Rigoran schlug die Augen auf. Die bisherigen fünf Runden waren schwierig gewesen, und die letzte hatten sie nur denkbar knapp gewonnen. Ihre Gegner waren einfallsreich, hartnäckig und gefährlich gewesen, doch Silvar und er hatten sich durchsetzen können. Nun waren sie unter den letzten vier Paaren, die sich um den Zugang zur Sphäre der Erleuchtung
bewarben.
Wo sind wir diesmal gelandet , fragte er sich.
Inzwischen war Rigoran zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei ihren Missionen um Simulationen handeln musste. Zu viele Ungereimtheiten und unglaubliche Zufälle sprachen dagegen, dass es alternative Realitäten waren.
Er dachte kurz darüber nach, ob die Agenten des Coniunctional wohl ebenfalls noch im Rennen waren, doch dies spielte vorerst keine Rolle. Die Frage würde erst relevant werden, falls sie aufeinandertreffen sollten. Vielleicht hatten sie Glück und Grand und Jalina waren bereits von einem anderen Kandidatenpaar aus dem Rennen geworfen worden. Rigoran war nicht wirklich scharf darauf, sich den beiden stellen zu müssen. Er konnte sich keine gefährlicheren Gegner vorstellen.
Neben ihm rührte sich Silvar. Der Bragach setzte sich stöhnend auf.
»Ich bin ich selbst«, stellte er fest.
Auch Rigoran hatte diesmal den Eindruck, nicht in einem fremden Körper gelandet zu stecken. Weder existierte er als Hologramm noch sah er seinen Geist mit fremden Erinnerungen überflutet, wie es in den vorangegangenen Runden der Fall gewesen war. Er fühlte sich wie immer – wie der echte, ursprüngliche Rigoran. Mit der Einschränkung, dass nach wie vor die geistige Manipulation des Devorators sein Denken und Handeln beeinflusste. Er würde Grand und Jalina töten, seine ehemaligen Freunde aus der Liga der Unsterblichen , sobald sich die Gelegenheit dazu ergeben sollte. Gegen seinen Willen und doch bereitwillig. Rigoran hasste sich dafür, so viel freien Willen hatte der Devorator ihm gelassen, und doch konnte er dem Suggestivbefehl nichts entgegensetzen.
Silvar hingegen war vom Devorator vollkommen zu einem willigen Werkzeug geformt worden. Der letzte der Bragach besaß nicht mehr einen Funken seines früheren 'Ich'. Er war nichts weiter als eine tödliche Maschine, eine Waffe ohne eigenen Willen. Manchmal beneidete Rigoran seinen Begleiter darum. Er selbst wurde von dem inneren Zwiespalt beinahe zerrissen.
Er sah sich um. Sie befanden sich in einem nahezu leeren Raum, durch dessen Fenster das Licht einer hellgelben Sonne fiel. In den Fensterrahmen steckten Glasscherben und der Boden war von Trümmern übersät. Die Wände hatten Risse, von der Decke hingen Teile der Verkleidung herunter und über allem lag eine Schicht aus Staub und Asche.
Rigoran trat an eines der zerstörten Fenster. Vor ihm erstreckten sich bis zum Horizont die Ruinen einer gigantischen Stadt. Die Megametropole musste einst der Sitz einer hoch entwickelten Zivilisation gewesen sein. Einige der höchsten Gebäude, die sich weit in den wolkenlosen Himmel reckten, hatten die Katastrophe überstanden, wenn auch nur als Skelette aus Gerüsten und Querträgern. Was immer sich hier abgespielt haben mochte, kein einziges Gebäude der Stadt war unbeschädigt geblieben. Die Straßenzüge, von den breiten Prachtstraßen bis zu den kleinen Gassen, waren durch Trümmerstücke blockiert und nahezu unpassierbar. Die Fassaden der Ruinen waren geschwärzt, als hätte ein Feuersturm in der Stadt gewütet, und eine zentimeterdicke Schicht aus Staub, Asche und Schlacke überzog alles.
