3. Kletterpartie


Grand wurde unsanft geweckt. Jalina rüttelte ihn an der Schulter. An ihrem Gesichtsausdruck konnte er erkennen, dass es Probleme gab.

»Was ist?«

Es war noch nicht ganz hell und Grands innere Uhr sagte ihm, dass er höchstens fünf Stunden geschlafen haben konnte. Die Tage auf diesem Planeten mussten kürzer sein, als er es von der Erde her gewöhnt war.

»Der Gefangene ist tot«, sagte Jalina. »Als ich wach wurde und nach ihm sehen wollte, habe ich ihn so vorgefunden.« Sie zeigte auf die zusammengesunkene Gestalt, die leicht zur Seite geneigt und mit nach von hängendem Kopf immer noch an dem Felsen lehnte, wo sie ihn zurückgelassen hatten.

»War mein Schlag mit dem Knüppel zu heftig? Ist er an einer Kopfverletzung gestorben?« Grand machte sich Vorwürfe. Ein Leben zu nehmen fiel ihm nicht leicht. Er lehnte Gewalt zwar nicht prinzipiell ab, aber wo immer es möglich war, versuchte er, sich dabei zurückzuhalten.

»Nein, dein Schlag hat ihn nicht umgebracht. Ich vermute, er hat sich selbst getötet.«

»Aber wie …?«

»Ich habe keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen konnte«, unterbrach ihn Jalina. »Die kleine Beule am Kopf kann es wohl kaum gewesen sein. Er hat nicht einmal geblutet. Vielleicht hat er seine Zunge verschluckt oder diese Spezies kann willentlich ihr Herz anhalten. Was auch immer. Jedenfalls ist er tot und es gibt keine sichtbaren Verletzungen.«

»Vielleicht ein giftiges Tier? So etwas wie eine Schlange, ein Skorpion oder eine Giftspinne. Wir wissen nichts über die hiesige Fauna.« Grand konnte nicht glauben, dass der Gefangene, von dem sie weder den Namen noch die Bezeichnung seiner Spezies erfahren hatten, sich selbst umgebracht haben sollte.

»Ich habe ihn oberflächlich untersucht und konnte keinen Einstich oder Biss finden. Er sieht auch viel zu friedlich aus, als dass er einen langen Todeskampf gehabt haben könnte. Wenn er gebissen oder gestochen worden wäre und sich schlecht gefühlt hätte, hätte er uns bestimmt geweckt. Nein, er wollte sterben und irgendwie ist es ihm gelungen.«

Grand rappelte sich stöhnend auf. Ihm taten sämtliche Knochen weh. Der Gewaltmarsch am vorigen Tag und die Nacht auf dem harten Boden hatten selbst seinen von den Nanoassemblern optimierten Körper strapaziert. Das Hungergefühl hatte ebenfalls nicht nachgelassen. Es hatte sich eher noch verstärkt.

Grand untersuchte den leblosen Körper sorgfältig, soweit dies im spärlichen Licht der aufgehenden Sonne möglich war. Auch er konnte keine äußeren Verletzungen feststellen. Der Tote sah aus, als würde er nur tief schlafen.

»Wir werden wohl nie erfahren, wie er es angestellt hat«, sagte Grand schließlich und richtete sich auf. »Da wir nun wach sind, können wir ebenso gut unsere Erkundung fortsetzen. Allerdings sollten wir die beiden hier nicht einfach liegen lassen.« Den zweiten Toten hatte er am Vorabend an eine Seite des kleinen Kessels gezogen, da es in der Dunkelheit unmöglich gewesen wäre, ihn ordentlich zu bestatten.

Jalina nickte. »Hier dürften genügend Steine herumliegen, um sie damit zu bedecken. Für den Fall, dass es hier Aasfresser geben könnte.«

Nach einer halben Stunde erhob sich ein kleiner Grabhügel neben der Quelle, unter dem die beiden Körper ihre Ruhe finden konnten. Grand bedauerte die Ereignisse der letzten Nacht, doch nun mussten sie sich um das eigene Überleben sorgen.

