S elbst nach der Wanderung durch das Hochland hatte Sophia Schwierigkeiten, das zu verarbeiten, was sie gerade über die Dracheneier erfahren hatte. Ja, es waren nur fünf gewesen. Das hatte den Reitern ein wenig Hoffnung geschenkt, dass die Drachenelite wieder das sein könnte, was sie einmal war, auch wenn es niemand laut aussprach. Fünf Eier zu haben war besser als nichts.
Sie wussten, weil Mae Ling es bestätigt hatte, dass dies die letzten fünf verbliebenen Eier auf der Welt waren. Zu wissen, dass sie nie schlüpfen und es nie wieder einen neuen Drachen geben würde, war niederschmetternd, egal wie Sophia versuchte, es zu drehen und zu wenden. Ja, es gab noch fünf Drachen auf der Welt und wenn keine Tragödie geschah, konnten sie noch tausend oder mehr Jahre leben. Aber danach wäre das Zeitalter der Drachen vorbei. Die Drachenelite würde es nicht mehr geben. Die Judikatoren der Welt wären abgeschafft.
Sophia versuchte sich mit der Tatsache zu trösten, dass Lunis aus dieser Charge von Eiern stammte und dass wenigstens er geschlüpft war. Wer wusste schon, weshalb Dracheneier schlecht wurden? Die Drachen hatten spekuliert, dass der herannahende Krieg ursächlich gewesen sein könnte. Er löste weltweit alles Mögliche aus.
Bermuda dachte, der Krieg wäre der Grund, warum König Rudolf Sweetwaters Kinder jetzt geboren wurden. Offenbar wurde das globale Bewusstsein von den Ereignissen beeinflusst, die Thad in Gang gesetzt hatte und das hatte weitreichende Konsequenzen.
Noch immer von diesen Gedanken verzehrt, stapfte Sophia die Treppe zur Burg hinauf, in der Hoffnung, eine ordentliche Nachtruhe zu bekommen. Am nächsten Tag stand ein Krieg vor der Tür. Die Drachenelite würde zum ersten Mal seit Jahrhunderten gemeinsam ausreiten.
Sophia war nicht überwältigt von dem, was kommen musste, aber sie war mit sich selbst beschäftigt. Deshalb hörte sie auch nicht, dass Mama Jamba ihr zurief, als sie an Hikers Büro vorbeiging.
Die im Korridor stehende Rüstung trat von der Wand und zeigte hinter Sophia. Nicht so überrascht, wie sie hätte sein sollen, dass eine leblose Rüstung von selbst herumlief, blickte sie über ihre Schulter und erkannte, dass die Burg versuchte, mit ihr zu kommunizieren.
»Schwing deinen Hintern hierher, Schatz«, rief Mama Jamba aus dem Büro.
»Oh, klar«, erwiderte Sophia, wandte sich der Rüstung zu und nickte. »Danke.«
Sie drehte sich um und eilte den Weg zurück, den sie gekommen war. Sie hatte sich gerade bei einer Rüstung dafür bedankt, dass sie ihr den Weg gezeigt hatte. »Mein Leben ist schon merkwürdig.«
»Es wird immer noch merkwürdiger«, bestätigte Mama Jamba, die immer noch auf Hikers Couch saß. Er war nicht in seinem Büro anwesend, wahrscheinlich half er den Drachen, die schlechten Eier zu entsorgen.
Mutter Natur wirkte im Vergleich zu ihrem letzten Auftritt munter. Es lagen keine zusammengeknüllten Taschentücher um sie herum und sie hatte einen frischen rosa Velours-Trainingsanzug angezogen. Ihr silbernes Haar war ordentlich frisiert und ihre Füße steckten in glitzernden Ugg-Boots, die zu ihrem Outfit passten.
»Ich nehme an, du weißt von …« Sophia verstummte.
Mama Jamba nickte und klopfte auf den Platz neben sich auf der Couch. »Natürlich, Liebes. Du nimmst das sicher sehr schwer.«
Sophia setzte sich neben Mutter Natur und nickte. »Wusstest du schon immer, dass sie verderben würden?«
Mama holte tief Luft und verschränkte die Hände über ihrer Körpermitte. »Die Sache ist die, dass es so etwas wie Schicksal eigentlich nicht gibt und doch gibt es das.«
Sophia ließ den Kopf hängen. »Das ergibt doch keinen Sinn.«
Mama Jamba nickte. »Und doch ist es so, wie das Leben eben läuft.«
»Warum muss das Leben so kompliziert sein?«, fragte Sophia.
