14. 30.000 v.Chr.


Die Ohrfeige brannte wie Feuer auf seiner Wange. Grand schlug die Augen auf und hielt instinktiv beide Arme schützend über das Gesicht.

»Endlich! Ich dachte schon, ich müsste dich totprügeln, um dich zum Leben zu erwecken.« Jalina hatte die Gabe, gleichzeitig verärgert und amüsiert zu klingen.

»Was … wo …?« Grand war völlig desorientiert.

»'Was' kann ich dir noch nicht sagen, 'wo' schon. Wir befinden uns diesmal an Bord eines kolltanischen Schiffes – und du solltest einmal in den Spiegel sehen!«

Grand nahm die Arme herunter und sah sich um. Er lag in der Koje einer typischen Raumschiffskabine. Die Einrichtung war zweifellos typisch kolltanisch, doch sie wirkte extrem antiquiert. Er setzte sich auf die Bettkante. Ihm war schwindlig und er fühlte sich schwach. Dies war anders als bei den bisherigen Runden.

»Als ich aufwachte, lag ich in der anderen Koje«, erklärte Jalina. »Du warst völlig weggetreten. Ich musste mich erst davon überzeugen, dass du überhaupt atmest. Und du wolltest nicht wach werden.«

Grand stand auf. Sein Blick fiel auf seine nackten Arme und Hände, die aus einem kurzärmeligen kolltanischen Overall schauten. Sie waren hellblau! Er sah Jalina bestürzt an.

»Ja! Du steckst in einem kolltanischen Körper, Michael. Die Gesichtszüge sind unverwechselbar deine, sonst hätte ich dich nicht erkannt, aber du bist ein Kolltaner. Die Glatze steht dir übrigens gut. Wie heißt du? Bestimmt nicht Michael Cordwainer Grand!«

Ähnlich wie bei der vorletzten Runde verfügte Grand plötzlich über Informationen, von denen er nicht wusste, woher sie stammten – und die er nicht hätte haben dürfen.

»Ich bin Sendar Lorgens und Wissenschaftsoffizier mit dem Spezialgebiet Xenopsychologie auf der Zuraja , einem Explorationsschiff. Auf diesem Schiff!«

»Und ich bin Jalina Lorgens, deine Frau und außerdem Xenobiologin auf der Zuraja . Wenigstens habe ich meinen Vornamen behalten. Und wir sind verheiratet!« Jalina grinste ihn an.

»Seit fast vier kolltanischen Jahren«, fügte Grand hinzu, der auf sämtliche Erinnerungen von Sendar Lorgens verfügte, von seiner Kindheit bis zum Beginn der Mission auf der Zuraja . Dieser Mission!

»Wir sind unterwegs zu einer neu entdeckten Spezies!«, rief er aus.

»Nicht nur das, Sendar , mein geliebter Ehemann, wir befinden uns zudem fast dreißigtausend Jahre in der kolltanischen Vergangenheit. Wir Kolltaner haben erst kürzlich den interstellaren Raumflug entdeckt und machen die ersten Bekanntschaften mit anderen Zivilisationen. Wir sind unterwegs zu einem Erstkontakt

Jetzt verstand Grand auch, warum ihm die Einrichtung der Kabine veraltet vorkam – genau das war der Fall! Sie war sogar sehr veraltet. Im Moment räumt auf der Erde gerade der Homo sapiens die letzten Neandertaler aus dem Weg , dachte er.

»Wieviel weißt du über diese Epoche eurer Geschichte?«, fragte er.

»Nicht genug, um zu wissen, ob es diese Mission tatsächlich gegeben hat oder ob dies eine alternative Realität ist. Vielleicht kriege ich das noch raus. Meine neuen Erinnerungen decken sich zumindest mit dem, was mir von unserer Geschichte bekannt ist. Diese Mission könnte sich also tatsächlich in unserer Realität abgespielt haben.«

»Es könnte demnach die Gefahr eines Zeitparadoxons bestehen, wenn wir es vermasseln?«

»Ich habe keine Ahnung, Sendar, mein lieber Ehemann. Ich denke aber, wer immer uns in diese Runden schickt, wird dieses Risiko nicht eingehen wollen. Daher tippe ich darauf, dass auch hier nichts real ist.«

»Ich habe seit geraumer Zeit Zweifel, ob überhaupt etwas von dem, was wir bisher erlebt haben, real war.«

»Wie meinst du das?«, fragte Jalina verblüfft.

