»Sterben zu dürfen
?« Jalina schüttelte ungläubig den Kopf. »Die Zyliden sind völlig irre!«
»Wieso hat das Erkundungsteam der Tromolak nichts davon berichtet?«, wollte Maxor Tetrat wissen, der Geologe im Team.
»Ich nehme an, ein Ehrenopfer ist nicht alltäglich. Die Tromolak war nur wenige Tage hier und die Besatzung hatte wohl keine Gelegenheit, ein solches Ritual zu beobachten.«
Die acht Mitglieder des Kontaktteams saßen in der einzigen Kabine des Beiboots und überlegten gemeinsam, wie sie dem Dilemma entrinnen sollten. Natürlich war es undenkbar, einen von ihnen den Flammen zu opfern, aber es war genauso undenkbar, die Mission gleich zu Beginn scheitern zu lassen. Wenn die Zyliden sie als Feinde betrachteten, war jede Chance auf eine Handelsbeziehung vertan – und damit auch auf die kostbare zellregenerative Flüssigkeit.
Grand und Jalina hatten an Bord des kleinen Schiffes kaum eine Möglichkeit, ungestört über ihre Mission zu reden. Es gab so gut wie keine Privatsphäre und jedes unbedachte Wort konnte zu unangenehmen Fragen führen. Und es gab genügend zu besprechen! Was war diesmal ihr Auftrag und vor allem: Wer waren ihre Konkurrenten? Waren sie ebenfalls Teil der kolltanischen Besatzung – vielleicht befanden sie sich sogar unter den vier anderen Mitgliedern ihres Teams – oder würden sie in den Körpern zweier Zyliden zu finden sein? Solange jedoch nicht einmal die erste Frage beantwortet werden konnte, blieb ihnen nichts weiter übrig, als ihre unfreiwilligen Rollen weiterzuspielen.
»Was also sollen wir machen?« Prek Latonar war das jüngste Mitglied des Teams. Er war Xenolinguist und sollte die Sprache der Zyliden erforschen. Außer ihm waren noch die Xenosoziologin Selgrin Minomar und Lari Allanon, eine ältere, schweigsame Chemikerin, an Bord – und natürlich Major Vulgor Workan sowie Leutnant Ekin Opprex, die beiden Sicherheitsleute des Teams. Latonar sah Grand – oder Sendar Lorgens – fragend an.
»Wir schnappen uns diesen Zachrak – oder besser noch den Chef des Stammes, halten ihm einen Strahler an den Kopf und verlangen Zugang zur Quelle dieser komischen Flüssigkeit. Warum sollen wir diese Wilden mit Samthandschuhen anfassen?« Major Workan antwortete, noch bevor Grand etwas sagen konnte.
»Weil wir keine Wilden sind, Major!« Jalina war sichtlich empört. »Ich bin sicher, uns wird eine weniger gewalttätige Lösung einfallen!«
Workan sah Jalina zwar missbilligend an, protestierte jedoch erstaunlicherweise nicht gegen die Zurechtweisung. Grand nahm sich vor, ein Auge auf den Major zu haben.
»Wir werden weder Gewalt anwenden noch einen von uns verbrennen lassen.« Er hob beschwichtigend die Hand. Er hatte eine vage Idee. »Selgrin, du kennst die Zyliden von uns allen am besten. Gibt es bei ihnen so etwas wie Rangordnungskämpfe oder Ähnliches? Wie wird ihr jeweiliger Status im Stamm bestimmt?«
»Nun, ich weiß nur, was das Team der Tromolak berichtet hat, und das war sicher unvollständig«, sagte die junge Wissenschaftlerin. »Sie konnten beobachten, dass es hin und wieder zu Zweikämpfen kam. Sie schienen geregelt zu sein und keine spontanen Gewaltakte. Meist ging es um gegenseitige Ehrverletzungen, die dann häufig in einer Art Duell beigelegt wurden. Ob dies auch bei der Festlegung eines Ranges der Fall ist, kann ich nicht sagen.«
»Danke, das hilft uns schon. Wir müssen diesen Zachrak also nur dazu bringen, dass er einen von uns beleidigt, und ihn dann zum Duell fordern. Wir könnten behaupten, solange die Ehrverletzung nicht vom Tisch ist, wäre ein Ehrenopfer für uns nicht akzeptabel. Wir lehnen es also nicht ab, sondern schinden nur Zeit.«
»Das könnte funktionieren«, stimmte Selgrin zu.
»Natürlich werde ich gegen diesen Wilden antreten«, sagte Major Workan.
