Judah
Die Klänge trafen mich als Erstes. Dann der Geruch. Die Musik, das Lachen, das sanfte Geräusch von Leinen auf den Bodenbrettern, das Taktzählen und die Rufe des Choreografen. Dicht gefolgt von einer Duftmischung aus Tigerbalsam, Wärmegel, Parfüm und Schweiß. Der leicht muffige Geruch von Kostümen und der ganz spezielle des Dampfbüglers, als ich an einem Umkleideraum vorbeikam. Und jede Menge Haarspray. All das brachte eine Woge von Nostalgie mit sich, bei der mir die Knie weich wurden, und ich musste mich kurz an einem Türrahmen festhalten.
Es hatte nichts mit meiner Vertigo zu tun, und alles mit meinem Verlust.
„Wirf einen Blick hinein.“ Colin öffnete mir die Tür zum Studio, ohne auch nur etwas von der Kälte zu ahnen, die mein Herz ergriff, oder von dem flauen Gefühl, das mir den Magen umdrehte.
„Danke.“ Ich schlüpfte durch die Tür, stellte mich an eine Wand und wurde sofort fast zehn Jahre in der Zeit zurückkatapultiert, zu jenem Tag, als ich das zum ersten Mal getan hatte – als sechzehnjähriger, hoffnungsvoller Balletteleve, ganz frisch in Wellington angekommen, mit Träumen im Gepäck, die selbst für diese Stadt zu groß waren. Ich war so verdammt überglücklich gewesen, aus Painted Bay herausgekommen zu sein, dass ich die ersten Monate lang mit offenem Mund und großen Augen durch die Hallen der Schule gelaufen war.
Aber jetzt, als ich einer Klasse von Teenagern bei ihren Übungen zusah, spürte ich ein seltsames und plötzlich aufkommendes Sehnen zurück zu meiner Heimatstadt, oder genauer gesagt, zu einem gewissen Mann, der dort lebte.
In einer Art unausgesprochener Übereinkunft hatten Morgan und ich unsere Liebesbekenntnisse im Bett zurückgelassen, als wir am Dienstagmorgen aufgestanden waren, und seitdem nichts mehr davon erwähnt. Es war alles zu neu, zu unsicher, zu riskant, um darüber zu sprechen. Morgan hatte recht. Ich musste dieses Angebot ernsthaft in Erwägung ziehen. Ich durfte es nicht einfach ablehnen, weil wir einander zu lieben glaubten. Falls ich mich entschied, nur wegen ihm zu bleiben, könnte ich das nicht nur bereuen, vielleicht würde ich es ihm über kurz oder lang auch vorwerfen.
Es war wie die Wahl zwischen Pest oder Cholera, und als ich Morgan an diesem Morgen am Flughafen im Auto zurückgelassen hatte, war es sehr still zwischen uns gewesen. Er hatte mir Glück gewünscht – natürlich – aber sein Lächeln hatte seine Augen nie erreicht.
Ein hübscher, milchgesichtiger Junge am Rand des Ballettstudios fiel mir ins Auge. Hoch aufgeschossen und schlank dehnte er sich an der Stange und erwiderte meinen Blick, als versuchte er sich zu erinnern, wo er mich hinstecken sollte. Dann riss er plötzlich die Augen auf, und sein Blick wanderte zu einer Wand, die mit Fotos von Tänzern und Tänzerinnen bedeckt war, die nach ihrem Abschluss in Wellington eine erfolgreiche Karriere gemacht hatten. Meins war eins davon. Der Junge ergriff den Arm des Tänzers neben ihm und zeigte in meine Richtung.
Der Choreograf – ein Mann namens Damien, der auch mich seinerzeit unterrichtet hatte – bemerkte die Aufregung des Jungen und drehte den Kopf, um zu sehen, wer seinen Unterricht störte, zweifellos bereit, eine seiner scharfen Tiraden loszulassen, für die er bekannt war. Aber als er mich entdeckte, lächelte er stattdessen strahlend und winkte mich herüber. Er kam mir bis zur Mitte des Raums entgegen und schloss mich sofort in seine kräftigen Arme. Er hatte ein bisschen Gewicht zugelegt, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, besaß aber immer noch diese überlebensgroße Präsenz, die ich stets bewundert hatte.