»Es war bisher nur ein Gefühl, aber jetzt bin ich fast sicher, dass all dies hier nicht wirklich existiert.« Grand zeigte auf ihre Kabine. »Mich bringt allein schon die seltsame Umgebung unserer bisherigen Wettkampfrunden ins Zweifeln. Vielleicht hat man tatsächlich existierende Szenarien aus anderen Universen als Grundlage genommen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere Erlebnisse mehr waren als extrem gut gemachte Simulationen. Und jetzt das hier! Weshalb bin ich plötzlich ein Kolltaner? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Man könnte mein Bewusstsein, wie schon in der zweiten Runde, vielleicht in einen anderen Körper in der alternativen Realität eines anderen Universums transferiert haben, aber dass dieser Körper auch noch meine Gesichtszüge trägt, ist mehr als unglaubwürdig. Das geht einen Schritt zu weit. Nein, ich bin davon überzeugt, dass der ganze Wettkampf nur aus einer Abfolge von Simulationen besteht.«

»Also können wir hier gar nicht sterben?«

»Vorsicht, Jalina, das habe ich nicht gesagt! Das Letzte, was mit Sicherheit wirklich geschehen ist, war unser Sprung hinunter in die Sphäre. Alles, was danach kam, ist ungewiss. Vielleicht treiben unsere Körper in der Sphäre und träumen, oder besser gesagt, jemand zwingt ihnen Träume auf. Es ist jedoch gut möglich, dass auch der Originalkörper stirbt, wenn der … hm … Scheinkörper in einer der Simulationen getötet wird. Wenn unser Bewusstsein hier erlischt, könnte es auch in der Realität erlöschen. Also ist weiterhin Vorsicht angebracht.«

Jalina überlegte einen Moment. »Also ändert sich dadurch nichts, denn wenn es stimmt, was du sagst, müssen wir jede Aufgabe so angehen, als ob alles Realität wäre.«

»Die alte philosophische Frage nach der Realität der Realität.« Grand lächelte resignierend. »Selbst wenn alles, was man erlebt, sich nur im eigenen Gehirn abspielt und in Wahrheit nichts außerhalb existiert, muss man sein Leben trotzdem so gut es geht leben. Schmerz bleibt Schmerz, Leid bleibt Leid und der Tod bleibt der Tod, denn die Empfindungen sind real, selbst wenn es die Umgebung nicht sein sollte.«

»Und Liebe bleibt Liebe!« Jalina lächelte ihren Lebensgefährten an. »Ich liebe dich, ob als real existierender Körper oder als simuliertes Bewusstsein!«

Grand lächelte zurück. Noch bevor Jalina in seine Arme sinken konnte, wurden sie unterbrochen.

»Alle Offiziere werden in Besprechungsraum eins befohlen! Alle Offiziere werden in Besprechungsraum eins befohlen!«

Die Ansage über BordInterkom war laut und dringlich genug, um jeden Gedanken an zärtliche Zweisamkeit zu verscheuchen.

Grand sah Jalina bedauernd an. »Damit sind wohl auch wir gemeint.«

Fünf Minuten später versammelten sie sich mit den anderen Offizieren der Zuraja um einen langen Tisch, an dessen Kopfende Kapitän Hudo Kubler Platz genommen hatte.

Kubler war massig – man hätte ihn auch groß und dick nennen können, wenn man unhöflich hätte sein wollen – und wirkte auf Grand nicht unsympathisch. Seine Glatze glänzte im hellen Licht der Bordbeleuchtung und seine Augen funkelten listig. Er war ganz anders als die kolltanischen Offiziere, die Grand während seiner Zeit in den terranischen Raumverbänden kennengelernt hatte.

