Mit vereinten Kräften war es ihnen gelungen, die Arbeit von drei Tagen in sechzehn Stunden zu erledigen. Die Elon Musk
war vollständig entladen worden und sämtliche Gerätschaften, die für die Einrichtung der beiden Landefelder der AMUs benötigt wurden, standen an der Oberfläche von MA-3775 bereit. Die zurückbleibende Groundcrew würde nicht etwa zwei Monate untätig auf die Ankunft ihrer Retter warten, sondern den Auftrag erledigen, wegen dem sie hier waren. Die AMUs mussten bei ihrer Ankunft zwei vorbereitete Landeplätze vorfinden. Taro Ito würde die vier Afrikaner dabei unterstützen, so gut er konnte. Die beiden Lander hatte man bis in den letzten Winkel mit Vorräten sowie zusätzlichen Sauerstoffflaschen und Airscrubbern vollgepackt. Es war eng, aber man konnte in ihnen überleben. Notdürftig. Wenn die AMUs pünktlich waren.
Nach einem letzten Funkspruch, in dem man sich gegenseitig alles Gute wünschte, drehte die Elon Musk ab, zündete ihr Triebwerk und beschleunigte mit Maximalschub. Schon bald würde die Entfernung zu MA-3775 so groß werden, dass die schwachen Sender der Lander das Schiff nicht mehr würden erreichen können, und das große Schiff hatte seine Funkanlage, die Abermillionen Kilometer überbrücken konnte, auf die Erde ausgerichtet. Für die fünf auf dem Asteroiden würde eine lange, stille Zeit anbrechen, da erst recht kein Kontakt zur Erde möglich war. Die nächste menschliche Stimme würde in zwei Monaten von der Besatzung der AMUs kommen.
Es gab jetzt viel Platz auf der Elon Musk . Grand und Jalina waren in eine gemeinsame Kabine gezogen, was von den anderen unkommentiert hingenommen wurde. Ihnen war klar, dass sie sich damit für ihre Gegner, die sich ebenfalls an Bord befinden mussten, endgültig enttarnt hatten. Grand und Jalina waren bei der Demaskierung ihrer Konkurrenten hingegen noch keinen Schritt weitergekommen.
»Es kann jeder von ihnen sein«, sagte Jalina. »Sie sind sehr gut darin, keine Verbindung zueinander erkennen zu lassen.«
»Im Gegensatz zu uns.«
»Wir hatten keine Wahl, Michael. Die beiden müssen unter den vier Offizieren sein und wären sowieso mitgeflogen. Wir konnten nicht riskieren, zurückgelassen zu werden.«
»Shirley könnte auch einer von ihnen sein.«
»Jeder könnte es sein. Wir haben fast zwei Monate Zeit, es herauszufinden. Früher oder später werden sie sich verraten.«
Doch sie verrieten sich nicht. Auch am Ende der vierwöchigen Bremsperiode hatten Grand und Jalina noch nichts herausgefunden.
Die mehr als zwei Monate waren ereignislos vergangen. Inzwischen mussten die beiden AMUs bei MA-3775 angekommen sein. Grand hoffte, dass ECS, die Earth Control Station , ihnen mitteilen würde, ob die fünf Zurückgelassenen die lange Wartezeit gut überstanden hatten. Mischkin hatte versprochen, beim nächsten Funkkontakt nachzufragen.
Am neunundsechzigsten Tag versammelten sie sich im CCC.
»Das ist er«, sagte der Kommandant.
Auf dem Bildschirm der Navigationskonsole war ein heller Fleck vor dem Schwarz des Alls auszumachen. Sie näherten sich dem Asteroiden schräg von hinten, sodass die ihnen zugewandte, von der Sonne beschienene Seite für sie sichtbar war. Ansonsten hätten sie den nach kosmischen Maßstäben winzigen Felsbrocken im unendlichen Weltraum niemals ausmachen können.
»So klein und so tödlich«, murmelte Phoebe vor sich hin.
»Morgen werden wir ihn erreichen.« Mischkin sah zu Grand. »Bist du bereit?«
Sie waren übereingekommen, sich alle zu duzen. Unter diesen Umständen erschienen ihnen Förmlichkeiten lächerlich und unangebracht.
