durch und ging um die Felsen herum.
»Hallo, Jungs«, rief er, während er aus der Deckung des letzten Felsbrockens trat. Er hielt beide Hände mit den Handflächen nach außen in die Höhe. Das universelle Zeichen für Friedfertigkeit. Der winzige Translator übersetzte seine Worte in die an der Sphäre der Erleuchtung gebräuchliche Sprache. Über einen ebenso kleinen Lautsprecher im Kragen des Overalls wurden sie ausgegeben. »Ich dachte, wir sollten mal vernünftig miteinander reden.«
Die Reaktion erfolgte sofort und war eindeutig. Mit einem heiseren Fauchen warfen sich die beiden auf den ungebetenen Gast. Grand zog gerade noch rechtzeitig den Knüppel hervor, den er hinter seinem Rücken verborgen hatte. Er trat einen Schritt zur Seite und schwang ihn wie einen Baseballschläger. Krachend kollidierte seine primitive Waffe mit dem Kopf eines der Angreifer. Der Getroffene brach bewusstlos zusammen. Dann sprang ihn der zweite an und sie gingen gemeinsam zu Boden.
Mit zwei Händen umklammerte der Gegner Grands Hals, während er ihm mit den anderen beiden zwei schnelle, schmerzhafte Schläge in die Nieren versetzte, bevor er Grands Arme ergriff und ihn am Boden fixierte. Grand konnte den Kopf gerade noch zur Seite drehen, um einem zusätzlichen Kopfstoß zu entgehen. Die Stirn des immer noch fauchenden Angreifers traf nur seine rechte Gesichtshälfte, was allerdings ausreichte, ihn benommen werden zu lassen. Grand hoffte, dass der Angehörige jener ihm unbekannten Spezies seine Geschlechtsorgane an der gleichen Stelle hatte wie ein Terraner – und dass sie genauso empfindlich waren. Sein Gegner lag breitbeinig über ihm und versuchte, ihn zu erdrosseln. Grand riss sein rechtes Knie hoch und traf den richtigen Punkt. Das Fauchen ging in ein helles Quieken über. Allerdings verstärkte sich der Druck um seinen Hals nur noch mehr. Sein Gegner besaß offenbar eine hohe Schmerztoleranz. Grand wusste, dass er in den nächsten Sekunden bewusstlos werden würde, wenn es ihm nicht gelingen würde, seinen Gegner abzuschütteln.
Dann sackte der Unbekannte plötzlich in sich zusammen. Das Gewicht lastete schwer auf Grands Oberkörper. Grand blickte seitlich an dem Katzenkopf vorbei. Im schwachen Schein des Lagerfeuers zeichnete sich Jalinas Silhouette gegen den nächtlichen Himmel ab. Sie hielt einen faustgroßen Stein in der Hand, von dem Blut heruntertropfte.
»Was wärst du ohne mich?«, scherzte sie und ließ den Stein fallen.
Grand stieß den schweren Körper von sich herunter. »Wahrscheinlich tot«, krächzte er. Sein Hals schmerzte. Reden würde für einige Zeit unangenehm sein.
»Was machen wir mit den beiden?«, fragte Jalina.
»Am besten fesseln wir sie erst mal und unterhalten uns mit ihnen, wenn sie wieder wach sind. Vielleicht wissen sie mehr als wir darüber, was hier eigentlich gespielt wird.«
Wie sich schnell herausstellte, mussten sie nur denjenigen fesseln, den Grand mit dem Knüppel niedergeschlagen hatte. Der zweite der beiden Katzenartigen war tot. Anscheinend war seine Hirnschale weniger widerstandsfähig gewesen, als Jalina angenommen hatte. Da sie über nichts anderes verfügten, verwendeten sie den Lendenschurz des Toten, um dem anderen beide Armpaare auf den Rücken zu binden. Anschließend lehnten sie ihn sitzend an einen der Felsblöcke.
Nachdem sich Grand davon überzeugt hatte, dass das Wasser aus der Quelle trinkbar war, löschten sie endlich ihren brennenden Durst.
Schließlich begann sich der Bewusstlose zu regen. Grand versetzte ihm einen aufmunternden Tritt gegen den Oberschenkel. Ihr Gefangener öffnete die Augen und fauchte zornig, als er feststellte, dass man ihn gefesselt hatte.
