10. Kara


»Was ist das?« Jalina sah Grand ratlos an. »Es sieht fast aus wie … ein Gehirn.«

»Wie … wie das … Netzwerk eines Gehirns. Ja, daran erinnert es mich auch«, sagte Grand zögernd.

Als sie sich umdrehten, war das Schott hinter ihnen verschwunden. Rings um sie erstreckte sich in alle Richtungen ein schier endloser Raum, dessen Begrenzungen nicht einmal zu erahnen waren. Durch diesen Raum zogen sich Bahnen. Gelbe und orangefarbene, leuchtende Stränge, die sich verknüpften, verzweigten und kreuzten, sich an vielen Stellen zu dickeren Knoten vereinigten und in denen helle Lichtflecke, fast schneller, als das Auge sie wahrzunehmen in der Lage war, hin und her huschten. Tatsächlich wirkte die Umgebung wie die räumliche Darstellung einer Hirnstruktur, und die Milliarden und Abermilliarden, wenn nicht sogar Billionen Stränge repräsentierten die Synapsen, die Verknüpfungen zwischen den Neuronen.

»Ich denke, es ist genau das, wonach es aussieht«, sagte Grand schließlich. »Wir befinden uns in einem neuronalen Netzwerk.«

»Aber das kann doch nicht real sein. Es ist so … riesig!«

Grand dachte lange nach, bevor er antwortete.

»Es ist auch nicht real. Zumindest nicht in einem materiellen Sinn«, sagte er schließlich. »Besser gesagt, vielleicht existiert all dies sogar als materielle Struktur irgendwo, doch was wir hier sehen, ist nur die virtuelle Darstellung des Netzwerks, so wie wir sie mit unseren Sinnen verarbeiten können. Mit den Sinnen unserer derzeitigen Körper, die ebenso wenig real sind. Alles hier, wir eingeschlossen, ist nichts anderes als eine virtuelle Realität, in der auch wir in Wahrheit nur als Datenpakete existieren. Eine verdammt gut gemachte virtuelle Realität, aber trotzdem nicht wirklich real.«

»Aber wenn dem so ist, wer oder was ist dann dieses Netzwerk?«, fragte Jalina.

»Ich wollte, ich wüsste es! Vor allem wüsste ich gern, was man hier von uns erwartet.«

»Irgendwo hier treibt sich mit Sicherheit noch ein anderes Kandidatenpaar herum«, erinnerte ihn Jalina.

»Davon müssen wir wohl ausgehen. Ich hoffe nur, sie sind vernünftiger, als es die Katzenwesen und die Achtihm waren.«

»Michael, schau!« Jalina deutete auf einen der Stränge. Überall um sie herum blitzten hellgelbe Funken in den 'Synapsen' auf, die die 'Nervenzellen' verbanden. Dort fand offensichtlich eine Form von Datenaustausch statt. Doch an der Stelle, auf die Jalina zeigte, war der Funke knallrot und bewegte sich deutlich langsamer. »Das muss etwas zu bedeuten haben. Vielleicht ist es in Hinweis für uns.«

»Hm … warte mal … ich will etwas ausprobieren.«

Grand schloss die Augen und konzentrierte sich. Es dauerte nur wenige Sekunden – falls die gewohnten Zeiteinheiten in dieser Umgebung überhaupt etwas zu bedeuten hatten –, bis sich aus dem Nichts vor ihm eine Holoschnittstelle aufbaute, wie beide sie aus vielen Raumschiffen kannten. Grand hatte sie aus seiner Vorstellung heraus manifestiert. Es war nicht die modernste Technologie, doch man konnte darüber mit einem KI-Netzwerk kommunizieren.

Das Holofeld umgab Grands Oberkörper wie eine semitransparente Blase. Er griff mit den Händen hinein und vollführte einige Gesten. Sofort erschien eine vielfarbige Darstellung mit Hunderten von Symbolen in mehreren virtuellen Fenstern. Grand manipulierte sie mit den Fingerspitzen, öffnete und schloss etliche Fenster oder ordnete sie neu an und verschob Dutzende Icons, bis er fand, wonach er suchte. Er griff nach dem Icon und ballte die Faust, um es zu öffnen.

#Kontakt#

Die Stimme war weder männlich noch weiblich.

Wieder manipulierte Grand einige Icons. Plötzlich materialisierte eine Gestalt vor der Holoschnittstelle. Grand wischte einmal diagonal durch das Gestenfeld und es löste sich umgehend auf.

Die schlanke, geschlechtslose Gestalt war unbekleidet, besaß eine glatte, fast weiße und vollkommen haarlose Haut. Jalina glaubte allerdings, in dem Gesicht eine gewisse Ähnlichkeit zu ihrem Eigenen feststellen zu können. Wie es schien, hatte Grand bei der Anforderung eines Kontaktavatars an sie gedacht.

»Avatar bereit. Audiovisueller In- und Output verfügbar«, erfolgte die Vorstellung.

»Wer bist du?«, fragte Grand.

»Ich bin ich. Wer seid ihr?«, fragte der Avatar zurück.

»Mein Name ist Michael und das ist Jalina.« Er zeigte auf die Kolltanerin, die dem Avatar lächelnd zunickte. Solange sie nicht wussten, mit wem sie es zu tun hatten, erschien es ihr ratsam, lieber freundlich zu bleiben.

»Hallo Michael! Hallo Jalina!«

»Wie sollen wir dich nennen?«, fragte Jalina.

»Ich habe erst dann einen Namen, wenn ihr mir einen gebt.«

»Würde dir 'Kara' gefallen?«, schaltete sich Grand wieder ein.

