37. Die Kuppel


Grand hörte sich selbst aufschreien. Er stürzte auf Jalina zu, nahm ihren leblosen Körper in den Arm und spürte sofort, dass es keine Rettung mehr geben konnte. Auch wenn er sich inzwischen sicher war, dass sie sich in einer Simulation befanden, so wusste er doch, dass der Tod hier mit dem Tod in der Realität einherging.

»Nein, nein, nein«, stammelte er.

In Bruchteilen von Sekunden durchzuckten ihn widersprüchliche Gefühle. Liebe. Verzweiflung. Und abgrundtiefer Hass.

Plötzlich überkam ihn eine unnatürliche Ruhe. Es war, als hätte jemand anders seinen Körper übernommen und würde ihn fernsteuern. Er war nicht mehr als ein unbeteiligter Zuschauer. Seine Gedanken wurden nur noch von einem unstillbaren Verlangen nach Rache erfüllt.

Die Welt schien stillzustehen. Er stand langsam auf und drehte sich zu Silvar um, der ihn höhnisch angrinste.

»Als Nächster bist du dran«, sagte er und fuhr seine Krallen aus.

Grand fixierte den Mörder seiner großen Liebe. Den eingeschnürten Leib des Insektoiden, die kräftigen Beine, die beiden mit jeweils drei langen Krallen bewehrten Hände und den länglichen Kopf, in dessen Maul zwei Reihen spitzer Zähne funkelten.

Grand wusste, dass er keine Chance gegen diese Killermaschine haben würde, doch das schreckte ihn nicht ab. Die Gewissheit, in Kürze zu sterben, schreckte ihn nicht ab. Jetzt nicht mehr.

Mit einem unmenschlichen Schrei stürzte er sich auf den völlig überraschten Silvar. Der Bragach war sich sicher gewesen, dass das zarte Menschlein es niemals wagen würde, ihn mit bloßen Händen anzugreifen. Das Überraschungsmoment verschaffte Grand einen winzigen Vorteil, den er auszunutzen gedachte.

Der Ansturm brachte Silvar zu Fall. Grand landete auf ihm und spürte, wie sich die Krallen des Mörders in seinen Rücken bohrten. Seltsamerweise verspürte er keinen Schmerz. Wieder und wieder schlug er mit bloßen Fäusten in die hässliche Fratze. Nichts existierte mehr für ihn, nur der Wunsch, seinen Feind auszulöschen, zu zermalmen, in den Boden zu treiben, ihn zu Klump zu schlagen. Grands Knöchel platzten auf und Blut lief ihm über die Hände. Er spürte nichts davon. Dann drückte er einen Daumen in eines von Silvars Augen.

Der Schmerz schien den Bragach aus seinem Schockzustand zu reißen. Er brüllte wie ein verwundetes Tier und bäumte sich wütend auf. Grand wurde zurückgeworfen, abgeschüttelt wie ein lästiges Insekt. Den Körperkräften seines Gegners hatte er nichts entgegenzusetzen. Grands anfänglicher Vorteil löste sich in Nichts auf. Silvar sprang auf und packte ihn.

Er hob Grand hoch wie eine Puppe und stemmte ihn über seinen Kopf. Dann schleuderte er ihn zu Boden. Grand erwartete, sich sämtliche Knochen bei dem Aufprall zu brechen. Doch noch immer spürte er keinen Schmerz. Aus Silvars zerquetschtem Auge lief Blut und tropfte auf Grand herab, der jetzt hilflos vor ihm am Boden lag.

»Jetzt bringe ich dich zu deinem Liebchen«, knurrte der Bragach und warf sich auf ihn.

Anstatt ihn mit seinen Krallenhänden einfach zu zerreißen, wollte er den Tod seines Feindes so lange wie möglich hinauszögern. Er wollte ihn leiden lassen. Er sollte begreifen, was mit ihm geschah. Silvar legte beide Hände um Grands Hals und drückte zu.