»Hallo, Freundchen«, sagte Grand. »Das war sehr dumm von euch. Wir hätten uns die Quelle teilen können. Also, warum habt ihr uns angegriffen?«
»Wo ist mein Paladin?« Der Katzenartige benutzte die Verkehrssprache der Sphäre, außerdem hatte er den Begriff 'Paladin' erwähnt. Es konnte somit kein Zweifel bestehen, dass es sich bei ihm ebenfalls um einen Anwärter auf den Ruf der Erleuchtung handelte. Jedes Team besaß so etwas wie einen 'Teamleader' und einen Begleiter, den die Wächter der Sphäre 'Paladin' nannten.
»Er wurde zum Opfer eurer Dummheit. Leider hieß es er oder ich – und meine Begleiterin hat sich für mich entschieden.«
Wieder stieß der Katzenartige ein zorniges Fauchen aus. »Ich werde seinen Tod rächen!«, drohte er.
»Du wirst froh sein müssen, wenn wir dich laufen lassen«, sagte Grand. »Also, noch mal, warum habt ihr uns angegriffen?«
»Dies ist unsere Quelle! Wir haben sie vor zwei Tagen entdeckt und wollten uns hier erholen und stärken, bevor wir weiter zur Pyramide marschieren.«
Es fiel Grand schwer, seine Überraschung zu verbergen. »Vor zwei Tagen? Wie lange seid ihr schon hier?«
»Drei Tage dieses Planeten. Am ersten Tag sind wir bis hierher gewandert und am nächsten Tag haben wir vom Berg aus in der Ferne die Pyramide entdeckt. Heute wollten wir uns noch ausruhen und morgen losmarschieren.«
Grand erschrak, als ihm klar wurde, was dies bedeutete. Die beiden waren nur wenige Minuten vor ihm und Jalina in die Sphäre eingedrungen, doch sie hatten hier bereits drei Tage verbracht. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Die Zeit verging hier wesentlich schneller! Und das war nur möglich, wenn sie in ein anderes Universum versetzt worden waren. Ein Blick zu Jalina verriet ihm, dass ihr derselbe Gedanke gekommen sein musste. Ihre blassblaue Haut war noch eine Spur bleicher geworden. Er wandte sich wieder dem Gefangenen zu.
»Welche Pyramide?«
»Ich werde nichts mehr sagen. Ihr habt meinen Paladin getötet und mein Weg ist hier zu Ende. Tötet mich ebenfalls und genießt euren Triumph. Ihr habt die erste Runde überstanden.«
Grand erinnerte sich an eine Aussage, die die Wächter getätigt hatten, kurz bevor Jalina und er in die Sphäre gesprungen waren. Erst ein einziges Mal in der jahrmillionenlangen Geschichte der Auswahlwettkämpfe war ein Teilnehmer zur Sphäre zurückgekehrt, allerdings war er schwer verletzt gewesen. Bevor er starb, war es ihm noch gelungen, davon zu berichten, dass die Verlierer jeder Runde in ein fremdes Universum versetzt würden. Wie es nun aussah, geschah die Versetzung bereits zu einem früheren Zeitpunkt, schon während des Wettkampfs. Sie waren eindeutig nicht mehr in dem Universum, aus dem sie gekommen waren.
»Wir werden nichts dergleichen tun, mein Freund«, sagte Grand. »Wir sind keine Mörder. Der Tod deines Begleiters war von uns nicht beabsichtigt, aber wir mussten uns verteidigen. Ihr hingegen hättet nicht davor zurückgeschreckt, uns hinterrücks zu erledigen. Es tut uns leid, dass es dazu kommen musste.«
Der Fremde spuckte Grand vor die Füße, was wohl auch bei seiner Spezies ein Ausdruck der Verachtung war. Ansonsten zeigte er keine Reaktion und antwortete auch nicht auf weitere Fragen.
Jalina überzeugte sich davon, dass die Fesseln noch festsaßen, dann legten sie sich, so bequem es eben ging, auf den Boden. Ihr Durst war zwar gestillt, doch Grand spürte ein nagendes Hungergefühl. Hunger lässt sich eher ertragen als Durst , überlegte er. Ohne Wasser sind wir nach drei Tagen tot, ohne Nahrung können wir es notfalls viel länger aushalten . Außerdem wusste er, dass das Hungergefühl nach einiger Zeit verschwinden würde.
Das kleine Feuer brannte allmählich herunter und erlosch. Jalina hatte sich an ihn gekuschelt und schlief bereits. Der lange Marsch forderte seinen Tribut. Grand starrte nachdenklich in den Himmel, versuchte, die wenigen Sterne zu zählen, und schlief darüber ein.