I n einer perfekten Welt hätte Sophia nach dem australischen Outback etwa eine Woche Zeit gehabt, sich auszuruhen, bevor sie einen Beinahe-Marathon unternahm. Allerdings lebte sie nicht in einer perfekten Welt, auch wenn sie hoffte, sie irgendwann zu einem besseren Ort zu machen – wenn Hiker sie auf dieser anstrengenden Wanderung nicht umbrachte.
»Also, wenn du jetzt wanderst«, begann Sophia, nachdem sie über eine Stunde lang geschwiegen hatten und nur ihre Stiefel im Gras Geräusche verursachten oder die Vögel in der Luft. »Dann ist es der wandernde Hiker, der durch Hikers Hügel wandert, richtig?«
Er seufzte, offensichtlich unbeeindruckt von ihrer Feststellung, für die sie über eine Stunde gebraucht hatte.
»Wir müssen nicht reden«, merkte er an, blieb oben auf einem Hügel stehen und presste seine Hände in den unteren Rücken.
»Wie warst du als Kind?« Sophia war sich unsicher, warum sie ihm so sehr unter die Haut gehen wollte. Es schien ihr im Moment einfach das Richtige zu sein. Ja, er hatte ihr ein Kompliment gemacht, aber sie dachte, dass er nur objektiv sein wollte. Hiker hielt sie für mehr als kompetent, aber er schien auch sehr überrascht von dem Gedanken zu sein, als ob er darauf wartete, dass sie irgendwann versagte und bewies, dass sein anfängliches Urteil die ganze Zeit richtig gewesen war.
»Ich war klein«, erwiderte er und wurde schneller, als sie den Hügel hinabstiegen.
»Warst du verspielt oder neugierig oder ein Frechdachs?«, fragte sie.
»Wir haben nicht gespielt«, antwortete er. »Das wurde erst im achtzehnten Jahrhundert erfunden.«
Sie nickte, als würde das vollkommen Sinn ergeben. »Das erklärt so Manches.«
»Und nein, Thad war der Schlimme, wie wir schon besprochen haben«, fuhr er fort.
»Richtig und das ist der Zeitpunkt, an dem du etwas sagst, damit wir ein sinnvolles Gespräch führen können«, schlug Sophia vor, immer noch unsicher, warum sie Hiker dieses Gespräch aufzwang. Irgendetwas an diesen Hügeln ermutigte sie zum Reden, zum Lernen, vielleicht sogar zum Erzählen ihrer eigenen Geschichte.
»Ich hatte schon immer Regeln«, begann er langsam, die Worte schienen ihm zunächst schwer zu fallen, so als würde er sich an etwas aus längst vergangenen Zeiten erinnern. »Ich sehnte mich nach Ordnung. Das war schon immer so. Wenn etwas gegen die Regeln verstößt, fällt es mir schwer, es überhaupt zu begreifen. Thad hingegen ist genau das Gegenteil. Er brach die Regeln schon immer, nur aus Spaß an der Freude. Er hat keinen Respekt vor Ordnung oder Organisation.«
»Also war er eher der ›Bitte um Verzeihung statt um Erlaubnis‹-Typ?«, erkundigte sie sich.
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er sich jemals um Vergebung Gedanken gemacht hätte. Schon gar nicht um Erlaubnis.«
»Ist es möglich, dass Menschen tatsächlich böse geboren werden?«, grübelte sie und wollte eine solche Vorstellung nicht glauben. Die weitreichenden Folgen waren zu groß. Das bedeutete, dass Gefängnisse notwendig waren und Rehabilitierung an Bedeutung verlor. Sophia wollte an eine Welt glauben, in der die Menschen lediglich verwirrt waren, wenn sie etwas Falsches taten und in der man ihnen beibringen konnte, sich zu bessern.
»Ich weiß nicht«, meinte er und dachte über die Idee nach. »In Thads Fall glaube ich das auf jeden Fall. Ich habe andere Drachenreiter getroffen, die genau wie er waren, wenn auch nicht so böse. Keiner ist in dieser Hinsicht so wie Thad.«
»Andere Reiter«, sinnierte Sophia. »Warum sind sie schwarz und weiß? Sind sie alle entweder gut oder böse? Oder gibt es auch ein paar graue?«
»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Hiker. »Die meisten, denen ich begegnet bin, fallen in die eine oder andere Gruppe des Spektrums. Dazwischen gibt es nicht viel.«
»Das ist seltsam«, stellte Sophia fest. »Ich bin mit vielen unterschiedlichen Magierfamilien aufgewachsen und sie glichen sich nicht. Die meisten waren gut, weil sie mit dem Haus der Vierzehn verbunden waren, aber es gab auch immer schlechte Seiten. Sogar ich war bekannt dafür, dass ich gelegentlich einen Donut aus der Küche stibitzt habe.«
»Verschwinde!«, schrie Hiker und drehte sich abrupt zu Sophia um, sein Gesicht war ernst.
