Grand konnte nichts sehen. Er konnte auch nichts spüren. Weder seinen Körper noch überhaupt irgendetwas. Es war ein seltsames, fremdes, beängstigendes Gefühl. Anders als alles, was er in seinem bisherigen Leben je empfunden hatte. Es gab weder Hitze noch Kälte – die beiden Begriffe machten nicht einmal Sinn – und er hätte nicht sagen können, ob er überhaupt eine Temperatur empfand. Und doch spürte er etwas. Eine andere Präsenz.
#Jalina?# , fragte er. Oder er wollte es fragen, doch er konnte keine Worte formen. Und dennoch fragte er es, wenn auch auf eine Art, die er nicht hätte beschreiben können.
#Ich bin hier# , hörte er die Antwort. Aber 'hören' war auch jetzt nicht der richtige Begriff. Er nahm die Worte auf … irgendwie … und doch nicht akustisch. Sie entstanden offenbar direkt in seinem Gehirn.
#Ich kann dich nicht sehen. Wo sind wir? Was ist mit uns passiert?#
#Ich … ich weiß es nicht. Ich fühle mich …, wie … wie sich ein denkendes Gehirn ohne Körper fühlen muss. Ich habe keinerlei sensorischen Input! Außer deiner Stimme, die irgendwie direkt in meinem Kopf entsteht. Den ich allerdings genauso wenig fühle wie den Rest meines Körpers.#
#Genau wie bei mir.#
#Ich habe Angst!#
Grand hatte noch nie erlebt, dass Jalina vor etwas Angst hatte. Im Gegenteil! Manchmal hatte er sie bremsen müssen, weil er Angst gehabt hatte. Angst davor, sie bei einer ihrer selbstmörderischen Aktionen zu verlieren. Jalina rannte nie vor einer Gefahr davon, sie rannte stets geradewegs darauf zu. Wenn sie zugab, Angst zu haben, dann ängstigte ihn das erst recht.
Ich will verdammt noch mal was sehen können , dachte Grand wütend.
Und er sah!
Allerdings ergab das, was er sah, auch nicht viel mehr Sinn.
Vor ihm erstreckte sich eine leere, weiße Fläche. Er sah sich um und musste feststellen, dass er in einem völlig leeren, weißen Kubus zu stehen schien. Als er nach unten sah, erlebte er den nächsten Schock. Er besaß keinen Körper. Der Blick nach unten zeigte nicht etwa seine Brust, seine Beine, seine Füße, sondern - nichts!
Grand wusste, dass er sich in einem Kubus befand, da sich die Ecken ganz zart abzeichneten, doch mehr wusste er nicht. Er hätte auch nicht sagen können, ob der Kubus zehn Meter oder zehn Kilometer durchmaß. Es gab nichts, was ihm einen Größenvergleich hätte ermöglichen können.
#Jalina! Wenn du sehen willst, dann denke intensiv daran; du musst es wollen!#
Einige Sekunden später erreichte ihn wieder ein Gedanke von Jalina. Grand war inzwischen überzeugt davon, dass es eine Form telepathischen Kontakts war.
#Ich stehe in einem leeren Würfel. Ist das der Würfel, in den wir eingelassen wurden?#
#Ich habe keine Ahnung, wo wir sind. Sieh mal nach unten.#
#Was ist mit mir passiert? Wo ist mein Körper?#, kam ein Gedanke zurück, dem Grand das Entsetzen anfühlen konnte.
Er hatte eine Idee. Er visualisierte seinen Körper, so gut er konnte, und wollte ihn sehen.
Der nächste Blick nach unten zeigte ihm Brust, Beine und Füße. Allerdings war er nackt! Grand visualisiert den Bordoverall der Rhelina , des Schiffes, das sie leider an der Sphäre der Erleuchtung verloren hatten.
Für einen winzigen Moment flimmerte sein Körper, dann trug er den Bordoverall. Das wurde ja immer verrückter.
#Jalina# , schickte er einen Gedanken auf die Reise, #stell dir deinen Körper vor. – Voll bekleidet# , fügte er hastig hinzu.
#Oh!#, vernahm er Sekunden später.
#Und nun stell dir vor, wir wären in einem Raum und du könntest mich sehen.#
Wie aus dem Nichts erschien Jalina direkt vor ihm. Auch sie trug einen Bordoverall der Rhelina . Sie fielen sich in die Arme. Sie konnten sich spüren. Anscheinend hatte die Vorstellung von Körperlichkeit ihnen auch Substanz verliehen.
»Das ist das Verrückteste, was ich je erlebt habe«, sagte Jalina schließlich. »Wo zum Teufel sind wir diesmal gelandet?«
Grand konnte sie hören – richtig hören!
