12. Die Höhle


»Juhu!« Jalina saß hinter Grand und stieß jubelnd einen Arm in die Luft. Unter ihnen schlug der Vogel Paraquot kräftig mit den riesigen Flügeln.

Sie waren seit einer halben Stunde unterwegs. Paraquot hatte sich mit lautem Flügelschlag angekündigt und war neben ihnen gelandet. Er war wirklich ein Riesenvogel. Mit seinem fast acht Meter langen Körper wies er im Flug eine Spannweite von mindestens zwölf Metern auf. Sein Gefieder war pechschwarz bis auf einen hellgrünen Kamm auf dem spitzschnabeligen Kopf. Die intelligent blickenden Augen hatten den Durchmesser von Tellern und die brennend roten Pupillen im hellgelben Augapfel gaben ihm etwas Dämonisches. Doch er gehörte zu den 'Guten', wie sich sogleich herausgestellt hatte.

»Kara schickt mich«, hatte er mit sonorer, erstaunlich menschenähnlicher Stimme gesagt. »Ich soll euch so schnell wie möglich zur Höhle Ofrathim bringen. Steigt auf!«

Auf seinem Rücken befand sich ein Doppelsattel. Paraquot war niedergekniet und hatte geduldig gewartet, bis Grand und Jalina seinen Rücken erklommen hatten. Dann hatte er ein paar Schritte Anlauf genommen und abgehoben.

Jetzt waren sie unterwegs.

Unter ihnen erstreckte sich, so weit sie sehen konnten, die verwüstete Landschaft. Grand konnte mehrere große Krater ausmachen, wo gewaltige Vernichtungswaffen eingeschlagen haben mussten. Er fragte sich, mit welchen Mitteln es dem anderen Paar gelungen sein mochte, die Firewall außer Gefecht zu setzen. Sie nicht nur zu umgehen, sondern den Code regelrecht zu zerfetzen. Nichts anderes konnte die hier sichtbare Zerstörung symbolisieren. Nach allem, was er hier sah, durften sie ihre Gegner in dieser Runde keinesfalls unterschätzen.

»Ist das nicht toll, Michael?« Jalina genoss den rasanten Flug sichtlich, auch wenn ihr bewusst sein musste, dass nichts davon real war. Es fühlte sich jedoch sehr real an. Der Wind brannte in ihren Augen und ihre Overalls flatterten um ihre Körper.

In der Ferne begann sich eine Bergkette abzuzeichnen.

»Das dort dürfte unser Ziel sein«, rief Grand laut aus, um den heulenden Wind zu übertönen. Er nahm eine Hand von dem Haltebügel und zeigte auf den sich langsam aus dem Dunst schälenden Gebirgszug. »Wir sollten die Berge in wenigen Minuten erreicht haben.«

Tatsächlich ging Paraquot kurz darauf in einen Sinkflug über. Er hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen, legte sich leicht auf die Seite und steuerte einen der Berge an. Langsam glitten sie tiefer. Ungefähr auf halber Höhe des größten Berges konnte Grand einen dunklen Fleck ausmachen. Paraquot flog darauf zu.

»Ich glaube, ich kann den Eingang zur Höhle sehen«, rief er nach hinten, wo Jalina sich inzwischen an ihn geschmiegt und seine Taille mit beiden Armen umfasst hatte. Sie spähte über seine Schulter.

»Ja, ich sehe es auch. Wir sind gleich da!«

Nur wenige Minuten später stellte Paraquot die Flügel in den Wind, richtete sich leicht auf und landete sanft auf einem kleinen Plateau vor dem Höhleneingang. Er machte noch zwei schnelle Schritte, um die restliche Geschwindigkeit abzubauen, und ließ sich auf die Knie nieder.

»Wir sind da«, sagte er. »Ihr solltet euch beeilen. Die anderen Eindringlinge haben die Höhle bereits betreten.«

Grand und Jalina sprangen von Paraquots Rücken und streckten die steif gewordenen Glieder.

