Das Landungsboot jagte auf den Würfel zu. Sein Triebwerk arbeitete weit im roten Bereich und in den Ortungsholos der Achtihm musste das kleine Raumschiff plötzlich aufgeleuchtet sein wie ein Tausendwattstrahler in einem dunklen Zimmer.
»Ich sehe immer noch keine Stelle, an der wir andocken könnten«, meldete Jalina, die als Navigator fungierte.
»Hinter uns ist ein Shuttle aus einem der Achtihm-Schiffe ausgeschleust worden«, stellte Grand mit einem Blick auf das Display vor seinem Pilotensitz fest. »Es jagt mit voller Beschleunigung auf uns zu. ETA in knapp drei Minuten. Es wird höchste Zeit, dass sich der Würfel irgendwie meldet.«
Der Tantron und sein Begleiter – der Anwärter und sein Paladin , wie Grand sich korrigierte –, deren wirkliche Namen sie immer noch nicht kannten, hatten längst begriffen, was hier gespielt wurde. Sie waren übertölpelt worden und sannen auf Rache. Es ging längst nicht mehr nur darum, wer diese Runde im Wettstreit gewinnen würde, für die beiden Achtihm war es persönlich geworden.
Die Kampfhandlungen rings um den Würfel waren zum Erliegen gekommen, nachdem die Achtihm begriffen hatten, worum es bei der Schlacht in Wahrheit gegangen war. Die Flotte der Allianz hatte sich mehrere Lichtsekunden zurückgezogen und wartete einfach ab. Dort glaubte man immer noch, Grand und Jalina würden versuchen, den Würfel für die Allianz zu sichern. Doch man würde vergebens auf ein Signal der beiden warten. Ob Grand und Jalina vom Würfel eingelassen wurden oder ob der Kampf einen schlechten Ausgang für sie nahm, man würde so oder so nichts mehr von den vermeintlich führenden Offizieren hören.
»Komm, komm, komm!«, bettelte Jalina leise vor sich hin, als könne der Würfel sie hören. »Mach etwas, irgendwas!«
»ETA des feindlichen Shuttles in zwei Minuten.« Grands Ansage war nicht geeignet, Jalinas Stimmung zu verbessern.
Das Landungsboot schwebte nur wenige Meter über einer der Würfelflächen. Wie bei der Pyramide waren auch hier die Abmessungen des Objekts beeindruckend. Die Kantenlänge betrug fast drei Kilometer, und so wirkte das winzige Landungsboot vor dem sich langsam drehenden, hell strahlenden Würfel wie ein Moskito vor einer riesigen, silbernen Lampe. Und wie ein Moskito konnte es hier ebenfalls verglühen, falls das Shuttle der Achtihm auf Schussweite herankommen würde – was in weniger als zwei Minuten der Fall sein musste.
»Ich bringe den Würfel zwischen uns und das Shuttle«, sagte Grand.
»Das verschafft uns bestenfalls eine weitere Minute.«
»Eine Minute, in der wir die Lösung finden könnten«, erwiderte Grand grimmig.
»Verdammt noch mal«, schimpfte Jalina. »Alle Seiten sehen gleich aus und nirgendwo ist ein schwarzer Fleck zu sehen. Es gibt überhaupt keinen Zugang!«
»Es muss einen Weg geben, hineinzukommen. Sonst würde die ganze Prüfung, oder was immer das ist, keinen Sinn machen. Und das glaube ich einfach nicht!«
Plötzlich schoss das feindliche Shuttle hinter einer Kante des Würfels hervor und eröffnete sofort das Feuer. Der Plasmapuls raste auf das Landungsboot zu – und verschwand einfach. Es war, als sei er vom All verschluckt worden.
Grand und Jalina sahen sich fassungslos an und Grand entschlüpfte ein heiseres, aber auch erleichtertes Lachen.
»Da hält jemand seine schützende Hand über uns«, stellte er fest.
Noch zweimal versuchten die beiden Achtihm, das Landungsboot abzuschießen, beide Male mit dem gleichen Ergebnis. Schließlich erstarb das Feuer und das Shuttle trieb unweit von Grand und Jalina neben dem Würfel.
Grand griff zur Konsole und öffnete einen Holokanal.
»Hallo Freunde! Ihr schuldet uns ein Shuttle.« Er winkte seinen beiden Kontrahenten fröhlich zu.
»Ihr werdet sterben!« Die kleinen Äuglein des Tantron funkelten böse. »Ihr habt uns lächerlich gemacht. Niemand macht uns ungestraft lächerlich!«, brüllte er voller Zorn.
Wieder zuckten in schneller Folge drei Plasmapulse aus der Bordwaffe des Shuttles und wieder verschwanden sie nur Zentimeter vor der ungeschützten Bordwand des Landungsbootes, als hätte es sie nie gegeben. Der Achtihm stieß einen wütenden Schrei aus und hieb frustriert auf seinen Steuerstand.
