13. Der Torus


Grand, Jalina und Jorgal trugen Brustharnische, leichte Helme und Breitschwerter. Weitere Waffen und eine bessere Schutzkleidung waren selbst mit höchster Konzentration und größtem Vorstellungsvermögen nicht herbeizudenken gewesen.

Grand vermutete, dass ihre Codes, denn letztlich waren sie nichts anderes als codierte Qbit-Matrizen einer komplexen Software, keine tiefergehenden Modifikationen zuließen. Jede Schadsoftware war in ihren Möglichkeiten beschränkt und konnte sich nicht selbst komplett umschreiben. In ihrem Fall bedeutete dies, dass moderne Waffentechnologien und persönliche energetische Schutzschirme in ihren Code nicht implementiert werden konnten. Ihr Quantencode war, wie es aussah, nur zu einem einem geringen Maß modifizierbar und anpassungsfähig. Zumindest war dies die Erklärung, zu der sie gekommen waren.

Der Gedanke, nichts weiter zu sein als Viren oder Trojaner in einem Quantennetzwerk, die versuchten eine starke Firewall zu umgehen, war für die drei kaum nachvollziehbar. Es spielte jedoch keine Rolle. Sie konnten hier und jetzt sterben – ob als Quantenmatrix oder als Wesen aus Fleisch und Blut, das machte im Ergebnis keinen Unterschied!

Grand lugte um die Ecke. Es war nicht besonders hell in der Höhle. Das spärliche Licht kam von einem winzigen Loch in der Decke, durch das etwas von dem trüben Tageslicht fiel. Es reichte gerade aus, um eine massige Gestalt zu erkennen, die zusammengerollt in einer Ecke lag. Hinter ihr schien ein weiterer Gang tiefer in das Gebirge zu führen. Einen anderen Ausgang gab es nicht. Dieser Gang war ihr Ziel.

Die massige Gestalt bewegte sich. Sie streckte sich und hob schnüffelnd den Kopf. Grand lief ein kalter Schauer über den Rücken. Der Drache hatte sie bemerkt – die Firewall war jetzt aktiv.

Das Biest war mehr als nur gewaltig, es war ein kraftstrotzendes Monster. Als sich der Drache erhob, konnten sie ihn zum ersten Mal in seiner ganzen Pracht bewundern.

»Oh, Scheiße!«, sagte Jalina, die neben Grand ebenfalls um die Ecke spähte. Mit diesem einen Wort fasste sie ihre Chancen zusammen.

Jalina hat vollkommen recht, dachte Grand. Unsere Chancen sind tatsächlich beschissen . Wie sollen wir dieses Ding besiegen?

Der Drache war mindestens fünfzehn Meter lang und ragte auf seinen vier stämmigen Beinen fast fünf Meter in die Höhe. Seine dunkelbraune, fast schwarze Haut war geschuppt, und wie Grand sehen konnte, stellten sich die Rückenschuppen fast senkrecht auf, wenn er Witterung aufnahm. Der flache Schädel saß auf einem gedrungenen Hals und hatte beinahe die Ausmaße eines kleinen Personengleiters. Mit den seitlich sitzenden, gelben Augen versuchte der Drache, die Dunkelheit zu durchdringen. Mehr als die Hälfte des ebenfalls geschuppten Kopfes nahm das riesige Maul ein, von dessen beiden Doppelreihen spitzer Zähne der Geifer tropfte. Die lange, schmale Zunge gabelte sich an der Spitze wie bei einer Schlange und züngelte umher, um die Witterung nicht zu verlieren. Der Körper des Ungetüms lief hinten in einem Schwanz aus, der fast ein Drittel der Körperlänge ausmachte und dessen Ende mit vier fast einen Meter langen Stacheln ausgestattet war, die in den vier Himmelsrichtungen abstanden. Einer der Stacheln schimmerte noch dunkel. Es musste das noch nicht völlig getrocknete Blut des getöteten Kranyak sein.