»Danke für den Flug«, sagte Jalina. »Es war ein tolles Erlebnis.«

Paraquot nickte. »Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Erfüllt jetzt ihr die eure!«

Dann drehte er sich um, nahm Anlauf und schwang sich in die Luft. Sie sahen ihm noch einige Sekunden hinterher. Er schraubte sich in den Himmel, viel höher als während ihres Fluges, und verschwand schließlich in den düsteren Wolken.

Vor ihnen gähnte der dunkle Eingang zur Höhle. Es drang kein Lichtschimmer heraus und das trübe Sonnenlicht war nicht stark genug, um in die Höhle hineinsehen zu können. Die kreisrunde Öffnung durchmaß mehrere Manneslängen, was auf die Größe des Drachen schließen ließ, der dort auf jeden wartete, der es wagte, einzudringen. Er musste wahrhaft gewaltig sein.

»Dir ist klar, dass wir über keinerlei Waffen verfügen«, warnte Jalina.

»Und dir ist klar, dass wir keine andere Wahl haben«, antwortete Grand. »Uns wird schon etwas einfallen.«

Als sie die Höhle betraten, schien die Dunkelheit sie verschlucken zu wollen. Sie blieben einen Moment stehen, um ihre Augen an die Finsternis zu gewöhnen, bevor sie weitergingen. Es machte keinen Sinn, blind wie ein Maulwurf in eine Falle zu laufen. Doch auch nach einigen Sekunden der Gewöhnung wurde es nicht viel besser. Sie konnten gerade genug sehen, um nicht gegen die Felswand zu laufen, die plötzlich einen scharfen Knick nach links machte.

Sie tasteten sich vorsichtig an der Wand entlang. Es wurde immer dunkler, bis sie schließlich überhaupt nichts mehr sehen konnten.

»Wenn irgendwo vor uns ein Loch im Boden ist, stürzen wir ab«, warnte Jalina. Obwohl sie instinktiv flüsterte, kam es Grand vor, als müssten ihre Worte in der gesamten Höhle zu hören sein. Jeder ihrer vorsichtigen Schritte, selbst das Tasten seiner Hände an der Wand, erschien ihm unnatürlich laut.

Nach ein paar Minuten folgte der Gang einer weiteren Biegung. Dahinter sahen sie plötzlich ein schwaches Glimmen vor sich. Ganz zart zeichnete sich ein Durchgang gegen die Dunkelheit ab. Dahinter schien eine größere, nicht völlig dunkle Höhle zu liegen. Dann bemerkte Grand im schwachen Lichtschimmer die Umrisse zweier Gestalten. Er blieb stehen und legte Jalina einen Finger an die Lippen. Er spürte, wie sie nickte. Sie hatte die beiden ebenfalls gesehen.

Grand fuhr erschrocken zurück, als sich eine der Gestalten umdrehte und ihnen zuwinkte. Wie können die uns nur bemerkt haben , fragte er sich. Und wieso winken sie uns derart unbesorgt zu sich?

»Was sollen wir jetzt machen?«, hauchte Jalina ihm leise ins Ohr.

»Da sie uns entdeckt haben, ist ein weiteres Versteckspiel unsinnig«, sagte er ebenso leise. »Es könnte natürlich eine Falle sein. Ich gehe vor und du bleibst hier. Sollten sie uns reinlegen wollen, verlasse ich mich darauf, dass dir etwas einfällt, um mir zu Hilfe zu kommen.«

Grand wusste, dass Jalina lieber die Vorhut übernommen hätte, doch sie erhob keinen Einspruch gegen seinen Vorschlag. Wahrscheinlich malte sie sich bereits tausend Todesarten für die beiden Unbekannten aus, falls sie es wagen sollten, Grand hereinzulegen.

