11. Firewall


»Wir helfen dir, die anderen … äh … nicht-systemkompatiblen Qbit-Matrizen loszuwerden, wenn du uns sagst, wie wir an sie herankommen können«, sagte Grand. Er hielt es für besser, Kara nicht darauf aufmerksam zu machen, dass auch er und Jalina beabsichtigten, zu ihrem Ego-Kern vorzudringen, denn es stand außer Frage, dass diesmal der silberfarbene Torus ihr Ziel darstellte. »Wie kommen wir ins Innere deines Verbundes?«

»Ich verstehe deine Frage nicht. Ihr seid bereits in meinen Intellektualverbund.«

»Natürlich, Michael!«, rief Jalina aus. »Es ist ganz einfach. Wir müssen uns nur vorstellen , durch die synaptischen Verbindungen zu reisen. Alles hier ist virtuell und natürlich ist jeder von uns nichts anderes als eine definierte Matrix von Quantenbits unter unzähligen anderen. Wir haben uns nur noch nicht vollständig in das neuronale Netz integriert und sehen deshalb den Rest des Netzes mehr von außen als von innen.«

»Du glaubst, allein die Vorstellung , wir könnten uns im neuronalen Netz frei bewegen, würde genügen, um dies möglich zu machen? Ist das so, Kara?« Grand erschien diese Lösung fast zu einfach.

»Das ist korrekt. Nur eure Vorstellungskraft setzt euch Grenzen. Das Konstrukt wird automatisch jede eurer Vorstellungen, bewusste und unbewusste, in einer virtuellen Umgebung realisieren, in der ihr mit anderen Qbit-Matrizen interagieren könnt.«

»Wenn das so ist, warum konnten dann die beiden anderen, lass sie uns der Einfachheit halber 'Eindringlinge' nennen, bisher nicht zu deinem Ego-Kern vorstoßen?«

»Die Erbauer des Intellektualverbunds haben für eine solche Situation vorgesorgt. Sie wollten verhindern, dass jemals einer von uns die alleinige Kontrolle über das Konstrukt erlangen könnte. Es gibt Sperren und Hindernisse – ihr würdet sie 'Firewalls' nennen – die nicht einmal von uns beeinflusst oder umgangen werden können. Einem Zugang zum Ego-Kern muss die Mehrheit aller hier anwesenden Erigal-Intellekte zustimmen. Doch die beiden anderen Eindringlinge sind dabei, diese Sicherungen zu umgehen. Sie gehen dabei sehr geschickt vor.«

»Mit anderen Worten: Wir haben nicht viel Zeit zu verlieren, wenn wir es verhindern wollen«, sagte Jalina.

»Sie haben die erste Firewall bereits überwunden«, gab Kara zu.

»Kannst du uns dorthin bringen? Vielleicht können wir ihre Spur aufnehmen.«

»Ihr müsst es nur wollen, dann wird es geschehen. Auch ich bin in meiner Gestalt als Avatar nicht real. Ich bin nur die Manifestation eures Willens und eurer Fantasie. Um jene Stelle innerhalb meines Verbundes zu erreichen, an der die Eindringlinge die erste Firewall überwunden haben, müsst ihr nur euren Willen bemühen. Ihr werdet dann sofort in den entsprechenden Abschnitt des Quantencodes eingespeist. Ich werde die notwendigen Verknüpfungen bereitstellen, die eure Qbit-Matrizen an die richtige Stelle im Code leiten werden.«

Grand hatte zwar nur die Hälfte der Erklärung verstanden – und ein Blick in Jalinas Gesicht zeigte ihm, dass es ihr nicht anders ging –, doch wenn sie eine Chance geboten bekamen, sich auf die Spur des zweiten Kandidatenpaares zu setzen, mussten sie sie ergreifen.

»Was genau müssen wir tun?«

»Es wollen!«

Grand und Jalina ergriffen sich – wieder einmal – bei den Händen.