»Weil es keine absolut gültigen Regeln gibt«, erklärte Mama Jamba. »Ich habe die meisten Regeln gemacht. Papa hat auch ein paar hinzugefügt. Wir haben sie nur aufgestellt, aber sie waren nie vollständig eindeutig. Jede einzelne kann gebrochen werden, wenn man das Geheimnis kennt, aber …« Sie zwinkerte Sophia zu, ein Funkeln in ihren hellblauen Augen. »Wir geben unsere Geheimnisse nicht so leicht preis.«
»Ja, das kann ich mir halbwegs vorstellen«, meinte Sophia.
»Also«, fuhr Mama Jamba fort, »die Eier sollten eigentlich schlüpfen, aber die Dinge haben sich geändert. Jetzt sind sie verdorben. Es gibt ein Schicksal und das kann sich immer ändern.«
»Dann ist es doch kein Schicksal«, entgegnete Sophia.
Mama Jamba stimmte zu. »Ich verstehe, wie verwirrend das ist, dieses Spiel mit der Semantik, wenn du so willst. Du bist für bestimmte Dinge vorgesehen und du wirst dieses Schicksal erfüllen, höchstwahrscheinlich. Aber wenn du diesen Raum verlässt und eine Axt auf dich fällt, dann wirst du es nicht erfüllen.«
»Nun, die Burg hat schon einmal versucht, mich zu töten«, murmelte Sophia.
Mama Jamba lachte. »Sie hat einfach versucht, dich in die gewünschte Richtung zu lenken. Ich will damit sagen, dass Ereignisse ändern können, was vorherbestimmt war. Jetzt werden die Eier nicht schlüpfen.«
»Das ist das Ende der Drachen«, flüsterte Sophia.
»Nicht ganz.« Mama Jamba tätschelte ihr Bein. »Wir haben ja noch dich.«
»Ich habe den meditativen Teil meines Trainings abgeschlossen«, bestätigte Sophia. »Heißt das, ich bin fertig? Habe ich meine Flügel?«
Mama Jamba lächelte. »Fast. Ich wusste, du würdest es schnell hinter dich bringen und ich bin dankbar, dass du es fast geschafft hast. Aber du hast noch eine letzte Sache zu erledigen, bevor du offiziell dazugehörst.«
»Zu einem anderen Planeten reisen?«, fragte Sophia. »Einen Walkabout im australischen Outback überleben? Hiker nicht töten, nachdem er meinen Proviant weggeworfen und verlangt hat, dass ich sechzehn Kilometer durch unwegsames Gelände latsche? Oh, warte, all diese Dinge habe ich bereits getan.«
Das Lachen aus dem Mund von Mama Jamba war absolut bezaubernd. Es glich dem Geräusch des Windes, der in den Weidenzweigen raschelt. »Eigentlich ist die letzte Aufgabe, die du erfüllen musst, um das Training zu beenden, nichts, was du draußen machen kannst.«
»Könnte in etwa hinkommen«, meinte Sophia trocken.
»Stattdessen wartest du auf eine Gelegenheit«, fuhr Mama Jamba fort. »Um deine Flügel zu verdienen, musst du einen wahren Akt der Kameradschaft vollbringen.«
»Wie soll das gehen?«, erkundigte sich Sophia.
Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Das musst du selbst entscheiden. Ich kann sagen, dass es nicht zählt, wenn du nur auf der Suche nach einem Weg bist. Wenn wir versuchen, nett zu sein, ist das die falsche Motivation. Wenn es aus dem reinsten Teil des Herzens kommt und wir Liebe ausdrücken, weil wir es wollen, dann ist das Magie.«
»Ein wahrer Akt der Kameradschaft …« Sophia überlegte, ihre Augen schauten in die Ferne, ohne etwas wahrzunehmen.
»Ja, denn das ist das Wichtigste, um zur Drachenelite zu gehören«, erklärte Mama Jamba. »Sie beschützen die Welt, weil sie das Leben schätzen und kein Leben ist für meine Elite wichtiger als das der anderen Reiter.«
»Also muss ich einem der Reiter diesen Akt der Kameradschaft erweisen«, vermutete Sophia.
»Auch hier gilt, es muss authentisch und ungeplant sein«, mahnte Mama Jamba.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich Hiker nicht ermordet habe, obwohl er mich geradezu angefleht hat, oder?«, scherzte Sophia.
»Ich weiß das zu schätzen, aber ich fürchte, das wird nicht reichen.« Mama tätschelte noch einmal ihr Bein. »Du wirst es herausfinden, Liebes. Oder du wirst es nicht schaffen und es wird einige Jahre dauern, bis du deine Ausbildung abgeschlossen hast, so wie bei Evan.«
»Aber du hast mir erzählt, dass der Abschluss meiner Ausbildung entscheidend ist«, entgegnete Sophia und erinnerte sich daran, wie hartnäckig die Frau darauf bestanden hatte.