„Ich freue mich so, dich zu sehen, Junge.“ Er trat zurück, um mich gründlich zu mustern. „Nicht übel.“ Mit dem Handrücken tätschelte er meine Bauchmuskeln. „Immer noch fit, wie ich sehe. Gut. Das wirst du brauchen.“ Dann erstarb sein Lächeln. „Ich war am Boden zerstört, als ich hörte, dass du deine Laufbahn beenden musstest. Unfassbar. Es tut mir so leid. Die ganze Welt lag dir zu Füßen. Du warst einer der besten, die wir je hatten.“
Musste, war, lag . Vergangenheitsform. Daran würde ich mich wohl oder übel gewöhnen müssen.
Daheim in Painted Bay hatte nur eine Handvoll Leute meine Karriere verfolgt, oder auch nur einen Scheiß auf Ballett gegeben, Punkt. Auf gewisse Weise hatte mich das vor dem Mitleid derer bewahrt, die in meiner professionellen Welt lebten. Heute war mir dieser Schutz genommen worden, und nie hatte ich meinen Verlust so schmerzlich gespürt wie hier, an diesem Ort und unter all den aufgeregten, jungen Gesichtern.
In dieser Welt kannten sie mich, wussten von meinem Leben, der Tragödie, kannten den Preis. Hier würde es kein Entrinnen geben vor dem, was ich verloren hatte. Verdammt, hier stand ich mit dem Rücken zur Wand. Es würde nicht leicht werden, sich daran zu gewöhnen, all das jeden Tag vor Augen geführt zu bekommen. Aber wenn das bedeutete, in dieser besonderen Welt weiterhin einen Platz zu haben und Teil eines Teams zu sein, das Ballett genauso leidenschaftlich liebte wie ich, und dabei helfen zu dürfen, die neuen Stars zu trainieren, dann würden meine Fähigkeiten noch zu etwas nutze sein. Ich hatte immer noch etwas anzubieten.
Die jungen Tänzer scharten sich um Damien, der mich vorstellte und über das sprach, was ich erreicht hatte, darin eingeschlossen meine ultrakurze Karriere als Primoballerino in Boston. Es folgten die angemessenen Ahs und Ohs und zahlreiche Fragen, und es war wie ein Rausch, diese Anerkennung zu bekommen. Ich entspannte mich unter dem Ansturm, lächelte und antwortete aufrichtig auf all die eifrigen Fragen.
Damien überließ mich eine Weile der Gruppe, während er zu Colin ging und mit ihm redete. Die beiden beobachteten mich aus der Entfernung – zweifellos sprachen sie über mich und die Rolle, die ich vielleicht innerhalb der Company ausfüllen würde.
Schließlich wurde ich von den Schülern nach dem Grund gefragt, warum ich Boston verlassen hatte, und ich antwortete wahrheitsgemäß. Schlagartig änderte sich die Atmosphäre. Es wurde stiller, und es gab verunsicherte Blicke und mitfühlendes Murmeln – dieselbe Art Spannung, die ich unter meinen Tanzkollegen in Boston gespürt hatte, bevor ich fortgegangen war. Niemand, der eine erfolgreiche Laufbahn in einem körperlichen Beruf wie Sport oder Tanz anstrebte, wollte vor Augen geführt bekommen, wie vollkommen zufällig, plötzlich und gründlich dieser spezielle Traum zerstört werden konnte.
Das verstand ich. Wirklich. Sie waren jung. Sie wollten alles über Ballett hören, die Bühnen, das Talent, die Reisen und so weiter. Aber sie wollten nichts davon hören, wie ich letztendlich darin versagt hatte, ihren Traum zu leben. Und mir wurde klar, dass ich, falls ich den Job annehmen wollte, diesen Teil meiner Laufbahn sorgfältig editieren musste, um nicht das Selbstvertrauen dieser jungen Tänzer zu erschüttern. Sie wollten lernen, und sie wollten Rat, aber sie wollten und brauchten nichts über meinen persönlichen Absturz zu wissen. Dennoch, es erschien mir ein geringer Preis, um in der Welt bleiben zu können, die zu meinem Zuhause geworden war.
