Grand und Jalina waren in eine Ruine zurückgehastet, wo ihnen auf dem Weg hierher eine Seilrolle aufgefallen war. Zunächst hatten sie keine Verwendung dafür gesehen und sich nicht damit belasten wollen, doch nun würde dieses Seil ihr Problem lösen können, zur Kuppel vorzudringen, ohne den Platz überqueren zu müssen.
Sie sammelten das lange Seil auf und eilten durch die Ruinen, die den freien Platz umgaben, bis sie der Kuppel sehr nahe gekommen waren. Über vollkommen zerstörte Treppen stiegen sie mühsam in die vierte Etage hinauf.
»Gib mir die Axt«, sagte Grand zu Jalina, als er die Kuppel schräg unter sich liegen sah.
Er knotete die Axt an das eine Ende des Seils. Als er nach unten blickte, konnte er sehen, wie zwei Echsenwesen auf die Stelle vor dem Kuppeleingang losstürmten, wo sich die beiden Kugelwesen zwischen den Trümmern versteckt hatten.
»Es geht los!«, sagte er zu Jalina. »Das zweite Paar hat sich gezeigt.«
»Wollen wir nicht warten, bis sie sich gegenseitig ausschalten?«, fragte Jalina.
»Dann laufen wir Gefahr, zu spät zu kommen. Wenn es einem von ihnen gelingt, in die Kuppel einzudringen, haben wir das Nachsehen.«
Grand hoffte, dass keiner der Kämpfer ausgerechnet jetzt nach oben blicken würde. Er stellte sich auf den Sims der leeren Fensterhöhle, nahm das Seilende mit der Axt in die rechte Hand und wirbelte es immer schneller neben seinem Körper im Kreis. Dann ließ er los und hoffte, genau genug gezielt zu haben.
Die schwere Axt flog durch die Luft, zog das Seil hinter sich her, das Grand locker durch die Hand gleiten ließ, und landete auf dem Kuppeldach. Er hatte richtig geschätzt. Das Seil war gerade lang genug gewesen.
Vorsichtig zog er am freien Ende. Die Axt rutschte langsam über die leichte Schräge – bis sie an eines der vielen Löcher geriet und hineinfiel. Nun würde sich zeigen, ob sein Plan aufgehen würde. Er gab etwas Seil nach, ruckte ein paarmal daran und zog erst sacht, dann immer fester an. Er stieß auf Widerstand. Die Axt hatte sich mit ihrem Blatt irgendwo verhakt.
Grand spannte das Seil und befestigte es an einem vorstehenden Metallstab, der neben dem Fenster aus der Wand ragte. Etwa zwei Meter Seil blieben übrig.
Grand zog eines der beiden Messer und schnitt zwei Stücke von jeweils fast einem Meter Länge ab. Eines davon gab er Jalina.
»Leg es in einer Schlaufe über das Seil und halte dich gut mit beiden Händen daran fest.«
Grand machte den Anfang. Er stellte sich wieder auf den Fenstersims, prüfte noch einmal die Spannung des Seils, legte sein Stück darüber und ergriff es, so fest er nur konnte. Dann stieß er sich ab.
Das Seil führte schräg nach unten auf das Dach der Kuppel, und wie er gehofft hatte, glitt er immer schneller daran entlang. Jalina wartete, bis er etwa die Mitte erreicht hatte, dann folgte sie ihm.
Unter sich sah Grand gerade noch, wie Rigoran und Silvar aus einer Ruine stürmten und auf die Kämpfenden zurannten, bevor er über dem Dach angelangt war.
Grand kam hart auf, ließ sofort los und rollte sich ab. Die Kuppel war glücklicherweise nicht so steil, dass er abrutschte.
Dann riss das Seil. Entweder war es zu altersschwach oder sie hatten seine Tragfähigkeit überschätzt und es hatte der zusätzlichen Belastung durch Jalinas Gewicht nicht lange genug standgehalten. Kurz bevor sie die Kuppel erreichte, riss es direkt hinter ihr auseinander. Geistesgegenwärtig griff Jalina mit einer Hand nach dem Seil und konnte so verhindern, dass sie senkrecht nach unten stürzte. Doch ganz war ein Absturz nicht zu vermeiden. Jalina hing hilflos an dem gerissenen Seil und schlug wie ein Pendel knapp unterhalb der Dachrundung hart gegen die Wand der Kuppel. Beim Aufprall entglitt das Seil ihrer Hand und sie stürzte etwa vier Meter nach unten. Sie prallte unweit der Kämpfenden auf dem Boden auf.