Grand nickte. »Phoebe wird mich mit dem verbliebenen Lander absetzen, sobald wir das abschließende Bremsmanöver beendet haben.«
»Wie lange wirst du brauchen?«
»Ich setzte zwei Sprengladungen und die Detektoren ab und dann kehren wir unverzüglich an Bord zurück. Das sollte nicht mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen. Die Auswertung der Daten dürften mir bereits wenige Minuten nach den Explosionen vorliegen.«
»Gut! Dann wissen wir, wo wir ansetzen müssen.«
Sie hatten lange darüber diskutiert, wie sie die Bahn des Asteroiden am effektivsten würden verändern können. Schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, die Elon Musk mit der Nase an einer geeigneten Stelle vorsichtig auf den Asteroiden zu setzen und vollen Schub zu geben. Sie würden das Triebwerk so lange laufen lassen, bis die letzten Deuteriumvorräte verbraucht sein würden – und dabei hoffen, dass es ausreichen würde. Um zu wissen, wo sie anzusetzen hatten, benötigten sie Grands seismische Daten. Wenn der Asteroid bei dem Manöver in zwei oder drei Stücke zerbrechen sollte, hätten sie keine Möglichkeit, zu verhindern, dass anstatt einem Felsbrocken dann gleich mehrere auf der Erde einschlagen würden. Zwei oder drei kleinere Einschläge wären in der Summe fast genauso verheerend wie ein großer.
Allerdings war allen klar, dass sie dabei ein hohes Risiko eingingen. Das fragile Schiff war für solch ein Manöver nicht gebaut und würde beträchtliche Schäden davontragen. Doch ob sie nun allmählich verhungerten und verdursteten, an Sauerstoffmangel oder dem Ausfall der Energieversorgung und der tödlichen, eindringenden Kälte starben oder bei dem Versuch, den Asteroiden abzulenken, ihr Leben verlieren würden, war letztlich gleichgültig. Wichtig war nur, die Erde zu retten.
Für Grand und Jalina spielte natürlich eine andere Hoffnung eine ebenso wichtige Rolle.
»Ich denke, das silberne Objekt dieser Wettkampfrunde wird sich irgendwo auf dem Asteroiden befinden«, vermutete Jalina, nachdem sie in ihre Kabine zurückgekehrt waren.
»Auf MA-3775 war es jedenfalls nicht«, sagte Grand. »Und ich kann mir nicht vorstellen, dass das Auftauchen dieses Killerasteroiden ausgerechnet jetzt ein Zufall sein soll. Natürlich ist all dies Bestandteil unserer Prüfung.«
»Denkst du immer noch, dass all dies eine Simulation ist?«
»Ja, das denke ich, aber ich kann mir natürlich nicht hundertprozentig sicher sein. Vielleicht ist es auch tatsächlich eine alternative Realität in irgendeinem der unzähligen Universen. Deshalb müssen wir alles versuchen, um die Erde – diese Erde – zu retten! Wenn dies irgendwo Realität ist, könnten ansonsten Milliarden Menschen sterben!«
In Grands eigener Realität hatte es die Gefahr eines verheerenden Asteroideneinschlags während der 'schwarzen Epoche' nie gegeben. Zumindest berichteten die Geschichtsbücher nichts darüber. Natürlich war es denkbar, dass die herrschenden Konglomerate die Nachricht damals unterdrückt hatten, um eine Panik zu verhindern, aber Grand hielt dies nicht für sehr wahrscheinlich. Früher oder später hätte es sich herumgesprochen. Sicher war jedoch, dass auf seiner Erde kein Einschlag erfolgt war. Das Ereignis hatte in Grands Realität also nie stattgefunden. Die Schlussfolgerung hieraus war klar: Entweder war all dies eine täuschend echte Simulation, oder sie befanden sich in der Realität eines Paralleluniversums. Es gab keine Möglichkeit, dies festzustellen. Falls Letzteres zutraf, konnten sie jedoch nicht untätig bleiben. Hier würden tatsächlich Menschen sterben, falls sie versagten. Somit blieb Grand und Jalina keine Wahl.
Sechs Stunden später rief Mischkin sie erneut ins CCC.
»Seht euch das an!«, sagte er und deutete auf den Bildschirm.
Sie waren inzwischen nahe genug, um mit der hochauflösenden Kamera Details auf der Oberfläche des Asteroiden ausmachen zu können. Der Brocken war siebzehn Kilometer lang und etwa zwölf Kilometer dick, wobei er ziemlich genau in der Mitte eine Einschnürung aufwies, die ihm die Gestalt einer Erdnuss verlieh. Doch dies war nicht das Überraschendste. – Auf der hinteren Hälfte prangte unübersehbar eine silberfarbene Halbkugel von ungefähr einhundert Metern Durchmesser und fünfzig Metern Höhe.