Ich tanzte ein wenig mit ihnen, während Damien und Collin zuschauten – keine Sprünge, keine großartigen Drehungen. Ich riskierte nichts, genoss aber das Gemeinschaftsgefühl und die Freude, Teil von etwas Besonderem zu sein. Ich zeigte den Jungen sogar ein paar Tricks, die ich gelernt hatte, um ihnen dabei zu helfen, ihre Sprunghöhe zu verbessern – danach huschten sie alle umgehend in eine Ecke, um wie verrückt zu üben. Hannahs Gesicht kam mir in den Sinn, und ich dachte unwillkürlich, wie sehr es ihr gefallen würde, hier einmal beim Unterricht zuschauen zu dürfen. Vielleicht konnte Terry sie irgendwann mal zu einem Besuch herbringen.
Das Treffen mit dem Verwaltungschef und dem künstlerischen Leiter der Company verlief rasch und positiv. Es ging dabei mehr um die Frage, ob und wie sehr mein Menière meine Arbeit hier möglicherweise beeinträchtigen würde, als um meine Qualifikation als solche, an der sie keinerlei Zweifel zu haben schienen. Anders als ich hatten sie offenbar vollstes Vertrauen in mein Potenzial als Lehrer. Sie wollten nur sichergehen können, dass meine Krankheit kein Problem darstellen würde.
Wollten wir das nicht alle?
Am Ende des Gesprächs schienen sie zufrieden damit zu sein, dass sich eventuelle Schwierigkeiten auf eine gelegentlich ausfallende Unterrichtsstunde und deren Nachholung beschränken würden, und versicherten mir, damit arbeiten zu können. Dennoch wollten sie mir für den Anfang einen auf zunächst sechs Monate befristeten Vertrag geben, nur für den Fall.
Die kurze Vertragsdauer warf ein leichtes Problem auf. Um eine so große Veränderung in meinen Lebensumständen vorzunehmen, hätte ich eine langfristigere Zusage bevorzugt, aber ich verstand ihre Gründe. Ihr Zutrauen in meine Fähigkeiten als Tänzer, auch wenn diese in der Vergangenheit lagen, und in das, was ich anzubieten haben würde, wogen den Rest mehr als auf. Es fühlte sich gut an, wieder wertgeschätzt zu werden.
Ich bestieg das Flugzeug zurück nach Whangarei mit einem Hochgefühl, das anhielt, bis ich Morgan sah, der gekommen war, um mich abzuholen. Sein Blick suchte die Menschenmenge ab, die in einem wirren Durcheinander aus der Gepäckausgabe strömte, und für eine Sekunde war ich komplett überwältigt davon, wie freudig erregt er aussah. Wegen mir! Es war lächerlich, aber mein Herz schlug dennoch schneller. Dann wurde mir meine eigene aufgeregte Freude bewusst, und ich musste lächeln. Wir waren zwei solche Deppen.
Zur Hölle mit Anstand und Sitte! Ich rannte los, sprang in seine Arme und schlang die Beine um seine Taille. Scheiß drauf, was die Leute dachten. Er ächzte überrascht und packte meinen Hintern, bevor ich herunterrutschen konnte. Seine Lippen fanden die meinen und vereinten sich zu einem langen, tiefen Kuss, der alles andere bedeutungslos machte, darin eingeschlossen unser Publikum.
„Du hast mir gefehlt“, sagte er und ließ mich behutsam auf den Boden gleiten. Dabei hielt er meine Hände und ignorierte all die Blicke, die wir ernteten.