»Ich wollte, ich wüsste es«, gab er zu. »Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass dies nicht der silberne Würfel ist. Er ist viel zu klein.«
Jetzt, da er eine optische Referenz hatte, schätzte er die Kantenlänge auf vielleicht fünfzig oder sechzig Meter.
»Eine Gemeinsamkeit gibt es zwischen den Würfeln«, stellte Jalina fest. »Sie haben beide keine Türen.«
Tatsächlich gab es keinen sichtbaren Ausgang. Wände, Boden und Decke waren völlig glatt.
»Es könnte die Aufgabe dieser Runde sein, einen Ausgang zu finden«, vermutete Grand.
»Das erscheint mir zu trivial«, widersprach Jalina. »Zudem wäre es auch kein direkter Wettstreit mit einem anderen Kandidatenpaar.«
Damit hatte sie wahrscheinlich recht, wie Grand zugeben musste. Sie nahmen an einem Spiel teil, bei dem sie nicht einmal wussten, worum es überhaupt ging. Das Einzige, was man ihnen mitgeteilt hatte, war, dass es sich um einen Wettkampf handelte. Ein Wettkampf ohne Gegner machte jedoch keinen Sinn. Also war anzunehmen, dass sie hier nicht allein waren.
»Gut! Wir müssen also nicht nur den Ausgang finden, sondern auch unsere Gegner und das Ziel dieser Runde. Hast du eine Idee, wie wir vorgehen sollen?«, fragte er.
»Warum versuchen wir nicht, uns einfach eine Tür vorzustellen ? Das hat bisher ganz gut funktioniert.«
»Bevor wir das versuchen, sollten wir uns noch über etwas im Klaren sein. Dies sind nicht unsere wirklichen Körper. Wir scheinen uns diesmal in einer Art 'Virtual Reality' zu befinden. Irgendwie hat man unser Bewusstsein hier eingespeist, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie so etwas möglich sein soll.«
»Vielleicht liegen unsere Körper irgendwo und haben einen Helm auf dem Kopf, so wie man sich das früher in alten Science-Fiction-Romanen vorgestellt hat.« Jalina musste bei der Vorstellung lachen.
»Das ist kein Grund zur Heiterkeit, mein Schatz. Wir sollten vorsichtig sein! Ich habe den Verdacht, dass wir auch in der Realität sterben, wenn uns hier etwas zustößt. Dies ist kein Spiel, auch wenn wir es bisher so genannt haben. Wer hier drin stirbt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich tot!«
Jalinas Lachen erstarb. »Du hast natürlich recht. All das geschieht nicht zum Spaß. Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, weshalb wir hier sind und warum wir das alles auf uns nehmen. Irgendwo dort draußen sind Rigoran und Silvar, und sie sind ebenso wie wir an diesem Wettkampf beteiligt. Wir müssen sie unbedingt aufhalten, bevor sie, und damit der Devorator , triumphieren können. Das könnte nicht nur für uns das Ende bedeuten.«
»Dann sind wir uns einig. Keine unüberlegten Aktionen, nur weil uns vieles nicht real erscheint. Wir haben die ersten beiden Runden überstanden und es sind außer uns nur noch einunddreißig Paare im Rennen. Die schaffen wir auch noch!« Grand zwinkerte Jalina aufmunternd zu.
»Wollen wir uns eine Tür an der rechten Wand vorstellen?«, schlug Jalina vor. »Ein Schott, das sich öffnet, wenn wir beide unsere Hände darauflegen?«
Grand nickte und schloss die Augen. Er spürte, wie Jalina seine Hand ergriff, und konzentrierte sich auf das Bild eines ganz normalen Raumschiffschotts an der rechten Wand des Kubus. Er stellte es sich nicht nur vor, er wollte es dort haben. Es gehörte einfach an diese Stelle!
Als er Sekunden später die Augen wieder öffnete, befand sich genau in der Mitte der Wand ein Schott, als sei es dort schon immer gewesen.
»Vielleicht haben wir gerade den ersten Test bestanden«, sagte Jalina.
»Es wird nicht der letzte gewesen sein – und mit Sicherheit auch nicht der schwierigste«, gab Grand zurück.
»Dann sollten wir uns hier nicht länger aufhalten!«, sagte die Kolltanerin und ging auf das Schott zu.
Jalina ist wieder in ihrem Element. Immer voran und vor keiner Gefahr bange , dachte Grand amüsiert und doch gleichzeitig besorgt. Er folgte ihr und stellte sich neben sie.
Sie streckten jeweils eine Hand aus und legten sie gleichzeitig auf das Metall. Zumindest sah es wie Metall aus und fühlte sich auch so an. Das Schott schwang sofort nach Außen auf. Was sie dahinter sahen, entsprach allerdings in keiner Weise dem, was sie zu sehen erwartet hatten.