5. Bewusstseinsspaltung


»Commodore Grand! Commodore Grand!«

Michael riss die Augen auf. Vor ihm stand ein aufgeregter Mann in einer Uniform der terranischen Raumflotte. Leutnant Ndugu. Grand hatte keine Ahnung, woher er diesen Namen kannte, er hatte den Mann noch nie gesehen (oder doch?), aber war sich ganz sicher.

Grand war desorientiert. Seine Persönlichkeit fühlte sich geradezu gespalten an. Er besaß alle Erinnerungen an sein früheres Leben als Major der Raumflotte, an seine Zeit bei der Liga der Unsterblichen, den Krieg gegen die Ra´Hul, an das Coniunctional und seine und Jalinas Einsätze als dessen Agenten und auch daran, gerade eben noch vor einer silbernen Pyramide gestanden zu haben, und doch war da noch mehr – viel mehr – ein ganzes Leben mehr. Es war, als würden zwei Bewusstseine denselben Körper bewohnen. Als würde es zwei Michael Cordwainer Grands geben, die sich einen Körper teilen mussten. Jeder mit seiner eigenen Lebensgeschichte und Vergangenheit. Er war er und doch auch wieder nicht. Grand beschloss instinktiv, sich nichts anmerken zu lassen.

»Ndugu, was gibt es?«

Der Leutnant war sichtlich verwirrt angesichts der zeitweiligen geistigen Abwesenheit seines Vorgesetzten.

»Äh … Sir … wir erreichen Position Tango in weniger als zwei Stunden. Sie hatten eine letzte Lagebesprechung angesetzt.«

Natürlich, die Lagebesprechung. Wieder wusste Grand sofort, wovon Ndugu sprach, obwohl er noch immer keine Ahnung hatte, worum es hier ging. Es war, als ob er bei Bedarf sofort auf Erinnerungen zugreifen könnte, die nicht seine eigenen waren – und sich doch so anfühlten. Es war verwirrend. Als würden sich ständig Fenster in seinem Kopf öffnen und den Blick auf Landschaften freigeben, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten.

»Die Repräsentantin der Kolltaner wartet bereits im Konferenzraum«, fügte Leutnant Ndugu hinzu.

Grand wusste sofort, wer gemeint war. Jalina Kelranar, Matar zweiter Klasse der Flotte des Kolltanischen Reiches. Jalina ist ein Matar zweiter Klasse, was einem terranischen Generalmajor entspricht . Der Gedanke kam ihm gleichzeitig fremd und vertraut vor.

»Sagen Sie Bescheid, dass ich auf dem Weg bin.«

»Zu Befehl, Commodore!«

Grand sah sich um. Er saß im Sitz des kommandierenden Offiziers eines Sternenkreuzers der terranischen Raumflotte. Von seiner leicht erhöhten Position aus überblickte er die Zentrale, in der emsige, aber geordnete Betriebsamkeit herrschte. Alle Positionen waren besetzt und seltsamerweise kannte Grand alle Namen der jeweiligen Offiziere und Mannschaften, die hier unter seinem Kommando dienten. Und auch die Namen aller Schiffe, zumindest die der wichtigsten, die dem Verband angehörten, den er befehligte. Einem Verband, der sich auf dem Weg zu einer entscheidenden Auseinandersetzung befand, wie er plötzlich wusste.

Grand kannte den Weg zum Konferenzraum. Ihm war, als hätte er ihn schon Dutzende Male zurückgelegt, obwohl ihm dieser Schiffstyp völlig unbekannt war. Die Einrichtung war typisch terranisch, die Anordnung der Stationen in der Zentrale und das Layout des Schiffskörpers glichen jedoch keinem der Schiffstypen, die zu seiner Zeit bei den terranischen Raumverbänden im Einsatz gewesen waren. War er vielleicht in die Zukunft versetzt worden? Nein, das ergab keinen Sinn. Da er in dieser Epoche am Leben war, konnte es sich nicht um ein weit in der Zukunft liegendes Szenario handeln, und innerhalb seiner natürlichen Lebensspanne würden sich die militärischen Schiffstypen nicht derart grundlegend ändern.

Im Korridor kam Grand an einer spiegelnden Oberfläche vorbei und stutzte. Der Mann, der ihn von dort anblickte, war unzweifelhaft Michael Cordwainer Grand – doch um mehr als zwanzig Jahre gealtert. Er musste Mitte Fünfzig sein und hatte ungefähr zehn Kilogramm zu viel auf den Rippen. Plötzlich war ihm das aktuelle Datum bewusst, woher auch immer es aus den Tiefen seines (oder eines anderen) Bewusstseins gekommen war. Seit er aus den Raumverbänden ausgeschieden war, waren einhundertzwanzig Jahre vergangen. Er trug die dunkelblaue Uniform der terranischen Flotte, allerdings mit den Insignien eines Commodore, des Befehlshabers eines Flottenverbandes, gleichrangig mit einem Admiral. Der Michael Cordwainer Grand in diesem Szenario schien eine steile Karriere gemacht zu haben.