„Natürlich habe ich das.“ Ich klopfte seinen Uniformkragen wieder in Form. „Immerhin waren wir ganze acht Stunden getrennt.“ Ich küsste ihn erneut – einfach, weil ich es konnte, und weil er in seiner steifen und ordentlichen Fischereischutz-Kluft so lecker aussah. Und weil er nach Meer roch, und nach Morgan. „Du hast mir auch gefehlt. Und ich habe“ – ich machte meine Tasche auf und holte eine Pappschachtel heraus – „Donuts gekauft. Ta-dah!“ Ich wackelte mit den Augenbrauen, weil ich wusste, wie sehr er die süßen Boten zukünftiger Herzinfarkte liebte.
Seine Lippen verzogen sich zu einem sexy Grinsen. „Und das ist, warum ich dich liebe.“ Er schnappte sich meinen Rucksack und manövrierte mich zum Haupteingang hinaus, bevor ich ganz registrierte, was er gerade gesagt hatte.
Scheiße, gottverdammte. Mist . Die Frist zum Aufschub weiterer Liebesgeständnisse war offensichtlich abgelaufen.
Ich hielt ihn fest, sodass wir stehen blieben. „Immer schön langsam, Mister.“
„Was?“ Er drehte sich um und schaute aufrichtig verwirrt drein. Dann lächelte er schüchtern, und das reichte, um mir die Knie weich zu machen. „Oh, du hast das mitbekommen, hm?“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und setzte einen finsteren Blick auf. „Ja, habe ich. Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, nichts dergleichen zu tun, da ich vielleicht nicht bleiben werde und all das.“
Er zuckte die Achseln. „Na ja, genau genommen, haben wir überhaupt nicht weiter darüber gesprochen. Insofern können wir uns gar nicht auf irgendwas geeinigt haben. Und dann kam ich während der unerträglichen acht Stunden deiner Abwesenheit zu dem Schluss, dass wir vielleicht lieber so viel von ,dergleichen ‘ tun sollten, wie wir können, und zwar genau weil du vielleicht nicht bleiben wirst … und all das.“
Ich nahm die Herausforderung an – nichts anderes war es – und wagte den Schritt, mich dieser Sache zwischen uns zu stellen. Denn mein Herz breitete bei seinen Worten unwillkürlich die Flügel aus.
„Hmm. Wie gewieft von dir.“ Ich sah ihm fest in die Augen. „Aber sagen wir, nur theoretisch , ich würde mich mit dieser Änderung unserer Vereinbarung einverstanden erklären. Ich müsste mir das Recht vorbehalten, die Bedingungen zu ändern, falls es zu schwierig wird.“
Er musterte mich einen Moment lang, dann nickte er. „Einverstanden. Und jetzt beeil dich. Ich will alles über deine Reise hören … nachdem ich einen Donut hatte.“
Er zog an meiner Hand, aber ich rührte mich nicht vom Fleck.
„Was jetzt?“ Seufzend drehte er sich erneut um.
Ich trat ganz nah an ihn heran und schlang die Arme um seine Taille, sodass wir Nase an Nase standen, dann küsste ich ihn. „Ich liebe dich auch.“ Dann zog ich meinen Rucksack von seiner Schulter, lachte und rannte zum Hilux. „Der mit Krokant gehört mir“, rief ich über die Schulter zurück, denn ich wusste, die mochte er am liebsten.
Er setzte zur Verfolgung an. „Du verdammter, kleiner …“ Er holte mich nicht ein, bevor ich am Wagen war, wo er mich gegen die Fahrertür drückte, genauso atemlos wie ich.
„Wie sehr willst du den Donut?“, schnaufte ich und zog meine Unterlippe zwischen die Zähne, weil ich wusste, dass ihn das verrückt machte.
„Würde einiges dafür einstecken“, murmelte er, und sein selbstzufriedenes Grinsen konnte nicht die Röte verbergen, die auf seinen Wangen erblühte. „Und nicht in der Art, wie du jetzt denkst.“
Ich beugte mich nach vorn, um seine Lippen lecken zu können. „Oh, ich glaube, du meinst ganz genau das, was ich denke. Kennst du einen Ort in der Nähe, wohin wir gehen können?“
Er überlegte einen Moment. „Ja, kenne ich.“
„Gut.“ Ich küsste seine Wange, dann sein Ohr. „Wer als Letzter kommt, gewinnt.“
Seine Pupillen weiteten sich. „Bin dabei.“
* * *
Morgan
Hannah stand auf Judahs Füßen, während sie gemeinsam um die Bühne herumwirbelten und Terry und ich ihnen von der hinteren Wand des Gemeindezentrums zusahen. Da es nur noch drei Tage bis zur Talentshow waren, hatten sie ihre Proben aus dem Nebenraum auf die eigentliche Bühne verlegt, und so weit ich es beurteilen konnte, waren sie mehr als bereit für ihren großen Auftritt.
