Montag

Heute

Die Insel hatte sich die Nacht übergestülpt wie eine Mütze. Die Dunkelheit lag über dem Land und verbarg alles, was am Tage sichtbar war. Jan Benden lächelte bei diesem Gedanken.

Er mochte die Nacht. Er mochte es, im Garten zu stehen und zuzuhören, wie die Grau- und Nonnengänse auf den Feldern krakeelten und die Ponys unten an der Warft leise schnaubten. Und er mochte die Vorstellung, dass Laura, seine Frau, sich in der Wohnung zum Schlafen fertig machte, während er noch einmal kontrollierte, ob auf dem Paulinenhof alles seine Ordnung hatte.

Was natürlich der Fall war.

Der Hühner- und der Entenstall waren verschlossen. Die Ponys standen in ihren Boxen und dösten friedlich vor sich hin. Hauke, Lauras Lieblingskater, saß auf der Terrasse einer der Ferienwohnungen. Als Jan kurz zuvor den Garten betreten hatte, hatte das Tier ihm einen missmutigen Blick zugeworfen, der völlig eindeutig gewesen war: Du störst mich bei der Jagd!

Jan warf einen Blick zu dem leeren Schwalbennest über dem Fenster der Ferienwohnung. Im Sommer war es Haukes liebste Beschäftigung zuzusehen, wie die Schwalbeneltern ein- und ausflogen, um ihren Nachwuchs zu füttern. Wenn die Kleinen flügge wurden, verpasste Laura ihm für ein paar Tage ein Halsband samt Glöckchen, sodass der Kater die Brut nicht allzu leicht in die Pfoten bekam. Und in den Tagen nach dieser Maßnahme strafte Hauke sie dafür stets mit tödlicher Verachtung.

Allein bei dem Gedanken musste Jan lächeln. »Bist schon ein kleiner Prinz!«, sagte er zu dem Kater.

Der tat, als habe er nichts gehört. Jan lockerte seine verkrampften Schultern und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Er war erschöpft. Er hatte den halben Tag lang bei den Nachbarn ausgeholfen, Sträucher und Bäume zu beschneiden und das Schnittgut zum Leuchtturm zu fahren, wo das Biikefeuer errichtet wurde – eine uralte friesische Tradition, die jedes Jahr im Februar stattfand und eine von Pellworms Touristenattraktionen war.

Jan überprüfte ein letztes Mal die Tür zum Hühnerstall, dann machte er sich auf den Rückweg zum Haus. Hauke hatte beschlossen, seinen Wachposten aufzugeben. Er hopste von der Terrasse, marschierte Jan mit hoch aufgerichtetem Schwanz entgegen und stieß tatsächlich mit der Stirn gegen Jans Bein.

Jan musste schmunzeln. »Wer bist du, und was hast du mit unserem Hauki gemacht?« Gewöhnlich behandelte der Kater ihn wie einen Angestellten, seinen ganz persönlichen Dosenöffner. Jan bückte sich und kraulte den Kater seitlich am Hals, sehr darauf bedacht, ihn nicht zu reizen. So schmusig Hauke im Moment auch wirkte: Wenn man das mit dem Kraulen seiner Meinung nach nicht richtig machte, konnte er im Bruchteil einer Sekunde sehr miesepetrig werden.

Heute jedoch schien er guter Stimmung zu sein. Jan glaubte sogar, ein leises Schnurren zu hören.

»Man könnte meinen, ihr werdet irgendwann doch noch dicke Freunde«, ertönte Lauras Stimme hinter ihm.

Jan richtete sich auf, er hatte seine Frau nicht herankommen hören. »Das ist nicht Hauke«, sagte er amüsiert. »Das ist irgendein Alien, das sie uns untergeschoben haben.«

Wie um ihm das Gegenteil zu beweisen, drehte Hauke sich um und zeigte Jan die kalte Schulter. Jan schnappte ihn sich. »Das hast du dir so gedacht, mein Sportsfreund!« Mit dem Kater auf dem Arm wandte er sich um und sah seine Frau an. »Ich dachte, du bist schon im Bett.«

Sie trat ganz dicht an ihn heran. Jan ließ Hauke wieder herunter und legte die Arme um sie. Sie trug zwar noch ihre Jeans und eine dicke Strickjacke, aber jetzt, da sie ihm so nah war, roch er den Duft ihrer Nachtcreme. Tief sog er ihn ein. »Du warst schon im Badezimmer«, murmelte er in ihr Haar.

»Sehr gut kombiniert, Herr Kommissar.« Sie lächelte. »Eigentlich wollte ich nur nachsehen, wo du so lange bleibst.«

Ohne sie loszulassen, warf er einen Blick auf die Armbanduhr. Es war nach zehn. Hatte er wirklich so lange hier gestanden und nachgedacht?

Offenbar.

»Über was grübelst du nach?« Laura schmiegte die Wange gegen seine Brust, sodass er das Kinn auf ihren Scheitel legen konnte.

