19. Die schwarze Epoche


Die Schmerzen waren vollständig abgeklungen. Grand sah auf seinen linken Oberarm. Keine Wundnaht und auch keine Narbe. Er schüttelte den Kopf. Idiot , dachte er. Wieso sollte dort eine Narbe sein? Ich stecke natürlich wieder in einem anderen Körper . Logischerweise war seine Haut nicht mehr hellblau und ein schneller Griff an den Kopf gab Grand die Gewissheit, dass auch seine Haare wieder dort waren, wo sie hingehörten.

Die Umgebung war fremd und erlaubte keinen Aufschluss darüber, wo er sich befand. Er war allein in dem fast leeren Raum. Das beunruhigte ihn. Wo war Jalina?

Grand lag auf einer harten Liege. Er schwang die Beine herunter, setzte sich auf und sah sich um. Der Raum war winzig und Grand verspürte ein leichtes Vibrieren. Er stand auf und sah sich den Raum genauer an. Die Liege, ein Sideboard mit technischen Geräten und eine Tür. Kein Fenster. Drei Meter lang, zwei Meter breit – nicht größer als eine Gefängniszelle. War er ein Gefangener? Nein, eher nicht , dachte er. Warum sollte eine Gefängniszelle so seltsam ausgestattet sein ? Außerdem sah er nirgendwo eine Toilette.

An einem der Geräte klebte ein Sticker. Property of UNCOSPEX . Grand musste einen Moment nachdenken, bevor ihm die Bedeutung dieser Abkürzung wieder einfiel. United Corporations Space Exploration, dachte er. Mein Gott, ich bin irgendwann im 22. Jahrhundert gelandet. Auf der Erde!

Einer der Apparate, die Grand inzwischen als medizinische Geräte identifiziert hatte, besaß eine spiegelnde Oberfläche. Er bückte sich und betrachtete sein Spiegelbild. Wenigstens habe ich mein Gesicht wieder , stellte er zufrieden fest.

Ihm war klar, wo er sich befinden musste – an Bord eines urtümlichen Raumschiffes, irgendwo im Sol-System.

Gegen Ende des 21. Jahrhunderts hatten sich einige der größten Konzerne des Planeten zusammengeschlossen, um den Weltraum kommerziell zu erschließen und damit die Erde zu retten. Die Nationalstaaten, die es damals noch gegeben hatte, hatten schon lange nicht mehr über die Mittel verfügt, dies zu stemmen. Die Klimakatastrophe, die Religionskriege, die um sich greifenden territorialen Konflikte, Wasser- und Nahrungsmangel und nicht zuletzt die aus all dem resultierenden Flüchtlingsströme hatten die zu dieser Zeit sogenannte 'westliche Welt' an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Erdöl war immer knapper und teurer und somit unwirtschaftlicher in seiner Nutzung geworden, alternative Energiequellen waren nicht mit dem notwendigen Ernst gefördert worden, mehr und mehr Staaten waren in nationalistisches Gehabe verfallen. Allgemein war es zwischen den Ländern zu Misstrauen und mehr oder weniger offenen Auseinandersetzungen gekommen. Alte Allianzen waren zerfallen und neue hatte sich gebildet. Zweckbündnisse auf Zeit, bis andere Prioritäten und Notwendigkeiten diese wieder auseinanderbrechen ließen. Es war eine Zeit des Umbruchs gewesen, und mancher hatte befürchtet, die Zivilisation würde früher oder später komplett zusammenbrechen. Entweder mit einem Knall – einem globalen Krieg – oder ganz allmählich, durch den Niedergang staatlicher Institutionen, bis es letztlich zu deren vollständigem Versagen und damit zu anarchischen Verhältnissen kommen musste. Es war eine Epoche in der menschlichen Geschichte gewesen, in der alles infrage gestellt worden war, auch die Zukunft der Spezies Homo sapiens.

Erst im Jahr 2238, mit der Erfindung des FTL-Antriebs, hatte der Weltraum der Menschheit mit all seinen Ressourcen und Möglichkeiten offen gestanden. Erst dies hatte die Bewohner der Erde geeint, mit einer Geschwindigkeit, die noch wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre. Nicht zuletzt deshalb, weil die Möglichkeit, dort draußen eventuell auf andere Intelligenzwesen zu stoßen, die Menschen schlichtweg dazu zwang. Nichts eint mehr als ein potenzieller gemeinsamer Feind.