Und damit meinte ich nicht nur Hannah. Judahs Laune, die im Laufe der Woche immer verkniffener geworden war, zeigte mehr als deutlich, wie wichtig ihm selbst das Ganze war. Noch nie war er in seiner Heimatstadt aufgetreten, nicht einmal damals in der Schule. Ja, er war in der Theatergruppe gewesen, aber er hatte nie getanzt. Das war für ihn ein absolutes No-Go gewesen. Es hatte ihn einen Scheiß gekümmert, was die Leute über sein Schauspieltalent gesagt hatten, aber hätten die Rüpel an der Schule ihn wegen seines Tanzens schikaniert … er war nicht sicher, ob er das überlebt hätte. Ich war so wahnsinnig stolz auf ihn.
„Wer ist das andere Mädchen?“ Ich nickte zu dem Mädchen hinüber, das von der Seite der Bühne aus zuschaute. Sie war etwa in Hannahs Alter.
„Natalie“, antwortete Terry. „Sie haben sich in dem Schwimmkurs kennengelernt, den Hannahs Physiotherapie für Kinder anbietet, die ein wenig Extra-Unterstützung brauchen. Natalie hat Mukoviszidose, und in letzter Zeit hat sie ziemliche Probleme. Sie hat jede Menge Unterricht versäumt, weil es ihr so schlecht ging. Ihre Mutter hat Judah gefragt, ob er ihr vielleicht später in diesem Jahr ein wenig Unterricht geben könnte, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Wie es klingt, verpasst sie keine Ballettsendung im Fernsehen.“
Ich seufzte. „Und wie ist es gelaufen? Du hast ja gesehen, wie zögerlich er sogar bei Hannah gewesen ist, und du bist sein bester Freund.“
Terry zuckte die Achseln. „Er war eigentlich recht entgegenkommend. Hat sie nicht gleich abgewiesen, sondern nur gesagt, dass er nicht mehr lange hier sein würde, und es dabei belassen.“
Auf diese Erinnerung hätte ich verzichten können.
„Er ist überraschend gut mit Kindern“, sagte Terry, als er sah, wie seine Tochter vor Vergnügen quiekte, als es ihr gelang, beim Finish ihr Bein ein wenig höher zu heben. „Und er ist ein hervorragender Tanzlehrer. Hannah hat ihre Schienen seit zwei Wochen kaum noch erwähnt. Sie hat nur gesagt, dass damit das Tanzen vielleicht ein wenig schwieriger sein könnte, und dass sie dann ihr Gewicht etwas anders ausbalancieren müsste.“ Er wandte sich mir zu. „Kannst du dir das vorstellen? Noch vor einem Monat ist sie bei dem Gedanken, sie tragen zu müssen, in Tränen ausgebrochen, und jetzt redet sie davon, in den verdammten Dingern zu tanzen. Ganz ehrlich, ich kann Judah nicht genug danken. Ich weiß gar nicht, wie es werden soll, wenn er von hier fortgeht.“
„Weiß Hannah davon?“ Judah drückte Hannah einen Kuss ins Haar. Ungewollt schoss mir plötzlich ein Bild durch den Kopf: Judah, der unserem Kind das Tanzen beibrachte. Unserem Kind? Heilige Scheiße. Noch eine Büchse der Pandora. Genau, was mir noch gefehlt hatte.
„Ich habe ihr gesagt, dass die Möglichkeit besteht, er könnte fortgehen. Aber sie wollte nicht darüber reden.“
Dann sind wir schon zu zweit.