Grand hatte all dies mitangesehen und schaltete blitzschnell. Er rutschte bis zum Dachrand, ergriff den herunterhängenden Teil des Seils und kletterte, so schnell er konnte, daran herunter. Es reichte nicht bis zum Boden und er musste die letzten zwei Meter springen.
Er kam direkt neben Jalina auf die Beine, die aus einer klaffenden Wunde an der Stirn blutete und gerade versuchte, sich stöhnend aufzurichten.
»Bist du in Ordnung?«, fragte er.
»Ich habe mir einen Knöchel verstaucht, wohl ein paar Rippen angeknackst und den Kopf ziemlich heftig angeschlagen, aber ich werde es überleben«, krächzte sie und stützte sich vornübergebeugt auf eines der Trümmerteile, um Atem zu schöpfen.
Grand wandte sich gerade rechtzeitig den Kämpfenden zu, um zu sehen, wie sich Rigoran und Silvar auf eines der Kugelwesen und einen der Reptiloiden stürzten.
Grand überlegte einen Moment, ob sie in den Kampf eingreifen sollten, doch dies war nicht nötig. Die Echse und die Kugel waren für die beiden erprobten Kämpfer keine Gegner. Während Rigoran mit einem eleganten Salto einem Flüssigkeitsstrahl auswich, den das Kugelwesen ihm entgegengeschleudert hatte, sprang auch Silvar aus vollem Lauf ab, flog fast durch die Luft und durchbohrte seinen Gegner mit dem Speer, den er in der Hand hielt. Augenblicklich zerfloss die Echse zu einer gallertartigen Masse.
Rigoran landete neben der Kugel, die sich ihm nicht schnell genug zuwenden konnte. Das kleine Wesen war bereits schwer verwundet und sicherlich nicht mehr vollends bei Kräften. Es hatte keine Chance gegen den ehemaligen Unsterblichen, der schon unzählige Kämpfe bestritten hatte.
Rigoran trat mit voller Wucht gegen den kleinen Körper, der sich mehrfach überschlug und gegen einen Trümmerblock krachte. Der Gerbaraner setzte sofort nach. Er hob einen großen Brocken auf, aus dem etliche armlange Metallstifte ragten, wahrscheinlich ein Teil einer ehemaligen Verstrebung. Wieder und wieder schlug er mit der primitiven Waffe auf sein wehrloses Opfer ein. Wieder und wieder bohrten sich die Metallstifte tief in den Körper des bedauernswerten Kugelwesens. Die Wunden, die es bereits davongetragen hatte, waren sein bevorzugtes Ziel. Dann sackte die Kugel in sich zusammen wie ein undichter Ballon. Schwer atmend richtete sich Rigoran auf. Sein Blick bohrte sich in Grands.
Gerade als Grand etwas sagen wollte, drehte sich Silvar ebenfalls um. Er sah die beiden verhassten Feinde nur wenige Meter vor sich stehen, und noch bevor irgendjemand etwas unternehmen konnte, hob er erneut den primitiven Speer, bog den Arm zurück und schleuderte die Waffe mit aller Kraft in ihre Richtung.
Für Grand schien alles in Zeitlupe abzulaufen. Er sah den Speer durch die Luft segeln, sah die verrostete Spitze, die aus einem zufällig gefundenen Metallstück bestand, dann sah er, wie Jalina sich mit dem Rücken zu ihnen langsam aufrichtete und wie der Speer seine große Liebe mitten zwischen den Schulterblättern traf.
Der Speer durchbohrte ihren Oberkörper und die Spitze trat vorn wieder aus. Jalina blieb halb umgedreht stehen und starrte Grand fassungslos an. Ihr Blick ging nach unten, zu dem aus ihrer Brust ragenden Metallteil. Sie blickte auf und sah Grand in die Augen. In ihrem Blick lagen Verwirrung, Verzweiflung und Angst. Sie wollte noch etwas sagen, doch nur ihre Lippen bewegten sich, während Blut aus ihrem Mund sickerte. Dann sackte sie auf die Knie. Noch einmal suchte sie den Blickkontakt mit Grand, dann schloss sie die Augen und fiel tot zur Seite.