Er erreichte den Konferenzraum und trat ein. Um einen ovalen Schwebetisch saßen sieben Personen, darunter sie! Jalina Kelranar – Matar zweiter Klasse der glorreichen Flotte des Kolltanischen Reiches. Sie sah hinreißend aus. Ende Vierzig, aber immer noch so attraktiv, wie Grand sie aus seiner Realität kannte. Die tiefviolette, fast schwarze Uniform mit den goldenen Bordüren und den Ordensabzeichen am Kragenspiegel stand ihr hervorragend. Ihre hellblaue Haut war nach wie vor makellos und ihre Augen leuchteten auf, als sie ihn erblickte. Sie strahlte eine Aura von Macht, Autorität und Selbstbewusstsein aus, gepaart mit einer natürlichen Eleganz und Anmut.

Grand verspürte ein Gefühl in der Magengegend, das er nur zu gut kannte. Das Gefühl von Liebe und Verbundenheit. Es fiel ihm schwer, nicht auf diese Jalina zuzustürmen und sie in seine Arme zu schließen.

Er stellte sich hinter den letzten freien Sessel, genau neben sie.

»Verzeihen Sie meine Verspätung«, wandte er sich an die Anwesenden. »Bevor wir mit der Besprechung beginnen, würde ich gerne mit Matar Kelranar unter vier Augen reden.«

Es gab zwar verwunderte Blicke, doch niemand stellte die Forderung des Commodore infrage. Die sechs Männer, vier im Rang eines Colonels sowie zwei Generale, erhoben sich und verließen den Raum.

Grand wartete stehend, bis sie alleine waren.

»Matar, verzeihen Sie die Frage, aber …«

Noch bevor er den Satz beenden konnte, war Jalina aus ihrem Sessel aufgesprungen und hatte sich ihm um den Hals geworfen.

»Ich bin so froh, dass du auch hier bist«, sagte sie.

»Äh … wie konntest du wissen, dass ich … äh … ich bin?«

»Deine Augen! Wie du mich angesehen hast. Ich wusste es sofort.«

»Deine haben auch gestrahlt.« Grand lächelte Jalina an. »Wir erkennen uns immer, ganz gleich, in welchem Universum wir uns befinden.«

»Du denkst, dies ist wieder ein neues Universum?«

»Natürlich, was könnte es sonst sein. Diesmal eines, das eine alternative Realität abbildet, in der wir nie unsterblich geworden sind und Karriere bei unseren jeweiligen Flotten gemacht haben. Glücklicherweise scheinen auch hier Terraner und Kolltaner verbündet zu sein.«

»Da gibt es allerdings einen Haken, Michael. Ich wurde über zweihundert Jahre vor dir geboren. Wenn ich hier nicht unsterblich bin, wieso existiere ich dann während deiner Lebenszeit noch?«

»Ja, das ist unerklärlich. Aber wer weiß schon genau, wie viele alternative Realitäten im Multiversum existieren. Es muss eine darunter sein, in der du erst zweihundert Jahre später geboren wirst … worden bist … werden wirst … ach, verdammt, das ist mir zu kompliziert.«

Jalina musste lachen. »Ja, Multidimensionalität und Zeitsprünge lassen sich mit unserer Logik nicht leicht in Einklang bringen, aber wir müssen es nehmen, wie es kommt. Ich nehme an, wir befinden uns in der nächsten Runde des Wettkampfs.«

»Es sieht so aus. Anscheinend haben unsere … Bewusstseine die Körper unserer hiesigen Alter Egos irgendwie … übernommen.«

»Es ist ein verrücktes Gefühl. Alles kommt mir gleichzeitig fremd und doch vertraut vor. Ich besitze plötzlich Erinnerungen, die nicht meine sind, und Wissen, das ich eigentlich nicht haben dürfte.«

»Wir können wohl auf das Wissen und die Erfahrungen unserer … Gastkörper … zugreifen.«

»Bleiben dabei aber wir selbst«, ergänzte Jalina.

»Was erwartet man hier von uns?«, stellte Grand die entscheidende Frage. »Und was ist diesmal unsere Aufgabe?«

»Ich nehme an, das wird sich bald herausstellen.«

»Lass uns logisch vorgehen, Jalina. Wohin sind die hiesigen Mike und Jalina unterwegs und warum?«

»Das Artefakt!«, rief Jalina aus und im selben Moment öffnete sich in Grands Kopf ein weiteres Fenster. »Der Würfel! Jeder will Zugang zu ihm. Auch die Achtihm. Und das können wir nicht zulassen.«

»Diese Spezies gibt es in unserer Realität überhaupt nicht«, sagte Grand. »Aber hier sind sie die aggressivste Zivilisation in der Milchstraße und leider auch eine der mächtigsten. Man legt sich also besser nicht mit ihnen an.«

»Aber wir können nicht erlauben, dass sie Zugriff auf das Artefakt erlangen, was ihre Macht sicher noch weiter vergrößern würde. Bisher hat die Koalition aus unseren beiden Völkern und noch zehn weiteren Spezies die Achtihm in Schach halten können, doch falls sie die Geheimnisse des Würfels entschlüsseln sollten …«

»… bestünde die Gefahr, dass sie noch mächtiger werden könnten«, beendete Grand den Satz. »Und dann würde sie nichts mehr daran hindern, die gesamte Galaxis zu unterjochen.«

»Und hier gibt es weder die BEWAHRER noch eine Liga der Unsterblichen , die eingreifen und sie aufhalten könnten«, sagte Jalina.