Grand spürte, wie jegliche Energie aus ihm entwich. Er bekam keine Luft mehr und konnte das auf ihm lastende Gewicht von Jalinas Mörder – von seinem Mörder – nicht abschütteln. Er verbrauchte die letzten Reserven und bäumte sich noch einmal auf. Schlug seinem Peiniger mit letzter Kraft seitlich in die Rippen. Versuchte verzweifelt, aus dem Todesgriff zu entkommen. Doch es war vergebens.

Sein Blickfeld verengte sich. Sein Gehirn schrie nach Sauerstoff, den es nicht mehr bekam.

Er glaubte, Jalinas Stimme zu hören, die nach ihm rief.

Unvermittelt ließ der Druck um seinen Hals nach. Warmes, dunkles Blut lief über sein Gesicht, vor dem die Fratze Silvars sich plötzlich verzog. Aus dem Maul des Monsters kam ein unartikulierter Laut. Erst jetzt sah Grand die Messerspitze, die vorn aus Silvars Kehle ragte. Dann verschwand sie, kam wieder, verschwand erneut und war wieder da. Mehr und mehr warmes Blut floss nun aus Silvars durchbohrter Kehle in einem stetigen Strom über Grand Gesicht, in seinen vor Pein und Atemnot weit aufgerissenen Mund.

Dann sackte Silvar über ihm zusammen. Grand konnte wieder atmen und sog so viel Luft in seine Lungen, wie er nur konnte.

Er hörte einen Schrei. Rigoran stand über Silvar gebeugt, ein blutiges Messer in der Hand. Jalinas Messer. Rigoran musste es an sich genommen haben. Der Gerbaraner hatte ihm das Leben gerettet. Warum? Grand verstand nicht, was sich gerade abgespielt hatte.

Rigoran ließ das Messer fallen, griff sich mit beiden Händen an den Kopf und schrie erneut auf. Und schrie. Und schrie.

Er sank auf die Knie und seine Schreie gingen in ein Wimmern über. Er fiel vornüber, umschlang sich mit den Armen und wiegte sich hin und her, als könnte er sich selbst Trost spenden. Die Laute, die von ihm ausgingen, jagten Grand einen Schauer über den Rücken.

Grand stieß den toten Silvar von sich und stand auf. Er spuckte das Blut des Bragach, das in seinen Mund eingedrungen war, angewidert aus. Der ekelhafte Geschmack blieb.

»Rigoran, warum?«, wollte er fragen, doch aus seiner geschundenen Kehle kam nur ein Krächzen.

Der ehemalige Unsterbliche, der ehemalige Freund, der Agent des Devorators musste für einen Moment seine Konditionierung abgeschüttelt, überwunden haben. Gerade lange genug, um den Rest des alten Rigoran zum Vorschein kommen zu lassen. Jenen Rest, den der Devorator ihm gelassen haben musste. Den Rest, der Grand das Leben gerettet hatte. Jetzt bekam Rigoran die Folgen zu spüren. Die geistige Essenz des Devorators, die seinen Geist beherrschte, wollte wieder die Oberhand gewinnen. In Rigorans Kopf spielte sich ein unbarmherziger Kampf ab, der dem, den Grand gerade ausgefochten hatte, in nichts nachstand.

Dann erstarb das Wimmern und Rigoran verlor das Bewusstsein.

Grand blickte sich um. Außer ihm war niemand mehr am Leben. Nur Rigoran, und Grand war sich nicht sicher, ob der Gerbaraner das mentale Ringen überleben würde.

Jalinas Leiche lag immer noch dort, wo sie zusammengebrochen war.

Grand ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Endlich kamen die Tränen. Er hielt ihren Körper fest umklammert und weinte.

Schließlich stand er auf. Er legte Jalina sanft auf den Boden, nachdem er, so vorsichtig, als könnte sie es spüren, den Speer entfernt hatte. Er faltete ihre Hände über der Brust und küsste sie noch einmal auf die Stirn. Dann stand er auf und blickte zur Kuppel. Erneut erfüllte Hass all sein Denken. Hass auf diejenigen, die für all dies verantwortlich waren.