»Was zum Teufel ist das?« Es war eine rhetorische Frage. Mischkin ging davon aus, dass keiner der Anwesenden eine Antwort haben würde. Er konnte nicht wissen, dass vier der sechs ihm eine Antwort hätten geben können. Es war das Zielobjekt dieser Ausscheidungsrunde im Ruf der Erleuchtung , von dem Mischkin natürlich noch nie etwas gehört hatte.
»Es muss sich um das Relikt einer außerirdischen Spezies handeln«, sagte Phoebe Enning.
»Ein außerirdisches Artefakt?« Shirley Hastings schüttelte ungläubig den Kopf. »Ausgerechnet hier finden wir den ersten Beweis für außerirdisches Leben. Auf einem Asteroiden, der alles Leben auf der Erde auszulöschen droht. Ist das nicht ironisch?«
»Wir sollten den Dom erforschen, bevor uns die Zeit ausgeht«, warf Lars Brucker ein.
»Ich unterstütze den Vorschlag«, sagte Phoebe. »Eine solche Chance wird sich so schnell nicht wieder bieten.«
»Dazu ist noch Gelegenheit, wenn wir den Asteroiden aus seiner Bahn geschoben haben«, sagte Mischkin. »Unsere erste Priorität muss die Rettung der Erde sein. Danach haben wir noch genügend Zeit, das Ding zu erforschen und unsere Erkenntnisse zur Erde zu funken.«
»Wenn wir dann noch leben«, wandte Phoebe ein. »Ihr wisst genau, dass die Elon Musk bei dem Manöver zerstört werden kann. Wir sollten zuerst mit dem letzten Lander runtergehen und den Dom erkunden. Dafür bleibt noch genügend Zeit. Ich melde mich freiwillig dafür.«
Grand sah Jalina an und sie erwiderte seinen Blick. Phoebes Drängen machte sie zur Verdächtigen Nummer eins.
»Phoebe hat recht«, unterstützte Brucker den Vorschlag. »Ich mache ebenfalls mit. Gregor, schick uns beide mit dem Lander runter. Wir brauchen höchstens eine oder zwei Stunden.«
Lars Brucker schien der zweite Kandidat zu sein.
»Es tut mir leid«, sagte Mischkin. »Ich kann das nicht erlauben. Ihr wisst genau, dass wir für das Manöver mindestens zu sechst sein müssen. Das haben wir oft genug besprochen. Ich kann nicht riskieren, dass euch oder dem Lander etwas zustößt. Die Rettung der Erde hat Vorrang vor allem anderen. Allan«, wandte er sich an Grand. »Sobald wir näher dran sind, wirst du mit Phoebe, wie abgemacht, die Sprengkörper und die Messgeräte aussetzen, danach …«
»Nein!« Phoebe Enning und Lars Brucker hielten plötzlich Waffen in den Händen. Es waren krude, aus allen möglichen Einzelteilen zusammengebaute Schusswaffen, die sie in den vergangenen Wochen heimlich gefertigt haben mussten. Doch Grand zweifelte nicht daran, dass sie funktionierten. »Lars und ich werden den Lander nehmen und zum Dom fliegen. Versucht nicht, uns daran zu hindern.«
»Was ist in euch gefahren?« Mischkin war völlig konsterniert. »Seid ihr vollkommen durchgedreht?«
»Du verstehst nicht, worum es hier geht, Gregor, also halt den Mund!«, sagte Phoebe. »Ich bin jedoch sicher, dass zwei von euch genau verstehen, was hier geschieht. Nicht wahr, Allan und Philippa?«
Mischkin blickte irritiert zu Grand und Jalina. »Was? Könnt ihr mir erklären …«
»Du sollst den Mund halten«, unterbrach Brucker den Kommandanten. »Ich sage euch jetzt, was geschehen wird. Da ich nicht annehme, dass ihr uns bei unserem kleinen Ausflug helfen und den Lander mit uns an Bord freiwillig ausschleusen werdet, werde ich zunächst alleine an Bord gehen und Phoebe wird ihn ausschleusen. Dann werde ich zum Triebwerk der Elon Musk fliegen. Sobald ich dort bin, wird Phoebe im Raumanzug aussteigen und ich werde sie einsammeln. Solltet ihr versuchen, sie aufzuhalten, werde ich das Triebwerk rammen und zerstören. Dann könnt ihr die Rettung der Erde vergessen. Habt ihr das verstanden?«
»Ihr seid wahnsinnig geworden«, sagte Haydon Brown, der Navigator.