Sie hielt inne und sah ihn leicht verärgert an. »Ach, halt die Klappe.« Sophia wanderte um ihn herum und übernahm die Führung.
»Wie warst du als Kind?«, fragte Hiker nach einem Moment.
Sie blickte ihn an, überrascht von der Frage. »Klein«, antwortete Sophia und streckte ihm die Zunge heraus.
Er rollte mit den Augen. »Ich meine, ich verstehe, dass es die Art von Frage ist, die sich selbst beantwortet, da du in vielerlei Hinsicht noch ein Kind bist.«
»Ich bin achtzehn«, feuerte sie zurück.
»In meinen Augen bist du ein Kind, bis du deinen hundertsten Geburtstag feierst.«
»Bekomme ich dann meinen Süßigkeitenstrauß?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Du bekommst einen an deinem fünfhundertsten Geburtstag, genau wie ich.«
»Was hast du an deinem fünfhundertsten Geburtstag gemacht?«
»Du zuerst«, beharrte er. »Ich habe dir eine Frage gestellt und du hast sie nicht beantwortet. Also, wie warst du früher als Kind?«
Sie dachte einen Moment lang nach und versuchte herauszufinden, wie sie sich selbst beschreiben sollte. »Ich war einsam.«
Der Ausdruck, der über sein Gesicht huschte, brachte sie dazu, überstürzt eine Erklärung abzugeben.
»Ich sage das nicht, weil ich Mitleid möchte«, erklärte sie. »Das ist eine Tatsache. Meine älteren Geschwister hatten Verpflichtungen als Krieger und Ratsmitglied für das Haus der Vierzehn, außerdem mussten sie sich um die Geschäfte unserer Eltern kümmern. Clark war immer am Lernen. Liv … nun, sie ging, bevor ich mich erinnern konnte. Jahrelang gab es nur mich und meine Magie. Niemand durfte wissen, dass ich sie hatte. Reese und Ian waren sich darüber im Klaren. Also habe ich die meiste Zeit Einzelunterricht genommen oder war auf mich allein gestellt. Ich wollte sowieso nicht wirklich mit den anderen Kindern spielen, weil sie mich immer komisch fanden, obwohl ich nicht weiß, weshalb.«
»Weil du als Autorität geboren wurdest«, erklärte Hiker sachlich.
»Was?«, fragte sie.
»Alle Drachenreiter sind es, laut der vollständigen Geschichte der Drachenreiter . Du erinnerst dich, mein Buch, das du verloren hast«, neckte er mit einem ernsten Gesichtsausdruck.
»Ich habe es nicht verloren«, protestierte sie. »Trinity hat es genommen und bewahrt es in der Großen Bibliothek auf.«
»Zu der wir im Moment ein Portal in der Burg geöffnet haben, dank dir.«
»Gern geschehen«, zwitscherte sie.