„Was ist mit dir?“ Terry richtete seine viel zu wissenden Augen auf mich. „Ihr zwei scheint euch ziemlich nahe zu stehen.“
Ich wich seinem Blick aus und sah zu Boden. „Ich berufe mich auf meine innere Hannah und weigere mich, darüber zu reden.“
Er schnaubte. „Viel Glück damit.“
„Ich werde ihn nicht zurückhalten.“ Als ich aufblickte, half Judah gerade Hannah, nach ihrer Verbeugung ein wenig aufrechter zu stehen. „Er braucht diesen Job in Wellington, Terry. Das Angebot ist perfekt für ihn. Judah ist schon dabei, Wohnungsangebote und Busverbindungen zu recherchieren. Was soll er denn machen? Hier in Painted Bay bleiben und für den Rest seines Lebens in Mays Salon Haare waschen, während er mich jeden Tag ein bisschen mehr dafür hasst, diese Chance wegen mir aufgegeben zu haben?“
Terry rieb sich mit einer Hand über das Kinn und den Mund. „Ich weiß. Das ist Scheiße. Aber was ist mit dem, was du willst? Kannst du ihn einfach so leichten Herzens gehen lassen?“
Konnte ich? „Was glaubst du denn?“ Das kam ein wenig zu scharf heraus. „Tut mir leid. Und nein, nicht leichten Herzens. Und um deine nächste Frage zu beantworten – ja, ich denke darüber nach.“
„Mit ihm umzuziehen?“ Terry klang vollkommen überrascht.
Tja, willkommen im Club. Die Vorstellung machte mir eine Heidenangst. „Ich habe Judah bisher noch nichts davon gesagt, und ich weiß nicht, wieso ich es dir jetzt erzähle. Aber ja, ich denke darüber nach. Oder ich denke darüber nach, was es bedeuten würde, darüber nachzudenken.“
Terry lehnte sich mit einer Schulter an die Wand, sodass er mir zugewandt stand. „Ich will ja kein Eimer kaltes Wasser sein oder sowas, aber ihr zwei seid noch ziemlich frisch zusammen.“
Scharf beobachtet . „Ich weiß. Und wenn es Auckland wäre, wäre ich nur zu gern bereit, für ein paar Monate die Meilen abzurattern und zu sehen, wie sich die Sache zwischen uns entwickelt. Aber Wellington? Das ist verdammt weit weg, Terry. Und keiner von uns sieht bei dieser Entfernung die Option, hin und her zu pendeln. Ich habe in meinem Job zu viele und zu unvorhersehbare Arbeitsstunden, und Judah wird weder die Zeit noch das Geld dazu haben.“
Die Probe war beendet. Hannah ging zu Natalie hinüber, und die beiden Mädchen umarmten einander. Dann half Hannah Natalie, zu uns herüber zu rollen.
„Hast du mich gesehen, Papa?“, fragte Hannah aufgeregt. „Judah sagt, ich wäre die beste Schülerin, die er je hatte, und ich finde, er ist der beste Tanzlehrer auf der ganzen Welt.“
Terry grinste und übernahm es, Natalies Rollstuhl zu schieben. „Klar habe ich dich gesehen. Und das ist wundervoll, Häschen.“
Ich hob belustigt eine Augenbraue und sah Judah an, der lediglich mit den Schultern zuckte. „Ist die reine Wahrheit.“
„Na los, Mädchen, Zeit für Eiscreme. Bis später, Jungs.“ Terry nickte uns zu, dann manövrierte er Natalies Rollstuhl zur Tür.
Ich nahm Judah in die Arme und massierte die Muskeln in seinem Rücken. „Kann ich dich für eine Limo im Pub begeistern, Mister Bester-Tanzlehrer-der-Welt?“
Judah stöhnte wohlig, während ich seinen Rücken knetete, und ließ seinen Kopf an meine Schulter sinken. „Deine Anmachsprüche lassen ein wenig zu wünschen übrig, aber ja. Gib mir ein paar Minuten zum Umziehen. Und dann mache ich Lammkoteletts zum Abendessen. Ich bin am Verhungern.“
„Hört sich gut an.“
Er marschierte in seiner verdammten Ballettstrumpfhose zum Umkleideraum, jeden knisternden Muskel zur Schau gestellt, und jeder unverschämte Schwung seiner sexy Hüften versenkte einen weiteren Nagel in den Sarg meiner Hoffnung, dass ich irgendwann in absehbarer Zukunft über ihn wegkommen würde.