»Durchaus nicht«, widersprach Phoebe lächelnd. »Grand und Peterson können euch alles erklären, sobald wir weg sind.«
Wieder sah Mischkin Grand und Jalina durchdringend an.
»Was wird hier gespielt?«, fragte er. »Steckt ihr mit den beiden unter einer Decke?«
»Nein, Gregor«, sagte Jalina und blickte Mischkin traurig an. »Aber wir wissen, was sie vorhaben.«
»Das Gleiche, was ihr gemacht hättet, wenn wir euch nicht zuvorgekommen wären.« Brucker fuchtelte mit der provisorischen Pistole. »Genug gequatscht! Ich gehe zum Lander. Trachtran, bist du bereit?«
»Trachtran?« Wieder war Mischkin völlig konsterniert.
»Verzeih, wir haben uns nicht vorgestellt. Es spielt aber auch keine Rolle, wer wir sind.« Die vermeintliche Phoebe Enning nickte dem vermeintlichen Lars Brucker zu. »Ja, ich habe hier alles im Griff!«.
»Das könnt ihr nicht machen.« Grand versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. »Es hängen Milliarden Leben von uns ab.«
»Dafür, dass ihr es so weit gebracht habt, seid ihr ziemlich unterbelichtet.« Brucker grinste Grand an. »Habt ihr immer noch nicht bemerkt, dass dies alles nur Simulationen sind? Nichts hier ist real.«
Mischkin blickte irritiert von einem zum anderen und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Jalina kam ihm zuvor.
»Natürlich haben wir diese Möglichkeit in Betracht gezogen. Und vielleicht ist es wirklich so – aber was, wenn nicht? Was, wenn dies eine alternative Realität ist, in der tatsächlich Milliarden Leben durch einen Killerasteroiden zerstört werden, wenn wir ihn nicht aufhalten? Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit noch so gering sein mag – könnt ihr dieses Risiko wirklich eingehen?«
»Das ist uns … wie würdet ihr Menschen sagen? Scheißegal!« Brucker grinste bösartig.
In diesem Moment handelten Mischkin und Haydon Brown fast simultan. Mischkin stürzte sich auf Brucker, dessen Aufmerksamkeit und Waffe auf Grand gerichtet waren, während Brown Phoebe attackierte, die Jalina in Schach hielt.
Mischkin stieß sich von seinem Sitz ab und segelte quer durch das CCC. Doch der Impuls war zu schwach. Alles lief wie in Zeitlupe ab. Erschreckend langsam schwebte er mit ausgestreckten Armen auf den Bordingenieur zu. Brucker sah ihn aus dem Augenwinkel kommen und musste nur den Arm um neunzig Grad drehen. Dann drückte er ab. Mischkin hatte in der Schwerelosigkeit keine Möglichkeit, der Kugel auszuweichen. Der Impulserhaltungssatz wurde ihm zum Verhängnis. Eine einmal eingeschlagene Richtung konnte nur geändert werden, wenn sich der Impuls änderte – und Mischkin hatte keine Möglichkeit, sich irgendwo festzuhalten, um den Impuls und damit die Richtung zu ändern. Die Kugel traf ihn mitten im Gesicht.
Brown erging es nicht anders. Auch sein Angriff war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ihn erwischte es, noch bevor er die Hälfte der Strecke zu Phoebe überwunden hatte. Die Kugel durchbohrte seinen Brustkorb und blieb in der Navigationskonsole stecken, wo sie einen Funkenregen auslöste. Mischkins Blut und Hirnmasse bildeten eine sich ausbreitende Aureole aus kugelrunden Tröpfchen und Gewebestückchen um den zerschmetterten Kopf des Kommandanten.
Brucker hob einen Fuß und stieß den leblosen Körper von sich weg. Er landete in einer Ecke des CCC, wo er einfach im Raum hängen blieb. Brown war durch den Treffer nach hinten gestoßen worden und prallte dort auf den toten Kommandanten. Die beiden Körper sahen aus wie Puppen, die man weggeworfen hatte.
Shirley schrie auf und schlug die Hände vor den Mund. Auch Grand und Jalina waren schockiert. Ohne Mischkin und Brown würde es unmöglich sein, das komplizierte Rettungsmanöver der Elon Musk durchzuführen. Das andere Kandidatenpaar hatte soeben Milliarden Menschen auf der Erde zum Tod verurteilt.