Rigoran befand sich in einem der höchsten noch stehenden Gebäude, vielleicht einhundert Stockwerke über dem Boden. So weit seine Augen reichten, und als Vogelabkömmling hatte er eine beneidenswerte Fernsicht, war keine Bewegung zwischen den zerstörten Gebäuden zu erkennen. Sie schienen allein zu sein, doch Rigoran war sicher, dass sich irgendwo in den Ruinen ein anderes Kandidatenpaar verbergen musste.
Silvar war neben ihn getreten.
»Vielleicht treffen wir hier endlich auf unsere Feinde«, sagte er.
Der Bragach war völlig darauf fixiert, Grand und Jalina zu töten. Es hatte Rigoran bei ihrem letzten Zusammentreffen mit den beiden alle Mühe gekostet, seinen Begleiter zurückzuhalten. Er hatte die beiden Unsterblichen nicht etwa schützen wollen, dies hätte seine mentale Programmierung nicht zugelassen, doch sie waren zu diesem Zeitpunkt für die Pläne des Devorators lebend nützlicher als tot. Sein Herr hatte ihm ein gewisses Maß an freiem Willen gelassen, um genau solche strategischen Entscheidungen treffen zu können. Eine seelenlose Tötungsmaschine wie Silvar konnte in komplexen Situationen nicht flexibel genug reagieren. Doch insgeheim, tief im Unterbewusstsein, wo er immer noch der alte Rigoran war, verspürte er Erleichterung und vielleicht sogar Freude darüber, dass die beiden noch am Leben waren. Wenn sie es zu diesem Zeitpunkt noch waren, was ungewiss war.
»Ich sehe nichts Silberfarbenes.« Silvar klang ungeduldig.
»Immer mit der Ruhe, mein Freund«, sagte Rigoran. »Unsere hiesige Aufgabe wird sich schon noch offenbaren. Zunächst sollten wir uns von hier aus einen Überblick verschaffen. Einen besseren Standort können wir dafür nicht finden.«
Sie trugen die gleiche Bekleidung, die sie auch zu Beginn ihres surrealen Wettkampfs getragen hatten. Rigoran hatte das Gefühl, dass diese Runde anders sein würde als die vorherigen. Sie befanden sich in ihren eigenen Körpern mit der gewohnten Bekleidung in einer real wirkenden, wenn auch bizarren Umgebung. All dies machte auf ihn nicht den Eindruck einer Simulation. Instinktiv war er sich sicher, dass sie für diese Runde in ihren Originalkörpern auf einen echten Planeten transferiert worden waren.
»Wir sollten sehen, ob wir irgendwo Waffen finden«, schlug Silvar vor.
Ein vernünftiger Gedanke , dachte Rigoran. Irgendwo in einem anderen Gebäude lauern unsere Gegner auf uns. Wir sollten vorbereitet sein.
Er warf noch einen langen Blick aus dem Fenster und versuchte, sich einige markante Punkte in der zerstörten Stadt einzuprägen. Es würde nicht einfach werden, sich zwischen den Ruinen und Trümmern zu orientieren.
»Lass uns einen Weg nach unten finden«, sagte er schließlich und drehte sich zu Silvar um.
In einer Ecke des Raumes blitzte ein helles Licht auf. Rigoran sprang einen Schritt zur Seite und suchte Deckung hinter einem bis zur Unkenntlichkeit zerschmolzenen Plastikteil, das möglicherweise ein Tresen gewesen sein mochte. Silvar warf sich hinter ein aus der Wand gebrochenes Trümmerteil, das seinen massigen Körper jedoch nur unvollständig verdeckte.
Wie können sie uns so schnell gefunden haben , fragte sich Rigoran, der an einen Angriff durch ein anderes Kandidatenpaar glaubte. Und was ist das für eine seltsame Waffe?
Aber es war kein Angriff, wie er sogleich feststellte. Das gleißende Licht formte sich zu einem kleinen Punkt. Rigoran musste die Augen abwenden, um nicht geblendet zu werden. Das Licht verblasste und der Punkt dehnte sich aus, bis er die Form einer etwa kopfgroßen, silberfarbenen Kugel angenommen hatte.
Ein verkleinertes Abbild der Sphäre der Erleuchtung , dachte Rigoran überrascht. Dann erfüllte eine Stimme seine Gedanken.