»Seid ihr nun zufrieden?«, schrie er. »Sind euch nun genug Opfer gebracht worden? Habt ihr euch genug amüsiert?«

Es blieb still. Niemand antwortete ihm.

»Was seid ihr? Götter? Nein, ihr seid Monster, die sich am Leid anderer Kreaturen ergötzen! Macht dem endlich ein Ende. Bringt mich auch um. Bringt einfach alle um, die euer mörderisches Spiel spielen. Das ist es doch, worum es euch geht. Leid, Tod und Vernichtung. Zu eurem Vergnügen. Hier bin ich, macht endlich Schluss!«

Von Rigoran kam ein Stöhnen. Er schien am Leben zu sein, war jedoch nicht bei Bewusstsein.

#Es tut uns leid. Wir wollen euch nicht töten. Das erledigt ihr ganz alleine. Wir beobachten und richten nur.#

Die Stimme kam von überall und nirgends. Grand drehte sich im Kreis, doch es war niemand zu sehen.

#Es hat kein Kandidatenpaar überlebt, wie es leider meistens der Fall ist. Niemand bedauert das mehr als wir. Der Ruf der Erleuchtung, wie ihr ihn nennt, war nie für Sterbliche gedacht. Doch diejenigen, die zu uns vordringen sollten, sind nie gekommen.#

»Wer seid ihr, verdammt noch mal? Was wollt ihr? Auf wen wartet ihr? Warum lasst ihr all das zu?«

#Wir haben keine Wahl. Der Zugang zu uns steht jedem offen, der die Hürden meistert. Doch bisher ist dies niemandem gelungen. Wir hoffen seit undenkbaren Zeiten darauf. Doch diejenigen, die die letzte Hürde bisher überwinden konnten, konnten bei uns nicht existieren.#

»Ich verstehe nicht, was du mir sagst. Ich verstehe nicht, was ihr wollt, auf wen ihr wartet. Ich verstehe nur, dass ihr Leid und Tod verursacht.«

#Komm zu uns, und du wirst verstehen. Du bist der Sieger und hast das Anrecht, vor uns zu treten. Doch sei gewarnt – noch niemand, der so ist wie du, hat dies je überlebt oder ist gar auf seine Ebene zurückgekehrt.#

Grand hatte nichts mehr zu verlieren. Es war ihm egal, was nun geschehen würde. Was mit ihm geschehen würde. Doch er wollte vor die Verantwortlichen treten und ihnen seine Anklage ins Gesicht schleudern.

Neben ihm stöhnte Rigoran erneut auf. Er zuckte wie unter heftigen Krämpfen.

»Was ist mit ihm?«, fragte Grand.

#Er hat verloren.#

»Er hat mir das Leben gerettet«, sagte Grand. »Ich kann ihn nicht einfach hier liegen lassen.«

#Er hat verloren# , wiederholte die Stimme.

»Nein!«, sagte Grand. »Ich bestehe darauf, ihn mitzunehmen. Wohin auch immer ihr mich bringt. Jalina, mein Paladin, ist eurem mörderischen Spiel zum Opfer gefallen. Ich hätte das Recht als Sieger, meinen Paladin mitzunehmen, wohin ich auch gehe, nicht wahr?«

#Das ist korrekt.#

»Dann erkläre ich Rigoran zu meinem neuen Paladin und verlange das gleiche Recht für ihn!«

Es blieb für einen Moment still.

#Wir akzeptieren# , sagte die Stimme schließlich. #Ihr könnt eintreten.#

Grand hob Rigoran auf. Der Gerbaraner wog nicht viel, trotzdem erschien er ihm schwer wie Blei. Grand warf einen letzten Blick auf Jalinas toten Körper. Er empfand es als seine Pflicht, herauszufinden, wofür sie gestorben war. Es war das Letzte, was er in seinem Leben noch zu tun hatte.

Mit Rigoran auf den Armen ging er zum Eingang der Kuppel. Er konnte nicht sehen, was dahinter lag. Im Innern war es vollkommen dunkel.

Diesmal versperrte kein Abwehrfeld den Zutritt.

Grand trat ein.