Sie reinigten die beiden Lendenschurze, die sie den Toten ausgezogen hatten, gründlich – zumindest so gründlich, wie es unter dem kleinen Wasserfall möglich war. Das lederähnliche Material erwies sich als wasserundurchlässig, und Jalina knotete es zu zwei notdürftigen Behältnissen zusammen, in denen sie etwas Wasser mitnehmen konnten. Es war ungewiss, wann sie das nächste Mal auf eine Wasserstelle stoßen würden. Dann marschierten sie los, immer den Berghang empor.

Die Sonne stand inzwischen am Himmel und die Temperaturen begannen zu steigen. Zunächst war der Hang noch leicht zu erklimmen, auch wenn sie sich ihren Weg zwischen den zahlreichen Felsbrocken hindurch suchen mussten, doch schließlich wurde der blaue Gras- und Baumbewuchs immer spärlicher, bis nur mehr kahler Fels übrig blieb. Auch der Hang wurde immer steiler und sie mussten teilweise die Hände zu Hilfe nehmen, um nach oben zu klettern. Es war eine schweißtreibende Angelegenheit, doch je höher sie kamen, umso mehr fielen zumindest die Temperaturen.

Grand blickte sich in regelmäßigen Abständen um und warf einen Blick auf die Ebene unter ihnen. Bis zur Mittagsstunde mussten sie bereits mehr als zweitausend Meter erklommen haben, und noch immer war außer einer schier endlosen, blauen Grassteppe nichts Außergewöhnliches zu erkennen.

»Ich befürchte, die Pyramide befindet sich tatsächlich auf der anderen Seite des Gebirgszuges«, sagte Grand während einer Rast. Hinter uns liegt nur diese verdammte Steppe, und so weit wir sehen können, ist da nichts.« Er nahm einen Schluck Wasser aus seinem Vorrat.

»Wenigstens ist es nicht mehr weit bis zu dem Pass dort drüben.« Jalina deutete auf eine Einkerbung zwischen zwei Gipfeln, die sich sicher noch weitere eintausend Meter in den Himmel schraubten.

»Wir können nur hoffen, dass es hinter dem Pass nicht noch weiter aufwärtsgeht«, sagte Grand, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und befestigte den zweckentfremdeten Lendenschurz wieder an seinem Gürtel.

»Ich denke nicht«, antwortete Jalina. »Vergiss nicht, die beiden sind innerhalb nur eines Tages zur Quelle zurückgekehrt, nachdem sie die Pyramide erblickt hatten.«

»Ich frage mich, warum sie überhaupt umgedreht haben.«

»Keine Ahnung, aber vielleicht finden wir die Antwort dort oben.« Bis zum Pass lagen sicher noch fünfhundert Höhenmeter vor ihnen.

»Dann los!« Grand erhob sich von dem Stein, auf dem er sich niedergelassen hatte, und sie setzen den mühsamen Aufstieg fort.

Drei Stunden später erreichten sie den Pass. Es war eher ein schmaler Canyon, der sich fast horizontal mit hohen, links und rechts aufragenden Felswänden vor ihnen erstreckte. Das Sonnenlicht drang kaum bis hierher vor und der Durchbruch lag in bedrückender Düsternis. Das andere Ende, vielleicht dreihundert Meter entfernt, schimmerte hingegen hell im Licht der roten Sonne.

Grand und Jalina sahen sich an und betraten wortlos die Kluft, die höchstens drei Meter breit war. Sie durchquerten die düstere Enge so schnell wie möglich, dann standen sie auf der anderen Seite. Der Ausblick war faszinierend.

Vor ihnen, vielleicht zwei Kilometer tiefer, breitete sich ein Tal aus, umringt von weiteren Bergen. Grand schätzte den Durchmesser auf etwa zehn Kilometer. Das ganze Tal wirkte wie eine Oase inmitten der Steinwüste. Auch hier gab es den blauen Rasen, Bäume, die bunt schillernde Blüten trugen, und einen kleinen Fluss, der sich malerisch durch die Landschaft wand. Doch das Beeindruckendste war die dreiseitige Pyramide, die sich genau im Zentrum erhob. Der perfekte Tetraeder erstrahlte in einem hellen Licht und wirkte von hier aus vollkommen glatt. Es waren weder Öffnungen noch Fenster oder irgendwelche Verzierungen zu sehen. Und er war gewaltig! Seine Kantenlänge betrug mindestens ein Viertel des Taldurchmessers und seine Spitze ragte noch ein ganzes Stück über Grands und Jalinas derzeitigen Standort hinaus. Im Tal selbst war keinerlei Bewegung auszumachen.