»Eigentlich über nichts.« Er lachte leise. »Na ja, vielleicht ein bisschen darüber, dass wir jetzt bald ein Jahr hier auf der Insel sind.«

»Stimmt.«

Sie beide hatten früher bei der Kriminalpolizei in Nordrhein-Westfalen gearbeitet, aber schon damals ihre Urlaube auf Pellworm oder auf der naheliegenden Hallig Hooge verbracht. Als ein Einsatz für Laura beinahe tödlich geendet hatte, waren sie zu dem Entschluss gekommen, ganz hierher auf die Insel zu ziehen. Durch Zufall hatten sie erfahren, dass der Paulinenhof zum Verkauf stand und dass man darüber hinaus auf der Insel jemanden suchte, der den Posten des Inselpolizisten übernahm. Also hatte Jan sich bei der Polizeidirektion Flensburg beworben und anschließend einen Antrag auf Länderwechsel gestellt. Sie hatten den Hof gekauft und darauf vier gemütliche Ferienwohnungen eingerichtet. Seitdem fungierte Jan als Vermieter und Inselpolizist in Personalunion, und er liebte jeden einzelnen Aspekt seiner beiden so unterschiedlichen Leben. Und trotzdem haderte er ab und zu mit ihrem Entschluss hierherzukommen, denn insgeheim vermisste er die Arbeit bei der Mordkommission. Und seit dem Fall des toten Malers, den sie vergangenen September gemeinsam gelöst hatten, wusste er, dass es Laura genauso erging. Früher, in Essen, waren sie einfach ein unschlagbar gutes Team gewesen, und hier …

»Gib’s zu«, drängte sich Lauras Stimme in seine Gedanken. »Du hast über den Feuerteufel nachgedacht.«

»Hab ich nicht!«

»Lügner!« Sie machte sich von ihm los und sah ihm von unten ins Gesicht. Da sie das erleuchtete Haus im Rücken hatte, war es zu finster, um ihre graugrünen Meeraugen erkennen zu können, aber Jan wusste, dass sie in diesem Moment spöttisch glitzerten.

Er grinste. »Okay. Schuldig!« Tatsächlich hatte er vorhin eine Weile lang darüber nachgedacht, wer seit ein paar Tagen auf der Insel Brände legte. Bisher waren es drei gewesen: Zuerst war ein Gebüsch in der Nähe der Alten Kirche mutwillig angezündet worden, danach der Traktor eines Lohnunternehmers. Und schließlich hatte die Infotafel am Waldhusentief eines Nachts in Flammen gestanden. An allen drei Brandorten hatte man Benzingeruch festgestellt.

»Du wirst den Brandstifter schon finden.« Laura schien ganz sicher.

»Natürlich«, erwiderte er. »Schließlich bin ich der beste Ermittler der Insel.« Aber im Stillen dachte er: Hoffentlich schaffe ich es, bevor ein Mensch zu Schaden kommt!

»Du bist der einzige Ermittler auf der Insel«, korrigierte Laura schmunzelnd. »Aber jetzt komm endlich wieder rein, es ist saukalt hier draußen.«

Wie um sie zu bestätigen, fuhr ein Windstoß in die alten Obstbäume. Die kahlen Zweige rauschten, und zwei dicke Äste rieben aneinander und verursachten ein Wimmern, das wie das eines kleinen Kindes klang. Laura zog fröstelnd die Schultern hoch. »Vorhin im Radio haben sie gesagt, dass sich ein Sturmtief nähert. Hoffentlich kann das Biikefeuer stattfinden.«

»Wird schon«, prophezeite Jan. »Die sind hier doch sturmerprobt.« Er dachte an ein Biikefeuer, das er vor etlichen Jahren als Urlauber miterlebt hatte. Damals hatte Ostwind der Stärke 5 mit eisigen Böen geherrscht, und der Regen war nahezu waagerecht gefallen – Wetter also, bei dem man sich in seiner früheren Heimat gemütlich hinter dem Ofen verkrochen hätte und allein bei dem Gedanken rauszugehen in Ohnmacht fiel. Hier oben jedoch handelte man nach einer alten friesischen Weisheit: Sturm ist erst, wenn die Schafe auf dem Deich keine Locken mehr haben . Das Feuer damals hatte stattgefunden, und es würde auch in diesem Jahr stattfinden.

Sofern der Feuerteufel nicht vorher eine Katastrophe auslöste.

»Brr«, machte Laura. »Also, ich gehe wieder rein. Bleib nicht mehr so lange.« Sie gab Jan einen flüchtigen Kuss, dann kehrte sie zurück in ihre gemütliche Wohnung. Hauke rannte ihr nach, vermutlich in der Hoffnung, dass in der Küche noch mal der Kühlschrank aufgehen und ein Stück Fisch oder Käse für ihn abfallen würde.

Jan sah den beiden nach.

Als er sich kurz darauf noch einmal der offenen Marsch zuwandte, fiel ihm der gelbliche Schein am Horizont auf.

*

Die warme, noch ein wenig nach den Knoblauchgarnelen vom Abendessen riechende Luft in der Wohnung hüllte Laura ein, und sie atmete tief durch, während sie ihre Strickjacke auszog und auf einen Bügel hängte.