Grand und Jalina zogen ihre Köpfe hinter den Felsvorsprung zurück.

»Ich habe keine Ahnung, wie wir an dem Ding vorbeikommen sollen«, sagte Jalina. »Solange er vor dem Durchgang steht, kann er uns mit seinem Schwanz aufspießen oder zerschmettern – wenn er uns nicht vorher schon in kleine Stücke zerbeißt.«

»Ich frage mich gerade, wie weit die Analogie mit einem Drachen geht und ob er Feuer spucken kann. Dann könnte er uns sogar aus einiger Entfernung einfach rösten«, gab Grand zu bedenken.

»Nein«, sagte Jorgal. »Die Feuervögel in unseren Mythen können feurige Blitze aus ihren Augen verschießen, aber als wir versucht haben, uns an ihm vorbeizuschleichen, hat er uns nur mit den Zähnen und mit seinem Schwanz attackiert. Ich denke deshalb nicht, dass er Feuer spucken kann, wie es bei euren Sagengestalten der Fall ist.«

»Ich hoffe, du hast recht«, seufzte Grand. »Aber wir haben so oder so keine Wahl und müssen irgendwie an ihm vorbei.«

»Ich könnte ihn ablenken und ihn zu mir in die andere Ecke der Höhle locken«, schlug Jalina vor.

»Und wie kommst du dann selbst weiter?«, fragte Grand kopfschüttelnd.

»Ich muss nur schnell genug rennen!«

»Du kannst so schnell rennen, wie du willst, Jalina. Er macht einen Schritt, während du zehn machst. Er hätte dich mit einem Satz eingeholt!«

»Ich werde ihn ablenken« sagte Jorgal ruhig.

»Das ist Selbstmord«, widersprach Grand. »Uns muss etwas anders einfallen.«

»Es ist der einzige Weg.« Jorgal schien entschlossen, sich seinen Vorschlag nicht ausreden zu lassen. »Das Biest muss vom Durchgang weg, und den wird es nur freigeben, wenn es die Chance wittert, einen von uns zu jagen.«

»Ich mache den Vorschlag nur ungern, bitte verzeih mir, Jorgal, aber vielleicht könnten wir den Körper deines Freundes als Köder benutzen.«

Jorgal funkelte Jalina ärgerlich an. »Das kommt nicht infrage! Ich werde nicht zulassen, dass ihr Kranyaks Leib entehrt. Er ist gestorben, um mich zu retten, und ich werde nicht erlauben, dass ihr ihn einfach benutzt

Jalina hob beschwichtigend die Hände. »Natürlich nicht, Jorgal, es war nur eine verrückte Idee. Vergiss, dass ich das gesagt habe!«

»Ich werde ihn ablenken«, wiederholte Jorgal seinen Vorschlag, sprang auf und rannte in die Höhle.

Grand und Jalina waren von der spontanen Aktion vollkommen überrascht.

»Der Kerl ist lebensmüde«, schimpfte Grand. »Wir müssen ihn zurückholen!«

»Zu spät«, sagte Jalina.

Tatsächlich war der Drache bereits auf Jorgal aufmerksam geworden und näherte sich ihm mit gesenktem Kopf, wobei er ständig in Jorgals Richtung züngelte. Jorgal stieß spitze Schreie aus, um die ungeteilte Aufmerksamkeit des Drachen auf sich zu ziehen. Langsam schob sich das Ungeheuer durch die Höhle. Der Durchgang wurde frei.

»Beeilt euch!«, rief Jorgal Grand und Jalina zu.

Er hatte fast die hinterste Ecke der Höhle erreicht. Von dort aus gab es keinen Fluchtweg mehr für ihn.