Mit erhobenen Händen ging Grand auf das Pärchen zu. Jetzt konnte er sie in dem schwachen Licht, das aus der angrenzenden Höhle fiel, besser erkennen. Er konnte sich nicht erinnern, ihnen in der Wächterbasis begegnet zu sein, aber von den einhundertachtundzwanzig Kandidatenpaaren hatte er die meisten nie aus der Nähe gesehen.

Ihm wurde nun klar, warum sie ihn und Jalina in dem stockdunklen Höhlengang hatten sehen können. Sie waren von humanoider Gestalt, allerdings bogen sich ihre Kniegelenke in die falsche Richtung, was ihnen gewaltige Sprünge ermöglichen musste, worauf auch die überaus kräftigen Oberschenkel hinwiesen. Am wenigsten glich ihr Kopf dem eines Menschen oder Kolltaner. Er wurde von zwei riesigen Augen beherrscht, die an den Seiten saßen und ihnen nicht nur einen ausgezeichneten Rundumblick, sondern auch eine hervorragende Nachtsicht ermöglichen mussten. Wahrscheinlich war es für sie hier sogar taghell. Der Mund war lippenlos, schmal und breit. Zwei spitze Ohren saßen direkt über den dunklen Riesenaugen. Ihre dunkelbraune, runzlige Gesichtshaut sah aus wie Leder. Der restliche Körper war von einer eng anliegenden, schwarzen Uniform verdeckt. An den Füßen trugen sie schwere Stiefel.

Es mussten gewitzte Burschen sein, sonst hätten sie die beiden ersten Runden nicht überstanden.

»Wir dachten schon, ihr kommt nicht mehr«, sagte einer von ihnen zu Grands Überraschung.

»Euch ist klar, dass wir Konkurrenten sind?«, konnte Grand sich nicht verkneifen.

»Natürlich, aber hier kommen wir alleine nicht weiter, wie ich leider zugeben muss. Außerdem wurde mein Paladin schwer verletzt, und ich weiß nicht, wie lange er noch durchhält. Ich bin Jorgal und das ist Kranyak. Wir sind Horaker und die Abgesandten des Horakischen Imperiums.«

Erst jetzt fiel Grand auf, dass der zweite Horaker sich schwer gegen die Felswand lehnte. Die rechte Seite seiner Uniform glänzte noch dunkler als das Schwarz des Stoffes. Er schien heftig zu bluten.

»Alleine kann ich gegen das Ungetüm nichts ausrichten. Es hat Kranyak mit einem Stachel seines Schwanzes durchbohrt«, erklärte Jorgal. »Du kannst deinen Paladin ruhig herbeirufen. Ohne euch kommen wir hier nie durch, also wäre es dumm, gegen euch zu kämpfen.«

»Schlägst du eine Zusammenarbeit vor?«

»Eine zeitweilige Allianz, bis wir den Torus erreichen. Danach sehen wir weiter.«

Es macht Sinn , dachte Grand. Einer der Horaker war offensichtlich schwer verletzt und der andere hatte allein keine Chance, an dem Drachen vorbeizukommen, der in der angrenzenden Höhle lauern musste. Er hatte keinen Grund, Grand und Jalina anzulügen. Selbst wenn es dem Horaker gelingen würde, sie auszuschalten, wäre er dadurch keinen Schritt weiter. Das Angebot, den Drachen gemeinsam zu besiegen, war nachvollziehbar und mit ziemlicher Sicherheit ehrlich gemeint.

Grand pfiff leise und winkte Jalina herbei. Immer noch misstrauisch näherte sie sich vorsichtig.

»Es ist okay, Liebling«, sagte Grand. »Wir sind eine einstweilige Allianz eingegangen. Einer der beiden ist schwer verletzt und sie brauchen unsere Hilfe. Und auch wir haben mit ihnen gemeinsam eine bessere Chance.«

Eine Frage trieb Grand um: Bisher war jede Umgebung aus ihren Fantasien, Erinnerungen und Vorstellungen geformt worden. Wieso sahen die beiden Horaker dasselbe wie sie? Oder sahen sie vielleicht etwas völlig anderes?