Doch die rund eineinhalb Jahrhunderte dazwischen wären ohne die Einmischung weltweit operierender Wirtschaftskonglomerate wahrscheinlich nicht zu überstehen gewesen. Die großen multinationalen Konzerne waren von Nationalstaaten schon lange nicht mehr zu kontrollieren gewesen, und schließlich hatten sie endgültig die Initiative ergriffen – und in einzelnen Ländern sogar mehr oder weniger die Macht an sich gerissen. Nicht aus Gutherzigkeit oder Menschenliebe, sondern aus Profitstreben und Überlebenswillen. Wenn die Zivilisation zusammenbräche, würden auch ihre Macht und ihr Einfluss enden. Sie hatten es als Investition in die Zukunft gesehen – wenn es überhaupt noch eine geben konnte. Und sie waren bereit gewesen, alles dafür zu tun, dass es eine Zukunft geben würde.

Sie entwickelten riesige Raumschiffe, Basen auf dem Mond, neue Technologien und endlich auch einen funktionsfähigen Fusionsreaktor, der zumindest die schlimmste Energienot lindern konnte, auch wenn diese Technologie für die meisten Länder unerschwinglich blieb. Aber man konnte die großen Raumschiffe damit antreiben und in vertretbarer Zeit den Asteroidengürtel erreichen. Dort gab es Rohstoffe für die nächsten Jahrtausende. Dort lagen das El Dorado des Sonnensystems und die Rettung der Menschheit.

All dies hatte die Erde natürlich nicht über Nacht zu einem Paradies gemacht – für 'Normalsterbliche' hatte sich sogar recht wenig verändert –, doch es hatte die schlimmsten wirtschaftlichen Nöte gelindert und das Überleben der Spezies Mensch zwar nicht sichergestellt, aber doch zumindest wieder denkbar gemacht.

Die Menschheit hatte nicht nur überlebt, sie hatte sich mithilfe der Möglichkeiten, die eine überlichtschnelle Reise zu anderen Sonnensystemen ihnen eröffnete, sogar erstaunlich schnell erholt. Nach und nach hatte man sich im All ausgebreitet und war tatsächlich auf andere Spezies gestoßen. Trotzdem war es denkbar knapp gewesen, und zu Grands Zeit bei den terranischen Raumverbänden, Mitte des 24. Jahrhunderts, hatte man diese eineinhalb Jahrhunderte nur die 'schwarze Epoche' genannt.

Und nun war er mittendrin!

Wo war Jalina? Grand wollte gerade die Tür öffnen, die wohl in andere Bereiche des Raumschiffes führen musste, als ihm jemand zuvorkam. Als er zum Türöffner griff, wurde sie aufgerissen und eine junge Frau stürmte herein. Jalina! Als Terranerin! Mit leicht gebräunter, irdischer Gesichtsfarbe und kurz geschorenen, blonden Haaren auf ihrem normalerweise kahlen, babyhautweichen, hellblauen Kopf. Sie sah hinreißend aus.

»Mike!« Sie schloss die Tür hinter sich und fiel Grand in die Arme. »Ich bin vor wenigen Minuten aufgewacht. Stell dir meine Überraschung vor, als ich erkannte, wo ich diesmal gelandet war.«

»Wie hast du mich gefunden?«

»Ich bin anscheinend hier so etwas wie die Bordärztin, und vor mir lag eine Akte über einen gewissen Allan Dean Grand – mit deinem Bild. Du bist vor einer Stunde plötzlich bewusstlos geworden und man hat dich auf die Krankenstation gebracht – also hierher. Da bei der Untersuchung nichts festzustellen war, dachte man, es sei nur eine Folge von Überarbeitung. Es bestand keine Lebensgefahr und so ließ man dich einfach schlafen.«

In dem Moment, als Jalina ihn in die Arme nahm, brach eine wahre Sturzflut von Erinnerungen und Wissen über Grand herein. Wie schon in den bisherigen Runden sorgten die unbekannten 'Spielleiter' dafür, dass er über das notwendige Rüstzeug verfügte, um diese Mission bewältigen zu können. Grand verzog das Gesicht. Es fühlte sich an, als würde sich eine völlig fremde Persönlichkeit in seinem Geist breitmachen.