»Ich hoffe, wir werden dabei nicht getrennt«, sagte Grand. »Wir sollten uns eine Wand vorstellen, in die jemand eine Bresche geschlagen hat. Und lass uns vor allem daran denken, dass wir zusammen sind!«

»Ich würde dich überall wiederfinden, Michael. Ob irgendwo im Universum auf einem Planeten oder hier als körperloses Datenpaket.«

Es klang wie ein Scherz, doch Grand wusste, dass Jalina es todernst meinte. Er wusste es, weil er genauso empfand.

Sie schlossen die Augen und konzentrierten sich. Sie spürten keine Veränderung, doch als sie eine Sekunde später die Augen wieder öffneten, hatte sich ihre Umgebung komplett verändert.

Sie standen nicht etwa vor einer Wand, in der ein Loch klaffte, oder einer Barriere, die jemand durchbrochen hatte – sie standen in einer völlig verwüsteten Landschaft.

»Mein Gott«, sagte Grand. »Hier sieht es aus wie nach einem Atomschlag!«

Tatsächlich erinnerte die Landschaft an die Oberfläche eines Planeten, der durch den Einsatz thermonuklearer Waffen vollständig zerstört worden war.

So weit das Auge reichte, gab es nichts weiter als eine verbrannte, hügelige Ebene. Überall standen Gerippe toter Bäume und Ruinen von Gebäuden, deren einstige Funktionen nicht mehr zu erkennen waren. Vereinzelt stieg aus den Ruinen sogar noch Rauch auf. In der Luft lag ein ekelhafter Geruch nach Asche und Verwesung.

Über ihnen wölbte sich ein von dunkelgrauen Wolken verhangener Himmel, durch die keine Sonne hindurchschien. Das düstere Licht verstärkte den Eindruck von Tod und Verwüstung. Weit und breit rührte sich nichts und Grand war sich instinktiv absolut sicher, dass es hier kein Leben mehr gab – falls es innerhalb dieser Illusion überhaupt jemals Leben gegeben hatte.

»Schön, jetzt sind wir hier. Und was jetzt?« Jalina sah sich suchend um, doch sie konnte keinen Hinweis darauf finden, wie sie weiter vorgehen sollten. Von dem anderen Kandidatenpaar gab es keine Spur.

»Dort drüben befinden sich besonders große Ruinen. Vielleicht finden wir dort etwas«, schlug Grand vor und zeigte dabei auf einen kleinen Hügel rechts von ihnen.

Dort, nur ein paar Hundert Meter entfernt, ragten die Überreste eines Gebäudes in den Himmel, das einstmals ein Palast oder etwas Ähnliches gewesen sein mochte. Teile von Säulen, kunstvollen Bögen und Marmorböden waren noch erkennbar. Grand fragte sich, aus welchen Tiefen seines Unterbewusstseins das Konstrukt wohl solche Bilder erschuf. Der Palast war vermutlich zweigeschossig gewesen, doch nun standen nur noch ein paar Mauern. Das gelbliche Material, aus dem er erbaut worden war, erinnerte in seiner Struktur an Sandstein.

Sie bahnten sich einen Weg durch das Trümmerfeld bis zu der Stelle, wo sich der Haupteingang befunden haben musste. Hier war das meiste erhalten geblieben. Der massive Torbogen des ehemaligen Palastes und die Säulen, auf denen er ruhte, hatten überstanden, was immer diese Verwüstung angerichtet hatte.

»Was ist das dort?« Jalina zeigte auf ein Trümmerstück, unter dem etwas herausragte. Etwas, das metallisch glänzte.

Mit vereinten Kräften hoben sie das Trümmerstück an, bei dem es sich um einen Teil des ehemaligen Eingangstores zu handeln schien, und legten das Metallstück frei. Es war kreuzförmig und etwas mehr als einen Meter groß. Einer seiner vier 'Arme' war abgebrochen und hing nur noch an ein paar Kabeln. Ein anderer war völlig zerquetscht. Doch zwei der Arme, die wie lang gezogene Quader aussahen, waren noch intakt.