»Sollen wir nun einen Krieg führen oder ihn verhindern?«

»Ich weiß es nicht«, musste Jalina zugeben. »Aber ich denke, das werden wir bald erfahren.«

Grand bat die anderen Konferenzteilnehmer wieder herein. Die nächste Stunde erschien ihm surreal. Jedes Mal, wenn sich einer der Anwesenden zu Wort meldete, ergossen sich die notwendigen Informationen schlagartig in sein Gehirn.

Es ist weniger so, als wenn sich jedes Mal ein neues Fenster öffnet , dachte er, sondern vielmehr, als erhielte mein Gehirn permanent Updates mit allen benötigten Informationen .

Sie besprachen die Aufstellung der Flotte, die, wie Grand inzwischen erfahren hatte, aus mehr als vierzigtausend Schiffen der vereinigten zwölf Völker bestand, diskutierten über Aufgabenverteilungen, taktische Manöver, Befehlsketten und strategische Ziele, aber auch über diplomatische Lösungen. Es war nicht das erste Treffen dieser Art, wie Grand schnell feststellen konnte, sondern es diente nur der letzten Abstimmung untereinander. Im Prinzip hatte alles bereits vorher festgestanden und man versicherte sich nur gegenseitig nochmals, sich an die Absprachen halten zu wollen. Die Flotte der zwölf Spezies musste als Einheit agieren, wenn sie gegen die Achtihm eine Chance haben wollten. Und sie agierte unter Grands Kommando.

Jalina hatte neben Grand in der Zentrale Platz genommen. Die Kolltaner waren auch hier die engsten Verbündeten der Terraner, aber anders als in Grands Realität sahen sie nicht auf diese herab, sondern behandelten sie wie Gleichgestellte.

Wenigstens etwas, das mir hier besser gefällt , dachte Grand.

Matar zweiter Klasse Kelranar war die offizielle Vertreterin des Kolltanischen Reiches bei dieser Mission und Commodore Grand als Beraterin zugeteilt worden. Offiziell führten die Terraner den Feldzug an, da sie die meisten Kampfschiffe stellten. Es fiel beiden schwer, nichts von ihrer persönlichen Beziehung nach außen hin durchsickern zu lassen.

Leutnant Ndugu, der sein Ordonnanzoffizier war, wie Grand inzwischen wusste, näherte sich respektvoll und salutierte.

»Commodore, Matar, wir werden den Bulk in zwei Minuten verlassen, Sir«, meldete er.

»Sofort nach Wiedereintritt in den Normalraum volle Rundumscans. Aktiv und passiv«, befahl Grand. »Gefechtsstation!«

Ndugu salutierte erneut, drehte sich zackig um und gab die Befehle weiter. In der Zentrale wurde das Licht gedämpft und die rote Alarmbeleuchtung schaltete sich ein.

»Dreißig Sekunden!«, rief der Navigationsoffizier, während gleichzeitig ein rückwärtslaufender Countdown im Hauptholo eingeblendet wurde.

Grand war versucht, Jalinas Hand zu ergreifen, und er konnte sich gerade noch zurückhalten. Jalina hatte das Zucken bemerkt, drehte sich zu ihm um und lächelte ihn liebevoll an. Dann wurde ihr Blick wieder ernst und sie spielte weiter die Rolle der distanzierten Offizierin.

»Eintritt erfolgt!«

Der Countdown erreichte in diesem Moment 'null' und die Flotte fiel in den Normalraum zurück.

Alarmsirenen jaulten, an den Wänden flackerten Ortungs- und Statistikhologramme auf und die Schutzschirme bauten sich auf.

Vor ihnen trieb eine Armada von mehr als zwanzigtausend Schiffen im Raum. Die Achtihm. Grands Flotte war zwar zahlenmäßig im Vorteil, aber er wusste, dass dies nicht viel zu bedeuten hatte. Die Schiffe der Achtihm waren denen seines Verbandes weit überlegen. Bestenfalls würde er sich einer Pattsituation gegenübersehen, sollte es zu einem bewaffneten Konflikt kommen.

Doch es war nicht in erster Linie die potenziell feindliche Flotte, die Grand und Jalina den Atem verschlug, es war das Objekt, welches ebenfalls auf dem Hauptholo zu sehen war.

Die Schiffe der Achtihm hatten sich ringsherum positioniert und schirmten es gegen jeden Zugriff ab.

Vor Grand und Jalina drehte sich langsam ein riesiger, silbern schimmernder Würfel im All.