»Du kannst noch hierher zurückrennen«, schrie Grand. »Sei kein Idiot! Wenn er dich erst in die Ecke gedrängt hat, gibt es kein Entkommen!«

»Lauft! Und denkt an Kranyak und Jorgal, wenn ihr den Kreatoren gegenübersteht. Ich sagte euch doch, dass mein Weg hier zu Ende ist.«

Der Drache peitschte mit dem Schwanz in Richtung des Horakers, der sich blitzschnell bückte. Pfeifend sausten die vier mörderischen Stacheln knapp über seinen Kopf hinweg. Jorgal wich weiter in die Ecke zurück. Nun gab es keinen Weg mehr an dem Ungetüm vorbei. Jeder Versuch, den Durchgang zu erreichen, hätte ihn direkt in die Reichweite der tödlichen Stacheln gebracht.

»Wir müssen ihn da heraushauen«, rief Jalina und rannte ebenfalls in die Höhle – jedoch nicht zum Durchgang, sondern direkt auf den Drachen zu, der ihnen nun sein Hinterteil mit dem gefährlichen Schwanz darbot, den er immer wieder durch die Luft schwang, um Jorgal in Schach zu halten. Für diesen wurde es zunehmend schwieriger, rechtzeitig auszuweichen. Jalina würde in der nächsten Sekunde ebenfalls in Reichweite der todbringenden Stacheln geraten.

Grand stürzte hinterher. Doch er kam zu spät. Der Drache holte erneut aus, um mit seinem Schwanz nach Jorgal zu schlagen. Diese Chance nutzte Jalina. Sie hob ihr Breitschwert und holte zu einem gewaltigen Hieb aus. Der Aufprall der Klinge schlug ihr die Waffe fast aus der Hand, doch einer der Stacheln wurde direkt am Ansatz durchtrennt. Der Drache brüllte vor Schmerz auf und stockte. Langsam drehte er den Kopf. Als er Jalina sah, fauchte er bösartig und begann sich langsam umzudrehen, um den neuen Feind in Augenschein zu nehmen. Grand hatte Jalina erreicht und zog sie ein Stück zurück.

»Bist du von Sinnen«, schimpfte er.

Der Schwanz zuckte auf sie zu und nur ein rascher Sprung zur Seite verhinderte Schlimmeres. Jorgal nützte die Gelegenheit, um seinerseits auf den Drachen zuzustürmen. Das Ungetüm blickte immer noch nach hinten. Es war von Grand und Jalina abgelenkt und für einen Moment unachtsam. Jorgal stand unmittelbar vor dem Drachen und stieß ihm sein Schwert tief in die Brust.

Der Drache brüllte vor Schmerz auf und drehte ruckartig seinen Kopf. Jorgal stand direkt vor ihm. Er riss das Schwert zurück, um zu einem zweiten Hieb anzusetzen, doch die Bestie war schneller. Mit einer Geschwindigkeit, die niemand dem riesenhaften Tier zugetraut hätte, schnappte der Drache zu. Seine Kiefer schlossen sich um Jorgals Oberkörper. Der Unglückliche schrie auf und rief etwas, das Grand und Jalina nicht verstehen konnten. Dann ertränkte ein Blutschwall aus seinem Mund jedes weitere Wort.

»Wir können ihm nicht mehr helfen!« Grand ergriff Jalina am Arm und zerrte sie von dem Drachen weg. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass der sterbende, im Maul des Drachen baumelnde Jorgal immer noch sein Schwert in der Hand hielt und damit nach dem Drachen stieß. Er musste über unfassbare Kräfte verfügen und unmenschliche Schmerzen ertragen, doch er gab nicht auf. Seine Schwertspitze bohrte sich in das rechte Auge des Drachen. Laut aufbrüllend ließ die Bestie den Todgeweihten zu Boden fallen. Das Gebrüll drohte Grands Trommelfelle zu zerfetzen. Jorgal lag blutüberströmt am Boden, doch er gab ihnen ein letztes Zeichen. Mühsam hob er sein Schwert und deutete mit der Spitze auf den nun ungeschützt daliegenden Durchgang. Grand nickte, salutierte kurz, dann sprinteten er und Jalina auf den offenen Durchgang zu.