»Jetzt wissen wir, warum sie umgekehrt sind«, sagte Jalina mit einem Blick auf die zu ihren Füßen liegende Felswand. »Es dürfte mindestens zwei Tage dauern, dort hinunterzuklettern. Wahrscheinlich wollten sie vor dem Abstieg ebenfalls Wasser holen.«

»Unser Vorrat sollte noch einen Tag reichen, wenn wir sparsam sind«, überlegte Grand. »Einen weiteren Tag ohne Wasser schaffen wir notfalls. Dort unten am Fluss können wir anschließend so viel trinken, bis wir platzen.«

»Wir sollten hier übernachten. Es ist schon Nachmittag und die Sonne geht bald unter. Ich möchte ungern in der Dunkelheit klettern und nach einem sicheren Schlafplatz suchen müssen.«

Grand stimmte zu und sie räumten ein Geviert von kleinen und größeren Steinen frei, um wenigstens einigermaßen bequem liegen zu können. Grands Hunger war inzwischen nahezu unerträglich, doch er beklagte sich nicht. Jalina ging es sicherlich genauso und auch sie schwieg. Sie setzen sich auf den harten Boden, mit dem Rücken an die Felswand gelehnt.

»Was wohl Rigoran und Silvar gerade durchleben?«, fragte Jalina.

»Ich nehme an, alle Kandidatenpaare stehen vor ähnlichen Herausforderungen.«

»Was wäre geschehen, wenn wir zusammen mit dem anderen Kandidatenpaar hier an der Pyramide angekommen wären? Hätten wir dann beide die Aufgabe gelöst?«

»Ich weiß es nicht, Jalina. Außerdem befürchte ich, dass uns die eigentliche Aufgabe noch bevorsteht. Nur die Pyramide zu finden kann es nicht gewesen sein. Da kommt noch was!«

»Ja, wahrscheinlich«, stimmte die Kolltanerin zu und lehnte sich an ihren Freund. »Warum sollte zur Abwechslung einmal etwas einfach für uns sein?«

Es wurde allmählich dunkler und kälter. Ohne die Temperaturregulierung ihrer Overalls wäre es eine ungemütliche, wenn nicht sogar gefährlich kalte Nacht geworden.

Auch im Tal brach die Nacht herein.

»Sieh nur!«, rief Jalina aus. »Die Pyramide!«

Tatsächlich wurde das Bauwerk nicht dunkel. Je weniger Sonnenlicht auf die Pyramide fiel, umso stärker begann sie zu leuchten. Sie erfüllte das Tal mit einem silbrigen Licht, das sogar bis zu Grands und Jalinas Schlafplatz reichte.

»Erinnert dich das an etwas?«, fragte Grand.

»Ja, an die Sphäre. Die Pyramide scheint die gleiche silbrig schimmernde Oberfläche zu besitzen.«

»Vielleicht ist sie auch genauso wenig materiell wie die Sphäre«, mutmaßte Grand.

»Diese Spekulationen helfen uns jetzt nicht weiter, Michael. Wir sollten versuchen, etwas zu schlafen. Wir werden unsere Kräfte in den nächsten beiden Tagen brauchen. Das, was ohne Nahrung noch davon übrig ist.«

Es war der einzige Hinweis darauf, dass auch Jalina unter Hunger litt. Grand bewunderte nicht zum ersten Mal, wie zäh die für kolltanische Verhältnisse zierliche Frau war. Aber natürlich hatte sie recht – wie immer!

Sie schmiegten sich eng aneinander, um sich wenigstens etwas zu wärmen, und schliefen endlich ein. Es wurde ein tiefer, traumloser Schlaf, der aufgrund ihrer Erschöpfung fast einer Ohnmacht glich.