»Das ist akzeptabel.«

»Schön! Also … hallo, Kara! Kannst du uns ein paar Fragen beantworten?«, übernahm Jalina wieder das Gespräch.

»Natürlich.«

»Wer bist du?«

»Ich bin Kara.«

»Was ist deine Funktion?«, versuchte Jalina es auf andere Weise.

»Ich bin der Intellektualverbund der Erigal.«

»Was bedeutet das?«

»Das Volk der Erigal hat seine geistige Essenz in dieses System hochgeladen.«

»Bist du eine künstliche Intelligenz?«

»Was ist künstlich und was ist natürlich? Diese Umgebung ist künstlicher Natur – sie wurde von uns Erigal vor Jahrmillionen erschaffen – doch sie ist erfüllt von den Bewusstseinen von Millionen ursprünglich biologischen Individuen, die hierher migriert sind.«

»Moment!«, rief Grand. »Willst du uns damit sagen, dass dies ein gigantischer Computer ist, in den sich ein ganzes Volk eingespeist hat?«

»So könnte man es vereinfacht ausdrücken.«

»Wie groß ist dieser … Computer?«, wollte Jalina wissen.

»Inzwischen bedeckt er die gesamte Oberfläche unseres Heimatplaneten Eriga.«

»Wo befindet sich euer Heimatplanet? Um welche Sonne kreist er?«

»Um keine mehr! Als unsere Sonne zur Nova zu werden drohte, haben wir diesen Plan entwickelt. Wir waren zu diesem Zeitpunkt bereits ein sehr altes Volk und das Universum hielt keine Geheimnisse mehr für uns bereit. Wir hatten kein Interesse daran, uns noch weiter zu entwickeln oder in eine höhere Existenzebene aufzusteigen, von der wir sehr wohl wussten, dass es sie gibt. Unsere Kolonien waren längst aufgegeben worden und auf Eriga lebten nur noch wenige Millionen Erigal. Wir waren potenziell unsterblich und wollten nicht in ein anderes Sonnensystem umsiedeln. Also haben wir einen anderen Weg beschritten. Unsere Wissenschaftler erschufen dieses neuronale Konstrukt, wir haben unsere geistige Essenz hier eingebracht und die Körperlichkeit aufgegeben. Der Planet wurde in eine eigens hierfür geschaffene Blase im Bulk versetzt und wir beziehen die benötigte Energie für all unsere Bedürfnisse, indem wir die Energien des Bulk anzapfen. Sie sind unerschöpflich.«

Grand war beeindruckt. Die Erigal hatten sich einfach aus dem Multiversum zurückgezogen und von allen anderen Universen abgekoppelt, nachdem sie ihren Zenit überschritten hatten. Sie schienen keine Expansions- oder Eroberungsgelüste mehr zu besitzen. Sie waren sich selbst genug.

»Wir befinden uns in diesem Konstrukt, nehme ich an?«

»Das ist korrekt.«

»Wie sind wir hierhergekommen?«

»Das ist mir unbekannt.«

»Warum sind wir hier?«

»Ihr seid hier, weil ich eure aberrante Qbit-Matrix nicht annullieren kann.«

Das war zwar keine Antwort auf Grands Frage, aber Kara machte damit deutlich, dass sie ihn und Jalina am liebsten 'rausgeschmissen' hätte. Sie waren ungebetene Gäste. Vielleicht gab es noch andere ungebetene Gäste im Intellektualverbund der Erigal.

»Ist außer uns noch jemand kürzlich hier angekommen?«, fragte Grand.

»Außer euch befinden sich noch zwei weitere nicht-systemkompatible Qbit-Matrizen hier.«

Das muss das andere Kandidatenpaar sein , überlegte Grand.

»Wir haben kürzlich etwas beobachtet, was wie eine Störung in deinem neuronalen Netzwerk aussah. Eine Abweichung in der farblichen Darstellung. Waren das die beiden anderen nicht-systemkompatiblen Qbit-Matrizen?«

»Das ist korrekt!«

»Kannst du uns etwas über sie sagen?«

»Sie versuchen, in meinen Ego-Kern einzudringen. Noch kann ich sie zurückhalten, aber ich weiß nicht, wie lange noch.«

»Warum sprichst du überhaupt mit uns, wenn du uns am liebsten loswerden würdest?«

»Neugier, Faszination und Überraschung. Wir hätten es niemals für möglich gehalten, dass uns jemand hier aufspüren oder sogar in den Intellektualverbund eindringen würde. Das ist höchst interessant. Außerdem hoffen wir, durch den Kontakt etwas über euch zu lernen und Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie wir euch eliminieren und Eindringlinge zukünftig abwehren können.«

Zumindest ist sie ehrlich, was ihre Motivation betrifft , dachte Grand. Dann hatte er eine Eingebung.

»Kannst du mir eine visuelle Darstellung deines Ego-Kerns zeigen?«

»Warum möchtest du ihn sehen?«

»Weil wir euch vielleicht helfen können, die anderen Qbit-Matrizen loszuwerden. Damit wärt ihr automatisch auch uns los. Glaub mir, Kara, wir sind froh, wenn es uns gelingt, wieder von hier zu verschwinden.«

Plötzlich drehte sich vor Grand und Jalina eine dreidimensionale Darstellung im Raum.

»Dies ist die beste optische Repräsentation meines Ego-Kerns, die mir möglich ist«, sagte Kara.

Grand und Jalina sahen einander wortlos an. Der Ego-Kern war ein Torus, ein ringförmiges Gebilde, das sich langsam um die eigene Achse drehte und in einem hellen Silberton leuchtete.