Der Drache war für einen Moment unschlüssig. Auf einem Auge blind, mit einer heftig blutenden Wunde in der Brust, dem schmerzenden Schwanzende und einem unerklärlicherweise immer noch lebenden Angreifer vor sich zögerte er eine Sekunde zu lange.

Als er sich endlich entschloss, Grand und Jalina nachzusetzen, war es bereits zu spät. Sie warfen sich in den Durchgang und rollten so weit in den finsteren Gang, wie es nur ging. Im selben Moment krachte der Drache mit seinem massigen Leib vor dem Eingang nieder. Er versuchte, mit einem Vorderlauf nach ihnen zu grapschen, doch dieser war zu kurz, um Grand und Jalina noch erreichen zu können. Jalina stand gemächlich auf und trat einen Schritt nach vorn. Als die Klaue wieder tastend nach ihnen suchte, schlug sie zu, so fest sie nur konnte. Das Schwert drang tief ins Fleisch ein und trennte den Vorderfuß fast vollständig ab, bevor es im Knochen stecken blieb. Jalina ließ den Griff los und trat zurück. Die Klaue wurde mitsamt dem darin steckenden Schwert blitzartig zurückgezogen. Aus der Höhle erklang ein schauerliches Gebrüll – eine Mischung aus Schmerz, Zorn und vielleicht sogar Angst.

Die Firewall war überwunden!

»Wir müssen weiter«, drängte Grand.

»Ich hoffe, dass Jorgals Opfer nicht umsonst war und wir am Ende dieses Ganges den Torus erreichen. Eine weitere derartige Auseinandersetzung überstehen wir nicht«, antwortete Jalina erschöpft. Grand glaubte im schwachen Licht, das aus der Höhle zu ihnen vordrang, Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen.

»Er war sehr tapfer und ein würdiger Kandidat«, sagte er leise. »Nun komm, Liebling, es wird Zeit, dass wir aus diesem verfluchten Albtraum entkommen.«

Der Gang beschrieb einen Bogen und mündete in eine weitere Höhle. Diese war im Gegensatz zur Drachenhöhle hell erleuchtet. Am Boden der Höhle lag der silberne Torus. Er war nicht so groß wie die Pyramide und der Würfel und durchmaß nur wenige Meter, doch er war nicht weniger geheimnisvoll und beeindruckend.

Grand und Jalina gingen auf ihn zu.

»Ihr habt mich verraten!«

Sie fuhren herum. Hinter ihnen stand Kara.

»Ihr seid wie die anderen Eindringlinge. Ihr wolltet sie nie aufhalten, sondern ihnen helfen. Ihr wollt uns ebenfalls vernichten!«

»Nein, Kara, das hatten wir niemals vor. Auch die beiden anderen Eindringlinge wollten dies nicht. Wir mussten nur diesen Torus erreichen«, sagte Grand.

»Warum? Warum sollte ich euch das glauben?«

»Ich kann es dir nicht erklären, doch wir führen nichts Böses im Schilde.«

»Ihr habt uns bereits Schaden zugefügt«, sagte Kara traurig. »Ohne Firewall ist unser Ego-Kern zukünftigen Angriffen schutzlos ausgeliefert. Wenn nicht durch euch, dann durch jemand anderen. Irgendwann wird es geschehen, und es wird eure Schuld sein.«

»Es tut uns aufrichtig leid«, sagte Grand. »Doch wir hatten keine andere Wahl.«

Sie drehten sich um und gingen die restlichen Meter zum Torus. Es gab nichts mehr zu sagen. Grand bedauerte, Kara angelogen zu haben. Er würde diejenigen, die sich dieses böse Spiel ausgedacht hatten, darum bitten, die Firewall zu reparieren, wenn sich irgendwann die Gelegenheit dazu bot. Er war sich sicher, dass die Unbekannten die Möglichkeit dazu hatten.

Dieses Mal verlief alles völlig unspektakulär. Es wurden keine Fragen gestellt und keine Belehrungen erteilt. Auf dem Wulst des silbernen Torus erschien ein schwarzer Fleck und Grand und Jalina traten hindurch.