»Ah, jetzt geschieht es bei dir!« Jalina hatte Grands Reaktion richtig gedeutet. »Ich hatte dieses Erweckungserlebnis bereits kurz nach dem Aufwachen. Als ich dein Foto in der Akte sah.«

»Wir werden gesteuert wie Marionetten«, sagte Grand resignierend.

»Nicht ganz, mein Liebling. Wir haben völlige Freiheit, innerhalb jeder Runde die Entscheidungen zu treffen, die wir für richtig halten.«

»Trotzdem fühle ich mich wie ein Bauer auf einem Schachbrett. Wir können uns nicht aussuchen, in welche Richtung wir uns bewegen, und wir sind von mächtigeren Figuren umgeben, für die wir jederzeit geopfert werden können.«

»Aber wie ein Bauer im Schachspiel können wir am anderen Ende des Brettes selbst zu einer mächtigen Figur werden«, sagte Jalina. »Und nur darum geht es! Wir müssen die andere Seite erreichen. Wir sind schon weit gekommen. Es sollten jetzt nur noch acht Kandidatenpaare im Spiel sein.«

Jalina hatte recht. Von den ursprünglichen einhundertachtundzwanzig Paaren waren im Lauf der vergangenen vier Ausscheidungsrunden einhundert eliminiert worden. Das Ziel lag in greifbarer Nähe. Doch zunächst war diese Mission zu erfüllen.

»Wir sind an Bord des SEV Elon Musk «, stellte Grand fest.

Das Space Exploration Vessel war unterwegs zu einem Asteroiden, bei dem eine unbemannte SDU , eine Search & Detect Unit , ein großes Vorkommen an dringend benötigten Erzen entdeckt hatte. Sie sollten diese Entdeckung bestätigen und als Vorauskommando alles vorbereiten, damit die in wenigen Monaten ankommenden AMUs , die vollautomatisch agierenden Automated Mining Units , mit ihrer Arbeit beginnen konnten.

»Beim letzten Mal sind wir in einer Epoche der kolltanischen Geschichte gelandet, diesmal ist es ein Abschnitt eurer Geschichte«, sagte Jalina.

»Du gefällst mir als Terranerin ziemlich gut.« Grand grinste Jalina an. »Die blonden Haarstoppeln machen dich ganz schön sexy.«

»Rassist!« Jalinas Lächeln bewies, dass sie den Vorwurf nicht ernst meinte. »Hellblau und kahl entspricht wohl nicht mehr deinem erlesenen irdischen Geschmack.«

»Mir ist völlig egal, ob du hellblau, weiß, schwarz oder lila bist. Ob mit schwarzen, blonden oder ohne Haare. Ich liebe dich in jedem Körper«, sagte Grand mit ernstem Gesicht. Dann grinste er erneut fast unverschämt. »Solange er wohlgeformt ist!«

Jalina boxte ihm lachend in die Rippen. »Überheblicher Macho!«

Die traute Zweisamkeit wurde abrupt gestört, als jemand die Tür aufriss und eintrat.

»Ah, Grand, Sie sind wieder wach!« Kommandant Gregor Mischkin betrat die kleine Krankenstation. »Was macht unser Patient, Dr. Peterson?«

»Nichts Auffälliges festzustellen«, antwortete Jalina, die hier Philippa Peterson hieß. »Es war wohl nur die Folge hochgradiger Erschöpfung, verbunden mit einem plötzlichen Blutdruckabfall.«

»Gut, Doktor!« Mischkin nickte befriedigt. »Wenn Sie wieder fit sind, Grand, dann erwarte ich Sie in zehn Minuten im CCC. Wir sind bald da!«

Der Kommandant drehte sich um und verließ die Krankenstation.

»Philippa?«, fragte Grand mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wer hat dir denn den komischen Namen gegeben?«