»Natürlich werden Sie das nicht, Major«, widersprach Grand. »Ich bin in den Augen der Zyliden so etwas wie das Oberhaupt unserer kleinen Gruppe. Mich zu beleidigen hätte sicherlich den größten Effekt auf die Beziehung zwischen ihnen und uns.«
»Ich bin hier für die Sicherheit verantwortlich, Lorgens, und außerdem als Kämpfer ausgebildet«, beharrte der Major auf seiner Forderung.
»Und ich bin der Leiter dieses Teams, Major. Nicht nur in den Augen der Zyliden, sondern tatsächlich. Also bestimme ich, wer welche Rolle einnimmt.«
Workan sah Grand wütend an. »Sie sind Wissenschaftler und kein Kämpfer.«
»Lassen Sie sich überraschen, Major.« Grand grinste breit. »Ich bin nicht ganz so harmlos, wie ich aussehe!«
Jalina versetzte Grand unter dem Tisch einen Tritt. Wahrscheinlich fürchtete sie, er könne sich mit einer unbedachten Äußerung verraten, sich jedoch zumindest verdächtig machen. Es musste sowieso Fragen aufwerfen, wenn ein harmloser Wissenschaftler sich als gewiefter Kämpfer entpuppte, doch es war geradezu fahrlässig, bereits jetzt solche Fragen herauszufordern.
»Außerdem verlasse ich mich darauf, dass Sie notfalls eingreifen werden, Major. Sollte es brenzlig für mich werden, können Sie immer noch Ihre Laserwaffe ins Spiel bringen«, versuchte Grand, die Situation zu entschärfen. Anscheinend gelang ihm dies, da der Major einen befriedigten Eindruck machte. Vielleicht hoffte er sogar, Grand aus höchster Bedrängnis retten zu müssen und ihm ein 'Hab ich´s doch gleich gesagt' entgegenschleudern zu können.
Am nächsten Morgen geleitete eine Gruppe von Zyliden Grands Team in das nahe gelegene Dorf. Zachrak war mit seinen Leuten bei Sonnenaufgang am Beiboot erschienen. Alle waren für ihre Verhältnisse schwer bewaffnet. Jeder trug einen Speer und eine Steinschleuder, einige von ihnen hatten wertvolle Bronzemesser an ihre Gürtel geschnallt. Grand vermutete, dass es sich um so etwas wie die Elitetruppe dieses Stammes handelte.
Er stellte Jalina und die restlichen Mitglieder seines Teams vor. Die Zyliden waren Hermaphroditen und kannten keinen Unterschied zwischen Mann und Frau, obwohl einige der hier heimischen Tiere durchaus über unterschiedliche Geschlechter verfügten. Bei einem intelligenten Lebewesen war das Konzept für sie jedoch unvorstellbar. Grand verzichtete deshalb darauf, es zur Sprache zu bringen. Er befürchtete, damit gegen irgendein Gebot oder eine Regel ihres Erdgottes zu verstoßen.
Der nur zwanzig Minuten lange Fußmarsch führte mitten durch den Dschungel. Hier schien es noch heißer zu sein als auf der Lichtung. Grand konnte in der stickig-schwülen Luft kaum atmen.
Das Dorf selbst kannten sie bereits aus den Aufzeichnungen der Tomorak . Nur den bestialischen Gestank hatten die HoloVids nicht wiedergeben können. In der Hitze verfaulten und verwesten organische Abfälle mit unglaublicher Geschwindigkeit, und die Zyliden waren keine Anhänger einer geregelten Müllentsorgung. Alle Abfälle, wie etwa Essensreste, Tierkadaver und Ähnliches wurden einfach hinter den unregelmäßig geformten Lehmhäusern entsorgt, die Grand an terranische Termitenbauten erinnerten. Er wollte nicht wissen, wie man mit den Ausscheidungen der Bewohner verfuhr.
Sie wurden von neugierigen Dorfbewohnern empfangen, die beide Seiten des schlammigen Weges säumten und unverhohlen gafften. Grand war wieder verblüfft, mit welcher Selbstverständlichkeit die Zyliden die Existenz anderer intelligenter Wesen hinnahmen.
Als sie den Dorfplatz erreichten, hielt ihr Tross an. Mitten auf dem Platz war etwas errichtet worden, das frappierend einem Scheiterhaufen aus dem irdischen Mittelalter ähnelte. Nur war der aufrecht stehende Pfahl nicht von Reisig und Holzscheiten umgeben, sondern von handspannengroßen Würfeln aus einem bräunlichen Material, das Grand an Torf erinnerte. Als er näher herankam, ließ ihn der Geruch jedoch vermuten, dass er soeben das Geheimnis gelüftet hatte, wie und wo die Dorfbewohner ihre Exkremente entsorgten.