»In der Tat, das habe ich und es ist auch so. Aber es gab auch viele andere Dinge, die in der Vergangenheit nicht passiert sind«, erklärte sie. »Leider passieren schlimme Dinge und meistens ist das eine Folge davon, dass andere Dinge nicht passiert sind . Wenn du deine Ausbildung nicht rechtzeitig beendest, fürchte ich um diese Welt, aber das tue ich ohnehin bereits, also wird es einfach nur schlimmer.«
Sophia wurde einen Moment lang schweigsam und versuchte, sich von all dem nicht überwältigt zu fühlen. Sie deutete auf den Fernsehbildschirm, der vor ihnen auf dem Tisch vor der Couch stand. »Bist du fertig mit traurigen Filmen?«
Der Fernseher zeigte kein Bild, nur Rauschen.
Mama Jamba lächelte gutmütig, als sie nickte. »Ja. Wie wäre es, wenn wir beide uns etwas ansehen, das dich zum Lachen bringt? Du siehst aus, als könntest du das gebrauchen.«
»Das könnte ich«, bestätigte Sophia. »Was möchtest du dir anschauen?«
»Na ja, ich weiß nicht …« In Mama Jambas Händen tauchten Garn und eine Häkelnadel auf. Sie machte sich sofort an die Arbeit und häkelte. Sie hielt die Handarbeit hoch. »Für einen von König Rudolfs Drillingen.«
»Oh, wow, sie bekommen eine Babydecke von Mutter Natur? Ist es, weil ihr Vater der König der Fae ist?«
»Jeder bekommt etwas von mir«, antwortete Mama Jamba. »Sie wissen es nur nicht immer. Das liegt daran, dass diese Drillinge einzigartig sind.«
»Weil sie Halblinge sind?«, fragte Sophia.
Als Antwort wippte Mutter Natur mit dem Kopf. »Und auch aus anderen Gründen, aber ich spoilere nicht.«
»Und das Schicksal könnte sich ändern«, fügte Sophia hinzu.
Mama Jamba deutete auf den Bildschirm und sagte: »Jetzt such dir etwas aus, das du sehen möchtest. Du kennst doch bestimmt all die hippen, neuen Serien, die alle schauen? Gibt es etwas auf Prime oder Netflix, das ich sehen muss?«
Sophia blinzelte die Frau an. »Warum weißt du nicht alles? Ich bin verwirrt, wie das funktioniert.«
»Wie du es sein solltest. Es ist sehr verwirrend. Ich weiß die meisten Dinge, aber nicht alles. Wie Papa Creola, sehe ich die Zukunft, aber nicht alles. Ich kann viele Dinge kontrollieren, aber nur unter den richtigen Umständen und all das kann sich ändern, wenn bestimmte Regeln gebrochen werden.«
»Wow«, meinte Sophia und schüttelte den Kopf. »Okay, wie wäre es mit Trey Kennedy?«
»Oh, er ist entzückend«, stellte Mama Jamba sofort fest.
»Du kennst seinen YouTube-Kanal?«, fragte Sophia.
Mutter Natur schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich kenne einfach jeden.«
»Richtig«, bemerkte Sophia, deutete auf den Fernseher und ließ YouTube auf dem Bildschirm erscheinen.
»Also, was macht er?« Mama Jamba häkelte weiter an der Decke.
»Er macht diese Parodien, in denen er sich über Leute lustig macht, weibliche Singles, Mittelschüler, Weiße, Erwachsene, Leute im Winter, Mütter. Du weißt schon, diese Art von Dingen?«, erläuterte Sophia. »Er zeigt diese stereotypen Verhaltensweisen, die wir alle haben, aber er schreit sie hinaus und macht sie witzig.«
»Oh, so etwas wie ›Kinder, holt Mami einen Schokoriegel‹ oder ›Was ist das hier, Sea World? Wieso ist da so viel Wasser außerhalb der Wanne?‹ oder ›Wie schicke ich ein G-I-F?‹ oder ›Guten Morgen oder sollte ich sagen, guten Nachmittag. Da hat aber jemand gut geschlafen‹ oder ›Zieh deinen Mantel an und nimm den anderen mit. Man weiß ja nie‹ oder ›Wie war deine Poolparty? Hatten die Mädchen ordentliche Badesachen an?‹«
Sophia winkte ab und warf Mama Jamba einen erstaunten Blick zu. »Ja, das war so ziemlich wortwörtlich die Folge über Mütter.«
Mama Jamba zuckte mit den Schultern und sah stolz aus. »Ich habe ihm ein paar meiner besten Witze erzählt. Ich liebe diesen Jungen.«