»Wir werden das Zielsystem in wenigen Stunden erreichen«, eröffnete Kubler die Aussprache. »Für die Zyliden ist es der erste Kontakt mit uns – oder überhaupt mit einer anderen intelligenten Spezies. Die Crew der Tromolak hat lediglich Beobachtungen aus einem niedrigen Orbit und mit einem Erkundungsteam unter Einsatz von Deflektorfeldern vorgenommen. Die Zyliden sind technologisch viel zu rückständig, um davon etwas bemerkt zu haben. Aber das wissen Sie ja bereits!

Nun zum Grund für dieses Abschlusstreffen! Wir müssen äußerst behutsam vorgehen. Aus dem Bericht der Tromolak wissen wir, dass die Zyliden eine sehr seltsame Mischung aus Ehrenkodex und Religion kultiviert haben. Nicht jede ihrer Reaktionen wird für uns nachvollziehbar sein. Ich erwarte, dass es von unserer Seite keine spontanen, unüberlegten Reaktionen gibt! Manches wird uns nicht nur fremd, sondern nachgerade unlogisch, ja sogar böswillig vorkommen, auch wenn dies vielleicht gar nicht der Fall ist. Ein einziges falsches Wort oder eine falsche Handlung durch ein Mitglied unseres Kontaktteams könnte unsere Mission gefährden. Wie Sie wissen, verfügen die Zyliden über einen Rohstoff, der für uns von unschätzbarem Wert ist, wie das Erkundungsteam der Tromolak in Erfahrung gebracht hat. Eine Flüssigkeit, die unglaubliche zellregenerative Eigenschaften aufweist. Fast jede Krankheit kann damit geheilt werden. Die kleine Probe, die die Tromolak sicherstellen konnte, hat dies gezeigt. Leider hat sie auch gezeigt, dass es selbst für uns mit all unseren Fähigkeiten nicht möglich ist, sie zu synthetisieren. Wir benötigen das Original, und zwar ziemlich viel davon! Wir müssen die Zyliden dazu bringen, mit uns Handel zu treiben.

Im Gegensatz zum Team der Tromolak werden wir deshalb auf den Schutz durch Deflektortechnologie verzichten und uns den Zyliden zu erkennen geben. Wir müssen wissen, woher sie diese Substanz haben. Alles, was die Crew der Tromolak herausgefunden hat, war, dass sie es durch irgendein religiöses Ritual zu erhalten scheinen. Wir haben keine Ahnung, was genau dahintersteckt.

Da hier größtes Fingerspitzengefühl vonnöten ist, ernenne ich Sendar Lorgens zum Leiter des Kontaktteams. Als Xenopsychologe ist er hierfür besonders qualifiziert. Seine Gattin, Jalina Lorgens, wird dem Team als Xenobiologin angehören. Vielleicht gelingt es ihr, von den Zyliden zusätzliche biologische Informationen über die Flüssigkeit zu erhalten, die uns entgangen sind. Als Sicherheitschef des Kontaktteams wird Major Workan fungieren. Sein Stellvertreter ist Leutnant Opprex. Darüber hinaus wird das Team aus folgenden Personen bestehen …«

Kapitän Kubler verlas die Namen von vier anderen Besatzungsmitgliedern, die über unterschiedliche Qualifikationen verfügten.

Sie diskutierten noch ein paar Minuten über Kompetenzbereiche, die Notwendigkeit persönlicher Bewaffnung und andere Kleinigkeiten, dann löste der Kapitän die Versammlung auf.

Grand und Jalina zogen sich bis zur Ankunft in ihre Kabine zurück. Angeblich, um sich vorzubereiten, in Wahrheit jedoch, um in Ruhe über die Mission hinter der Mission nachdenken zu können. Über ihre Mission, diese Runde des Wettkampfs zu gewinnen. Sie waren gespannt, was diesmal ihre Aufgabe sein würde.