»Was verbirgt sich in der Höhle?«, fragte er.

»Ein Feuervogel«, antwortete Jorgal. »Ein mystisches Tier aus unseren Sagen.«

Das kann kein Zufall sein , überlegte Grand. Vielleicht werden die Kandidatenpaare für jede Runde so zusammengestellt, dass sie in der gleichen Umgebung agieren können und ähnliche Voraussetzungen mitbringen. Wahrscheinlich werden wir es aber nie erfahren .

»Wir haben versucht, uns Waffen zu denken, aber es hat nicht funktioniert«, sagte Jorgal.

Grand musste zugeben, dass ihnen diese Möglichkeit völlig entgangen war. Er schloss die Augen, stellte sich einen Plasmastrahler vor, doch nichts geschah.

»Funktioniert auch bei uns nicht«, musste er zugeben.

»Moment«, schaltete sich Jalina ein. »An was hast du gedacht?«

»An einen Plasmastrahler.«

»Lass es mich einmal versuchen«, sagte sie und lächelte schelmisch. »Ich glaube, ich weiß, wo der Fehler liegt.«

Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Nur Sekunden später erschien aus dem Nichts ein Schwert vor ihr auf dem Boden. Es war ein Breitschwert, wie Grand es aus alten Ritterfilmen kannte. Er war verblüfft.

»Man darf sich nichts wünschen, was nicht in die Umgebung oder zur Aufgabenstellung passt. Vorgreifende Anachronismen sind nicht erlaubt!«

Grand drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Wenn wir das gewusst hätten, wäre Kranyak vielleicht nicht verletzt worden«, sagte Jorgal, der sich zu seinem Paladin hinabgebeugt hatte. Kranyak lag inzwischen auf dem Boden und hatte die großen Augen geschlossen. »Es geht ihm schlechter.«

»Hast du versucht, dir medizinische Hilfsmittel … äh … herbeizudenken?«

»Natürlich, aber außer einem Stück Stoffverband ist nichts erschienen. Nicht einmal ein blutstillendes Mittel.«

Eine Minute später hörte Kranyak auf zu atmen und starb. Jorgal war untröstlich.

»Wir haben unser halbes Leben an der Sphäre der Erleuchtung damit verbracht, auf unsere Chance zu warten. Und nun war alles umsonst!«

»Es tut mir leid«, sagte Grand. Er wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte. Auch Jalina schwieg betreten. Die Horaker schienen patente Burschen zu sein, und es war bedauerlich, dass ihre Mission so enden musste. Doch Grand und Jalina konnten sich kein Mitleid leisten, wenn sie diesen Wettkampf überleben wollten.

»Gilt unsere Abmachung noch?«, fragte Grand. Es erschien ihm herzlos, sofort wieder auf ihre Aufgabe zurückzukommen, doch er hatte keine andere Wahl.

»Ja, ich halte mich daran«, sagte Jorgal. »Mit einer Änderung: Ich werde euch beim Kampf gegen den Feuervogel unterstützen. Ohne meinen Paladin wird man mich nicht zur nächsten Runde zulassen. Mein Weg ist hier zu Ende, doch ich helfe euch auf eurem!«

Jalina nahm den Horaker in den Arm. »Wir danken dir! Das ist sehr nobel von dir.«

»Wir Horaker sind keine kriegerische Spezies«, gestand Jorgal. »Die ersten beiden Runden haben wir nur mit viel Glück überstanden. Wahrscheinlich hätten wir es sowieso nicht geschafft. Ihr hingegen wirkt auf mich sehr … gefährlich. Als ich euch sah, hatte ich Angst vor euch.«

»Wir sind nur gefährlich für unsere Feinde«, sagte Grand.

»Und für Feuervögel«, fügte Jalina lächelnd hinzu.

»Dann los, Freunde, lasst uns einen Drachen töten«, entgegnete Grand.