Vor dem Scheiterhaufen wartete ein uralter Zylide. Er war noch wesentlich älter als Grumbrack. Sein Chitinpanzer hatte nicht nur Kratzer und Dellen, sondern wies an einigen Stellen Löcher auf, durch die das rosafarbene Fleisch schimmerte. Eines der Facettenaugen schien blind zu sein und einer seiner Kopffühler war auf halber Länge abgebrochen.
»Ich bin Krackruch und führe mein Volk im Auftrag des Erdgottes. Ich begrüße euch in unserer Gemeinschaft. Lasst uns nun unsere Freundschaft im Namen des Erdgottes besiegeln. Habt ihr entschieden, wer von euch unser Geschenk in Empfang nehmen darf?«
Grand trat vor und zeigte auf Zachrak, der sich neben den Stammesältesten gestellt hatte.
»Dieses Mitglied deiner Gemeinschaft hat mich beleidigt! Ich kann nicht darüber hinwegsehen.«
»Wie kannst du es wagen, mich einer Beleidigung zu bezichtigen?« Zachrak zog sein Messer und hielt es drohend in Grands Richtung.
»Ich bin der Anführer dieser Gruppe. Wie konntest du es wagen, das Geschenk nicht mir persönlich anzutragen, sondern auch die Geringeren in meiner Mannschaft dafür in Betracht zu ziehen? Auch ich herrsche im Auftrag des Erdgottes und eine Geringschätzung meiner Person ist gleichbedeutend mit einer Geringschätzung des Erdgottes. Du hast mich und damit unseren Gott herabgesetzt. Du bist der Blasphemie schuldig und ich verlange Genugtuung!«
Zischen und Gemurmel der umstehenden Zyliden erfüllten den Platz. Krackruch sah Zachrak mit dem gesunden Auge von der Seite an. Eine solche Anschuldigung war, wie Selgrin bestätigt hatte, eine der schwersten Beleidigungen, die man einem Zyliden an den Kopf werfen konnte. Grand bemerkte, wie schwer es dem Anführer der Gottesgarde fiel, sich nicht sofort auf ihn zu stürzen.
»Ich fordere dich zum Duell, um meine Ehre wiederherzustellen!« Zachrak hatte sichtlich Mühe, sich zu beherrschen.
»Und ich nehme die Herausforderung aus dem gleichen Grund an«, erwiderte Grand. »Doch ich fordere einen zusätzlichen Preis für die Schmach, die ich erlitten habe.«
»Welchen Preis verlangst du?« Der Stammesälteste hielt Zackrak mit einem seiner Spinnenärmchen zurück. Dieser stand kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.
»In eurem Besitz befindet sich eine Flüssigkeit, die Wunder wirken kann. Wenn ich das Duell gewinne, erhalte ich Zugang zu seiner Quelle.«
»Das ist ein gewagtes Ansinnen«, sagte Krackruch. »Das Hoschtrum , wie wir dieses heilige Wasser nennen, kommt vom Erdgott selbst. Nur mit seiner Hilfe konnte ich mein Volk so lange führen. Meine Lebensspanne hat inzwischen fast das Doppelte von dem erreicht, was ich hätte erwarten dürfen. Es gibt nur eine einzige Stelle, wo es zu finden ist. Am Sitz des Erdgottes selbst, der sich in seiner Weisheit in unserer Nähe niedergelassen hat. Wieso sollten wir es euch Fremden zugänglich machen, wo doch der Erdgott uns mit seiner Nähe ausgezeichnet hat?«
»Sollte ich das Duell gewinnen, dann dank der Güte des Erdgottes. Wenn er nicht will, dass wir uns dem Quell des Hoschtrum nähern, wird er mich verlieren lassen. Die Entscheidung liegt allein bei ihm.«
»Wahr gesprochen«, sagte Krackruch. »So sei es! Unser Gott wird entscheiden, was euch zusteht.« Er wandte sich an den wütenden Zachrak. »Dir galt der Vorwurf der Blasphemie. Also steht dir die Wahl der Waffen zu. Welche Waffe wählst du?«
»Ich werde den unverschämten Fremden vernichten«, knirschte der Angesprochene. »Wir werden mit den heiligen Messern kämpfen. Bis zum unehrenhaften Tod! Und auch ich habe eine Bedingung: Nach meinem Sieg werden die anderen Frevler sofort in ihre fliegende Behausung steigen und nie mehr zurückkehren.«
»Ich bin einverstanden«, sagte Grand.
»Holt die heiligen Messer«, rief der Stammesälteste. »Das Duell soll sofort beginnen!«