»Okay, ihr seid zwar beim Schießen schneller als beim Denken, aber selbst ihr solltet inzwischen begriffen haben, dass der Würfel in seinem direkten Umfeld keine Gewalt zwischen uns Anwärtern duldet. Ich fürchte, euer Wunsch muss noch etwas warten.«
Wieder stieß der Achtihm einen unkontrollierten Schrei aus. Wahrscheinlich wäre er am liebsten durch die Holoverbindung gekrochen, um Grand persönlich den Hals umzudrehen.
»Wenn du wieder zu Sinnen gekommen bist, können wir vielleicht gemeinsam überlegen, wie wir in den Würfel kommen«, sagte Grand. »Es sollte euch inzwischen klar geworden sein, dass diese Prüfung nicht im Alleingang gelöst werden kann. Ihr habt es mit Sicherheit bereits probiert, bevor Jalina und ich hier ankamen, und auch wir hatten bisher keinen Erfolg. Wie es aussieht, müssen beide Kandidatenpaare anwesend sein, damit er sich öffnet. Und ich bin sicher, sie müssen beide lebend anwesend sein! Ihr solltet also eure Rachegelüste einstweilen zurückstellen.«
»Wieso hat er sich dann noch nicht geöffnet? Ich sehe immer noch keinen Zugang und wir sind alle hier«, zischte der Tantron. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich unter Kontrolle zu halten.
»Ich nehme an, wir müssen aussteigen. Solange wir in unseren Blechdosen sitzen, scheint sich nichts zu tun. Wir sollten zudem unsere Waffen an Bord zurücklassen. Der Würfel hat offensichtlich etwas dagegen, dass wir aufeinander schießen.«
»Wir werden erst dann aussteigen, wenn wir euch sehen können. Unbewaffnet!«
Grand warf resignierend die Hände in die Luft. »Man kann es mit seiner Paranoia auch übertreiben, aber … na schön! Wir werden als Erste aussteigen und freundlich in eure Holocams winken.«
»Bist du sicher, dass das klug ist?«, fragte Jalina, nachdem Grand die Verbindung getrennt hatte.
»Ja, es ist eindeutig: Der Würfel lässt nicht zu, dass wir aufeinander schießen. Was sollen sie also machen? Uns mit bloßen Händen erwürgen? Das dürfte erstens recht schwierig sein, wenn wir unsere Raumanzüge tragen, und außerdem glaube ich, dass der Würfel auch das nicht zulassen würde. Es muss einen Grund geben, warum er nicht will, dass wir uns gegenseitig umbringen.«
Kurz darauf schleusten Grand und Jalina aus dem Landungsboot aus. Da man ihnen auf der Wächterbasis ihre Skinfield-Generatoren abgenommen hatte, waren sie nun auf die leichten Raumanzüge angewiesen, die zur Standardausrüstung der terranischen Flotte gehörten. Auch hierbei konnte Grand kleine Unterschiede zu den Modellen erkennen, die er aus seiner Zeit bei der Flotte kannte. Sie waren eindeutig in ein alternatives Universum versetzt worden, wo die Technik sich anders entwickelt hatte.
Dann endlich verließen auch die beiden Achtihm ihr Shuttle. Sie steuerten ihre deutlich klobigeren Anzüge mithilfe der Lagekontrolldüsen ihrer Backpacks neben Grand und Jalina.
»Was jetzt?«, fragte der Tantron barsch.
»Jetzt warten wir.«
Sie mussten nicht lange warten. Kaum hatte Grand die Worte ausgesprochen, als sich unter ihnen der schon bekannte schwarze Fleck auf der Oberfläche des Würfels bildete. Wie schon bei der Sphäre der Erleuchtung und der Pyramide, so handelte es sich auch diesmal nur um eine schwarze, kreisrunde Fläche von etwas mehr als zwei Metern Durchmesser, durch die man nicht hindurchsehen konnte.
Die beiden Achtihm gaben sofort Vollgas und rasten auf den Fleck zu – nur um hart gegen eine unsichtbare Barriere zu prallen. Grand konnte ein lautes Auflachen gerade noch unterdrücken, als die beiden unsanft zurückgeschleudert wurden. Jalina sah ihn durch ihr Visier grinsend an. Grand hörte die beiden ärgerlich fluchen.
#Nur einer von euch vieren erhält Zugang#
Die Stimme ertönte in ihren Head-Sets. Der Würfel hatte sich in ihre Funkfrequenz eingeschaltet. Alle sahen sich überrascht an.
»Was bedeutet das? Wieso nur einer von uns?«, fragte der Tantron.
#Nur einer von euch vieren erhält Zugang#
»Wen hast du ausgewählt?«, fragte Grand, und er glaubte, die Antwort bereits zu kennen. Er behielt recht.
#Nur einer von euch vieren erhält Zugang. Ihr trefft die Entscheidung#
Alle sahen sich prüfend an. Grand konnte sehen, wie sich die behandschuhten Klauen des Tantron zuckend öffneten und schlossen. Grand ergriff Jalinas Hand.