Seit seiner Reise nach Wellington war ich praktisch bei ihm eingezogen. Ich hörte die Uhr in meinem Kopf ticken und wollte einfach so viel Zeit mit ihm verbringen, wie ich konnte. Seine Mutter war über das Jobangebot natürlich außer sich vor Freude, auch wenn sie sich mir gegenüber zurückgehalten und das Thema nicht angesprochen hatte – wofür ich dankbar war.
Leroy hatte lediglich gegrunzt und darüber gesprochen, dann das Bootshaus vermieten zu können, um zur Abwechslung ein bisschen Geld damit zu verdienen, und eine dumme Sekunde lang hatte ich erwogen, es selbst zu mieten. Näher als das konnte ich Judah nicht kommen. Dann hatte ich daran gedacht, dass er zu Besuch herkommen würde, daran, ihm so nahe zu sein, ohne ihn berühren zu können, und war froh gewesen, meinen Mund gehalten zu haben.
Judah hatte der Ballettschule noch keine endgültige Antwort gegeben. Er wollte die vollen zwei Wochen ausnutzen, die sie ihm gelassen hatten, um darüber nachdenken und mit seinem Arzt sprechen zu können. Aber ich war ziemlich sicher, dass er seine Entscheidung einfach nur so lange wie möglich hinauszögerte, um nicht zu verderben, was wir hatten. Und ich war dankbar dafür. Ich konnte genauso gut den Kopf in den Sand stecken wie jeder andere Mensch.
Mein Telefon vibrierte in meiner Hosentasche; es war ein Anruf von meinem Boss.
„Halte dir den Samstag frei“, sagte er als Erstes.
Sofort war mein Interesse wach. „Wieso? Läuft bei unseren Freunden irgendwas?“
„Könnte sein. Es gehen Gerüchte über eine große Ladung Pãua , die verschifft werden soll, und die verdeckten Ermittler der Sondereinheit schätzen, dass sie versuchen werden, alle Teile der Ware diesen Samstag in der Nacht in Auckland zu sammeln. Sie wollen, dass du und Jon ab Mittag die Laird-Brüder im Auge behaltet. Die Polizei wird Haversham beobachten und einen Sender auf seinem Boot installieren. Jon weiß schon Bescheid.“
„Super. Ich melde mich bei ihm und frage, wie er vorgehen will. Halt uns auf dem Laufenden.“
„Mache ich.“
Da ging also mein Wochenende dahin. Ich mochte gar nicht darüber nachdenken, wie wenige Wochenenden mit Judah mir überhaupt noch bleiben würden.
Ich behielt die Tür zum Umkleideraum im Auge, während ich über Terrys Worte nachdachte. Konnte ich Judah nach Wellington folgen? Konnte ich das Leben aufgeben, das ich mir nach Sallys Tod aufgebaut hatte und das Risiko eingehen? Es würde kein Zurück geben, jedenfalls für eine lange Zeit nicht. Es war ziemliches Glück gewesen, in Northland an einen Job im Fischereischutz zu kommen – das Klima, die Natur und das idyllische Leben hier waren große Anziehungspunkte.
In Wellington hingegen gab es öfter mal freie Stellen, aber es war eine Großstadt, und für gewöhnlich arbeitete man im Hafen, musste mehr reisen, mit deutlich mehr Bürokratie und Beamtentum, und viel weniger Unabhängigkeit. Die Vorstellung lag mir aus mehreren Gründen schwer im Magen. Aber verglichen damit, Judah zu verlieren …
Mach ein paar Anrufe , hörte ich Sallys Stimme in meinem Kopf.
Ich würde ein paar Anrufe machen.