Jalina ruhte an Grands Schulter und weinte. Auch Grand konnte die Tränen kaum zurückhalten.
Er hatte nicht lange warten müssen. Nach seiner Schätzung war weniger als eine Stunde vergangen, seit er der Abmachung zugestimmt hatte, als die Tür aufgegangen und Jalina auf ihn zugestürmt war. Sie waren sich in die Arme gesunken und wollten einander nicht mehr loslassen.
Nur kurze Zeit später war Rigoran in der Tür erschienen. Jalina hatte sich sofort auf ihn stürzen wollen.
»Er ist der Grund, warum ich hier bin«, hatte Grand zu ihr gesagt und sie zurückgehalten. »Rigoran hat mir das Leben gerettet. Er ist wieder der Alte.«
Jalina hatte ihn ungläubig angeblickt.
»Woran erinnerst du dich?«, hatte Grand gefragt.
»An einen schrecklichen Schmerz im Oberkörper. Im ersten Moment dachte ich, es sei eine Folge des Sturzes. Doch dann konnte ich nicht mehr atmen und es wurde dunkel um mich. Ich spürte, dass ich starb. Als nächstes erinnere ich mich daran, wie ich in einem kleinen Raum erwachte und eine Stimme zu mir sagte, man habe mich wiederbelebt und du würdest auf mich warten. Wo sind wir hier und wer hat mich ins Leben zurückgerufen? Und wieso hat Rigoran dich gerettet?«
In wenigen Sätzen hatte ihr Grand von der Endphase des Kampfes vor der Kuppel berichtet, von Rigorans Rettungstat und Silvars Tod, und er hatte Jalina alles erzählt, was er von der 'Stimme' erfahren hatte. Sie nahm es erstaunlich gefasst auf.
Rigoran stand verloren und schweigend im Hintergrund und wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. Er wusste um die Schuld, die er auf sich geladen hatte.
»Eine geistige Existenzebene über dem Multiversum«, sagte Jalina, nachdem Grand geendet hatte. »Nein, eher außerhalb oder neben dem Multiversum«, korrigierte sie sich. »Wir hatten ja etwas Ähnliches bereits vermutet.«
»Es ist trotzdem verblüffend«, sagte Grand. »Wir haben der Exodus-Sphäre den passenden Namen gegeben, denn sie führt tatsächlich hierher, ins Megaversum. Und das Coniunctional hatte recht mit der Vermutung, sie könne für aufgestiegene Intelligenzen das Tor zu einer höheren Ebene sein, für ihren Exodus. Doch diejenigen, die hier zu Hause sind, sind blind und taub für das, was sich im Multiversum abspielt. Und völlig ahnungslos, was sie in der Zukunft erwartet.«
»Sie wissen nichts von den Auseinandersetzungen, den Kriegen, die sich dort abspielen? Nichts von dem Kampf zwischen dem Coniunctional und dem Devorator?« Jalina konnte kaum glauben, dass solch mächtige Wesenheiten derart ahnungslos sein konnten.
»Wie ich es verstanden habe, war das Multiversum zu ihrer Zeit noch ein friedlicher Ort. Es gab damals sehr viel weniger Intelligenzwesen in den verschiedenen Universen. Sie lebten in Eintracht miteinander und entwickelten sich friedlich und in Harmonie. Die Kreatoren – bleiben wir einfach bei diesem Namen – können nicht begreifen, dass sich in der Zwischenzeit all dies geändert hat. Sie glauben nach wie vor, die kosmische Ordnung verlange nach einer friedlichen und geregelten Evolution. Nach Koexistenz. Dass jetzt Kampf und Wettstreit über das Überleben einer Spezies entscheiden, ist ihnen völlig unverständlich.«
»Vielleicht liegt es daran, dass es nun sehr viel mehr intelligentes Leben gibt und der Platz für alle sehr viel enger geworden ist«, sagte Jalina.
»Ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht ist dies der Grund. Tatsache bleibt jedoch, dass sich heutzutage derjenige durchsetzt, der die breitesten Ellbogen hat.«
»Und sie befürchten, das Coniunctional und der Devorator hätten breitere Ellbogen als sie.« Jalina nickte verstehend.
»Die Kreatoren sind ihnen nicht gewachsen. Sie haben nie kämpfen müssen. Sie sind naive Träumer. Existenzkampf ist ihnen vollkommen fremd. Sollte einer der beiden Entitäten der Zugang zum Megaversum gelingen, was früher oder später der Fall sein wird, hätten sie ihr nichts entgegenzusetzen. Sie würden hinweggefegt.«
»Und wir sollen sie retten!« Jalina lachte. »Ausgerechnet wir. Mit einer Zeitreise. Das ist verrückt!«
»Es ist der Handel, den ich mit ihnen geschlossen habe«, sagte Grand ernst. »Es war der Preis für dein Leben.«
Jalina schüttelte entsetzt den Kopf. »Das hättest du nicht tun dürfen, Michael. Die gesamte Geschichte des Multiversums zu verändern, nur um mich zu retten. So viel ist mein Leben nicht wert!«
»Für mich bist du mehr wert als alle Universen zusammen, Liebling. Aber abgesehen davon: Wäre es so schlecht, dabei mitzuwirken, das Multiversum zu verändern, sodass es nicht länger zwei mächtigen Entitäten als Spielball dient und vielleicht sogar dabei vernichtet wird?«
Rigoran räusperte sich. Grand nickte ihm aufmunternd zu.