»Wir werden uns nicht trennen! Ich werde meine Partnerin … meinen Paladin nicht verlassen!«
#Ich gebe euch Zeit, eine Entscheidung zu fällen. Diese beträgt exakt das 5 mal 1011 -Fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids 133 entsprechenden Strahlung des 55. Bausteins in der Ordnung der Grundstoffe. Nach Ablauf dieser Frist werden die Kandidaten eliminiert. Die Zeit läuft ab … jetzt.#
Das Heads-up-Display in Grands Helm informierte ihn, dass dies etwas mehr als acht Minuten terranischer Zeit waren. Acht Minuten, um zu entscheiden, wer leben durfte und wer sterben musste.
»Wir werden uns nicht trennen«, wiederholte Grand und sah die beiden Achtihm an. Jalina ergriff schweigend seine Hand und umklammerte sie fest. »Dieser Preis ist zu hoch. Wenn hier der Weg zu Ende ist, dann ist er für uns beide zu Ende.«
»Michael, überlege dir das noch mal.« Jalina funkt ihn auf einem privaten Kanal an, sodass die Achtihm nicht mithören konnten. »Du musst überleben! Ich kann die beiden beschäftigen, während du …«
»Nein!«, unterbrach Grand seine Lebensgefährtin. »Du würdest ohne mich auch nicht gehen. Das weiß ich.«
Jalina schwieg, was Bestätigung genug war, und umklammerte Grands Hand noch fester.
»Ihr seid wahrhaftig jämmerlich«, sagte der Tantron. Grand konnte den triumphierenden Blick hinter dem Visier erkennen. »Schwach und jämmerlich!«
Mit diesen Worten fuhr er herum, stürzte sich auf seinen Begleiter und riss ihm den Schlauch für die Luftzufuhr aus dem Helm. Der Unglückliche starb nicht an Luftmangel, sondern an explosiver Dekompression, da die Luft in seinem Anzug aus dem gewaltsam gerissenen Loch im Helm schlagartig entwich, was zwar schneller ging, jedoch genauso qualvoll war.
Grand musste mit ansehen, wie sich die Augen des unrettbar Verlorenen weiteten und aus den Höhlen hervorquollen, während in Sekundenschnelle kleine Blutgefäße im Augapfel platzen. Die blutroten Augen weit aufgerissen, schlug der Sterbende mit beiden Händen immer wieder hilflos gegen sein Visier, als könnte er das Unvermeidliche noch aufhalten, wenn es ihm nur gelänge, die Augen in ihre Höhlen zurückzudrücken. Verzweifelt nach Luft schnappend, zuckte der Körper in krampfartigen Anfällen, bevor er still wurde und bewegungslos neben seinem Mörder im All trieb.
»Stellt euch mir nicht in den Weg!«, drohte der Tantron. »Sonst ergeht es euch genauso!«
Grand war angeekelt von dem bestialischen Verhalten des Achtihm. »Geh!«, sagte er nur.
Mit einem triumphierenden Bellen aktivierte der Tantron seine Lagekontrolldüsen und flog zu dem schwarzen Fleck auf der silbrigen Wand. Er drehte sich noch einmal um und schwang triumphierend die Faust, bevor er in den Fleck eintauchte. Diesmal stellte sich ihm nichts entgegen.
Grand und Jalina trieben alleine vor dem silbernen Würfel. Der schwarze Fleck schrumpfte und verschwand schließlich. Der Würfel lag so einsam und unzugänglich da wie zuvor.
Grand drehte sich zu Jalina um. »Ich habe keine Ahnung, was jetzt geschehen wird, aber falls …«
Sie unterbrach ihn, indem sie den Zeigefinger vor die Stelle seines Visiers legte, hinter der sich Grands Mund verbarg.
»Schsch …!« Jalina lächelte ihn voller Liebe an. »Egal, wie es nun weitergeht, du sollst wissen …«
Diesmal war es Jalina, die unterbrochen wurde.
#Ihr habt die Prüfung bestanden#
Wieder bildete sich ein schwarzer Fleck zu ihren Füßen.
#Der andere Kandidat wurde eliminiert. Der Zugang ist euch beiden gestattet#
Jalina lachte, bis ihr die Tränen kamen. »Oh Mann, diese Burschen sind ausgefuchster, als ich mir hätte vorstellen können. Der Achtihm ist wieder in eine Falle getappt. Dieses Mal in die Falle seiner eigenen Gier.«
Grand schüttelte entgeistert den Kopf. Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass sie ein Spiel spielten, dessen Regeln sie nicht kannten. Eine der Regeln lautete anscheinend, dass Gewalt nicht unbedingt zum Ziel führen musste, und Rücksichtslosigkeit schien bei den unbekannten Schiedsrichtern nicht wohlgelitten zu sein.
»Diesmal haben wir Glück gehabt«, sagte er.
»Nein!«, widersprach sie. »Wir haben uns so verhalten, wie wir es für richtig hielten, und das war wohl in dieser Runde das Entscheidende.«
Was Jalina sagte, brachte Grand zum Nachdenken. Vielleicht geht es bei diesem Wettkampf um etwas völlig anderes, als wir bisher dachten , überlegte er.
»Wollen wir?«, unterbrach Jalina seine Überlegungen.
Hand in Hand schwebten sie zu dem Würfel herunter. Als sie in den Fleck eintauchten, erlosch jeder Gedanke.