»Wie auch immer, ich habe nicht das ganze Buch gelesen und erinnere mich nicht mehr an viel davon«, fuhr Hiker fort. »Woran ich mich erinnere, ist, dass Drachenreiter, da sie als Judikatoren vorgesehen sind, mit einer natürlichen Autorität geboren werden. Wenn du als Kind einem Spielkameraden gesagt hast, er solle etwas tun, tat er das dann auch?«
Sophia dachte einen Moment lang nach und wanderte in ihren Gedanken zurück zu einer entfernten Erinnerung. »Ja, ich schätze schon. Ich dachte immer, das liegt daran, dass ich so herrisch bin.«
»Das bist du«, bestätigte Hiker. »Aber es ist schon ein bisschen mehr, ein Reiter zu sein. Wir haben eine natürliche Fähigkeit als Judikator. Unsere Anordnung stößt bei vielen auf Zustimmung.«
»Aber das funktioniert bei anderen Reitern nicht, oder?«, wollte Sophia wissen. »Deshalb konntest du Thad nie dazu bringen, sich zu benehmen?«
Hiker nickte. »Das ist der widersprüchliche Teil von all dem. Wir bringen Ordnung und Gerechtigkeit, aber unsere Geschichte hat gezeigt, dass diejenigen, die wir bekämpfen, am häufigsten wir selbst sind. Andere Reiter waren meist die Anstifter – diejenigen, die den Frieden bedrohten, für den wir so hart gearbeitet haben.«
»Wow«, sinnierte Sophia. »Vielleicht wäre es besser, wenn es keine Drachenreiter mehr gäbe.«
Wieder hielt Hiker inne und sah sie an. »Sag sowas nicht.«
»Aber Sir«, begann Sophia, »wir erfüllen eine wichtige Aufgabe, aber wenn die meisten unserer Bemühungen darin bestehen, andere Reiter zum besseren Verhalten zu bewegen, wäre es vielleicht einfach besser, wenn es keine Reiter gäbe.«
Hiker schluckte, ein nüchterner Ausdruck in seinen Augen. »Ich verstehe deine Logik, aber ich muss daran glauben, dass die guten Reiter mehr Frieden bringen, als die schlechten Böses verursachen. Außerdem gibt es nur noch einen bösen Drachenreiter. Wenn Thad erst einmal weg ist, dann können wir es schaffen.«
»Hast du dir überlegt, wie du ihn zur Strecke bringen willst?«, wagte Sophia zu fragen.
Eine leichte Spannungslinie bildete sich um Hikers Kiefer. »Ich glaube, das ist der Grund, warum ich mit dir auf dieser Wanderung bin. Also nein, aber auf dem Rückweg wird die Antwort hoffentlich anders ausfallen.«
»Müssen wir zurückwandern oder können wir die U-Bahn nehmen?«, scherzte Sophia.
»Die was?«, fragte Hiker.
Sie winkte ab. »Das war einer dieser Witze, die ich so liebe und hier selten einer versteht.«
Die beiden wanderten eine weitere Stunde schweigend weiter. Sophia konnte gut damit umgehen, dankbar, dass sie sich ein bisschen unterhalten hatten.
Als sie zu einer Höhlenöffnung kamen, die von rechteckigen Säulen umgeben war, hielt Hiker inne.
»Die ist aber weit draußen«, bemerkte Sophia und bewunderte die Steinbauten, die die Seiten der Höhle säumten. Die Blöcke waren so geordnet, dass es von Menschenhand gemacht zu sein schien, obwohl das eher unwahrscheinlich war.
»Es gibt eine andere, bekanntere Höhle auf der anderen Seite Schottlands, die Fingals Cave heißt«, erklärte Hiker. »Sterbliche kennen sie, wissen aber nicht von der Falconer-Höhle.«
»Falconer?«, fragte Sophia. »Wie die Leute, die diese Vögel zähmen und Augenklappen tragen?«
»Das mit den Augenklappen war mir nicht bewusst, aber ja«, antwortete er.
»Nun, ich glaube nicht, dass das sofort nötig ist«, scherzte Sophia. »Vielleicht lassen sich nur die ganz Bösen von einem Raubvogel die Augen ausstechen.«
»Du bist sehr seltsam«, bemerkte er.
»Also, was hat es mit dieser Höhle auf sich?« Sophia studierte die seltsamen sechseckigen Säulen, die den Eingang markierten. »Hat sie eine seltsame magische Bedeutung?«
Hiker schüttelte den Kopf. »Die Akustik ist gut.«
Sophia verengte die Augen. »Hast du mich hierher gebracht, um mit mir zu singen?«
»Es wird definitiv nicht gesungen«, antwortete Hiker. »Die Akustik der Höhle ist wichtig für diesen Teil des Trainings.«
»Weil?«, fragte Sophia.
»Du wirst es herausfinden.« Hiker lief ein paar Schritte weiter, bevor er sich wieder Sophia zuwandte. »Zu meinem fünfhundertsten Geburtstag hatte ich ein Glas Whiskey und einen ruhigen Abend für mich allein.«
»Also so, wie ziemlich jeden Tag zuvor«, erklärte Sophia.
Er nickte. »Wenn man so alt wird wie ich, sind die Geburtstage unwichtig.«
»Na ja, vielleicht schmeißt ja jemand zu deinem nächsten Geburtstag eine Party mit Luftschlangen und Kuchen.«
Er sah sie finster an. »Diese Person würde keinen weiteren ihrer Geburtstage erleben.«
Sophia lachte. »Du und deine Drohungen, das ist so niedlich!«