»Ich frage mich, was das wohl einmal war«, sagte Grand.

»Ich bin eine Abwehrdrohne«, erwiderte das Metallteil zu ihrer Überraschung. »Teil eines ganzen Geschwaders. Alle anderen wurden vernichtet und auch ich bin nicht mehr einsatzfähig.«

Grand musste sich in Erinnerung rufen, dass nichts von dem, was er hier sah, real war. Wahrscheinlich war die vermeintlich schwer beschädigte Drohne nichts anderes als das noch teilweise aktive Fragment eines Codes, einer Software, die als Firewall fungiert hatte und überwunden worden war. Das Konstrukt visualisierte alles in für ihn verständliche Bilder.

»Wie lange ist das her?«, fragte Jalina.

»Drei tertiäre Zeiteinheiten.«

Natürlich konnten Grand und Jalina damit nichts anfangen, doch es gab eine Möglichkeit, zumindest die subjektiv verstrichene Zeit damit zu vergleichen.

»Wie lange befinden wir uns bereits im Konstrukt?«

»Seit eurem ersten Erscheinen sind zwei tertiäre Zeiteinheiten vergangen.«

»Wir sind nach unserem Zeitempfinden bereits über eine Stunde hier«, überlegte Grand. »Also haben unsere Gegner die Firewall vor fast zwei Stunden überwunden

»Sie müssen also ein paar Stunden vor uns hier angekommen sein.«

»Und diesen Vorsprung müssen wir schleunigst aufholen!« Grand wandte sich wieder an die Abwehrdrohne. »Ist dir bekannt, wohin sich euer Gegner gewandt hat?«

»Die nächste logische Station auf dem Weg zum Juwel des Innersten ist die Höhle Ofrathim. Nur durch sie ist das Juwel zugänglich. Doch sie wird von einem Drachen bewacht, der noch nie überwunden werden konnte.«

Jalina brach in schallendes Gelächter aus.

»Aus meinem Unterbewusstsein kommen solche Analogien sicherlich nicht, Michael. Ich frage mich gerade, was sich noch so alles in deinem Kopf verbirgt.«

Grand grinste. »Ich gebe zu, dass ich als junger Mann eine Vorliebe für Fantasy-Holos hatte. Dass mich das noch einmal einholen wird, hätte ich nicht gedacht.«

»Der Drache steht sicherlich symbolisch für eine weitere Firewall, die man überwinden muss, um zu dem Juwel, dem Ego-Kern, vordringen zu können«, vermutete Jalina.

»Wie kommen wir zu der Höhle?«, fragte Grand die Drohne.

»Der Weg ist sehr weit, doch ihr könnt die Höhle Ofrathim schneller erreichen, wenn ihr auf dem Vogel Paraquot reitet. Er wird euch rechtzeitig dorthin bringen, sodass ihr eure Gegner einholen könnt.«

»Das ist surreal«, sagte Jalina und schüttelte lachend den Kopf. »Erst ein Drache und nun ein Riesenvogel, auf dem wir reiten können.«

»Ich denke, das ist Kara, die hier gerade eingreift. Sie schaltet neue synaptische Verbindungen, damit wir die anderen 'Eindringlinge' einholen können. Für uns werden diese neuen Verbindungen eben als ein schneller Vogelflug versinnbildlicht. In Wahrheit dürfte es sich lediglich um einen modifizierten Datenfluss im Konstrukt handeln, über den unsere Qbit-Matrizen weitergeleitet werden.«

»Dann wollen wir die Ritterspiele beginnen lassen«, sagte Jalina. »Auf geht´s zum Kampf gegen den Drachen! Wo ist unser Vogel?«