»Ich kann verstehen, wenn Jalina Schwierigkeiten hat, mir wieder zu vertrauen. Ich werde mir dieses Vertrauen erst wieder verdienen müssen. Aber eines könnt ihr mir glauben: Ich hasse nichts mehr als den Gedanken, ein Sklave des Devorators gewesen zu sein. Ich werden den Schaden, den ich angerichtet habe, nie wiedergutmachen können. Doch wenn sich jetzt die Chance bietet, ihn aufzuhalten, dann wäre ich gerne dabei.«
»Natürlich wirst du dabei sein«, sagte Grand. »Das bin ich dir schuldig.«
»Auf Bewährung!«, fügte Jalina mit finsterem Blick hinzu.
»Mehr kann ich nicht erwarten. Ich danke euch«, sagte Rigoran demütig.
Mitten im Raum materialisierte der Mann, dem Grand den Namen 'Stimme' gegeben hatte. Ein besserer war ihm immer noch nicht eingefallen.
»Es ist für euch an der Zeit, zurückzukehren. Dies sind nicht eure wirklichen Körper.« Er deutete auf die drei ehemaligen Unsterblichen. »Ihr befindet euch immer noch in einer instabilen Zwischenzone und somit in einer Simulation. Doch eure realen Körper warten auf euch. Wir konnten sie aus den Null-Strukturen wiederherstellen. Ihr seid nicht mehr unsterblich, doch der genetische Code eurer Körper wurde von uns optimiert. Ihr werdet altern und irgendwann sterben, doch ihr werdet lange Zeit leben. Viel länger, als euch dies normalerweise vergönnt wäre. Vielleicht Jahrhunderte eurer Zeit. Nutzt diese Jahre gut!«
»Was wird nun geschehen?«, fragte Jalina.
»Euer mentales Substrat wird in die Originalkörper zurücktransferiert. Diese werden in einer Energieblase aus der Exodus-Sphäre ausgestoßen. Die Wesen, die ihr die Wächter nennt, werden euch sicher aufsammeln. Eure Rückkehr muss eine Sensation darstellen. Ab diesem Moment seid ihr auf euch gestellt. Ihr müsst euch ein Raumschiff besorgen und erneut in die Sphäre eindringen. Wir sorgen dann dafür, dass ihr an den richtigen Ort und in die richtige Zeit versetzt werdet. Wenn ihr in der Vergangenheit angekommen seid, müsst ihr alles versuchen, die Entstehung des Coniunctionals und des Devorators zu verhindern. Wir setzen all unsere Hoffnung auf euch!«
»Die Wächter werden tatsächlich große Augen machen, wenn wir wieder auftauchen«, sagte Grand und musste bei dem Gedanken schmunzeln.
»Vielleicht haben wir bereits ein Raumschiff. Hakera wartet bestimmt schon auf uns.« Jalina grinste Rigoran an, der sie verwirrt anschaute.
»Aber … euer Schiff wurde doch vernichtet, zusammen mit der Bord-KI!«
Grand konnte zum ersten Mal seit langer Zeit befreit lachen. »Hakera hatte bei unserer Abreise bereits einen Teil deines Schiffes unter Kontrolle. Sie ist nie zerstört worden. Wir haben sie an Bord der Sonnenwind geschmuggelt.«
Auch Rigoran musste lachen. »Natürlich, sie war in dem Beiboot. Wir haben euch immer unterschätzt, nicht wahr?«
»Ihr seid nicht die Ersten, denen das passiert ist.« Jalina grinste Rigoran an, was ein gutes Zeichen war, wie Grand fand. »Und ihr werdet nicht die Letzten gewesen sein.«
Kurz darauf waren sie zurück in ihren Originalkörpern. Der Transfer war nahezu unmerklich vonstattengegangen. Nur ein kurzes Schwindelgefühl und die plötzlich veränderte Umgebung hatten sie bemerken lassen, dass es geschehen sein musste. Ihre Körper fühlten sich ausgeruht und frisch an. Grand konnte sich nicht erinnern, sich jemals so gut gefühlt zu haben.
Die Energieblase hatte einen Durchmesser von nur zwei Metern und war eng. Grand fiel auf, dass Jalina instinktiv immer noch versuchte, Abstand zu Rigoran zu halten. Falls dieser es ebenfalls bemerkte, ließ er sich nichts davon anmerken.
Es wird Zeit brauchen , dachte Grand.
Vom eigentlichen Vorgang des Ausschleusens bemerkten sie nicht viel. Durch die semi-transparente Blase sahen sie nur ein silbriges Licht, das plötzlich von der Schwärze des Weltalls abgelöst wurde. Über ihnen schwebte ein großes Objekt, das von der silberfarbenen Grenzschicht rings um die Exodus-Sphäre angestrahlt wurde. Die Wächterbasis. Sie waren zurück.