Seit dieser Feuerteufel die Insel unsicher machte, kam Jan ihr angespannter vor als sonst. Und irgendwie erging es ihr ganz ähnlich. Immer wieder hatte sie kurzzeitig das Gefühl, dass ein Unglück nahte, und sie konnte sich nicht so recht erklären, woran das lag, schließlich war sie alles andere als abergläubisch. Ihrer Meinung nach war der Feuerteufel irgendein gelangweilter Jugendlicher, der mit dem Zündeln versuchte, sein ödes Leben mit ein bisschen Action aufzupeppen. Während sie das dachte, strich Hauke ihr um die Beine, und sie bückte sich, um ihn zu streicheln.

Er maunzte.

Lilly, die knapp dreijährige Australian-Shepperd-Hündin, die Laura schon früher am Abend in ihr Körbchen geschickt hatte, schaute hoffnungsvoll auf. Genau wie der Kater hoffte auch sie auf einen kleinen Happen zur Schlafenszeit.

Laura lachte. »Habt ihr eine Ahnung, wie spät es ist, Leute?«

Lilly wedelte mit dem Schwanz, und Hauke maunzte ein zweites Mal.

*

Jan hatte sich gerade gefragt, was das orangefarbene Leuchten am südlichen Horizont wohl zu bedeuten hatte, als sein Handy klingelte. Jens-Uwe Knudsen war dran, der Wehrführer der Freiwilligen Feuerwehr von Pellworm. »Wie es aussieht, hat dein Brandstifter wieder zugeschlagen«, sagte er statt einer Begrüßung.

Jan seufzte innerlich, irgendwie hatte er es geahnt. »Wo?«

»Auf dem alten Hof von Deikes.«

»Bin unterwegs.« Ohne Umschweife legte Jan auf. Hier auf der Insel brauchte es nicht viele Worte, um sich zu verständigen. Er war auf dem Weg zur Haustür, um die Autoschlüssel zu holen, als sein Handy ein zweites Mal klingelte. Diesmal war die Leitstelle in Harrislee dran, um ihn auch offiziell über das Feuer zu informieren.

Jan gab Laura Bescheid, streifte sich nur rasch die Uniformjacke über Jeans und Pulli und saß kurz darauf in dem Streifenwagen, der ihm vor knapp zwei Wochen zur Verfügung gestellt worden war. Der Deikehof stand auf einer Warft im Hinterland vom Junkersmitteldeich. Bis dorthin waren es nur wenige Minuten Fahrt, die Jan mit eingeschaltetem Blaulicht, aber ohne Martinshorn hinter sich brachte. Er parkte den Wagen am Straßenrand, schloss seine Uniformjacke bis unter das Kinn und marschierte die kurze, mit Holunderbüschen bestandene Auffahrt hinauf. Der Deikehof war ein alter Resthof, und er stand schon lange leer, was ungewöhnlich war, denn seitdem man auch Pellworm als lohnendes Urlaubsziel erkannt hatte, wurden immer mehr leerstehende Häuser in Ferienwohnungen umgewandelt. Familie Deike hingegen, die kurz nach der Jahrtausendwende aufs Festland gezogen war, wollte offenbar von dem Boom nicht profitieren. Der Hof rottete seit Jahren vor sich hin. Auf der Wiese davor standen alle drei Einsatzfahrzeuge, die die Feuerwehr von Pellworm ihr Eigen nannte, sowie der Rettungswagen, dessen Besatzung allerdings gerade nichts zu tun hatte. Bei allen Fahrzeugen war das Blaulicht eingeschaltet, genau wie bei Jans Streifenwagen. Schläuche waren ausgerollt worden, und Feuerwehrleute kämpften gegen die hoch auflodernden Flammen, die aus zwei Fenstern des ehemaligen Wohnhauses schlugen.

»Moin, Jan!« Jens-Uwe Knudsen hatte Jan entdeckt und kam ihm entgegen. Er war ein Mann von kerniger Statur, Anfang sechzig mit lichtem Haar und kleinem Bauchansatz. Knudsen war bekannt dafür, dass er mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hielt. Aus diesem Grund wusste man bei ihm immer schnell, woran man war, und diese Eigenschaft schätzte Jan an ihm.

Sie reichten sich die Hände.

»Ich fürchte, wir können da nicht mehr allzu viel machen.« Knudsen deutete auf das Haus, dessen moosbewachsenes Reetdach bereits an mehreren Stellen qualmte und glomm.

Jan wusste: Fing bei einem Haus erst mal das Reet Feuer, war meist das gesamte Gebäude verloren. Dann konnte die Feuerwehr nur noch dafür sorgen, dass die Flammen nicht auf benachbarte Gebäude übersprangen – in diesem Fall auf die angrenzende Scheune, deren Dach und Wände von einem Feuerwehrmann mit Wasser benetzt wurden.

»Warum versucht ihr, die Scheune zu retten?«, fragte Jan verwundert.

Knudsen nahm seinen Helm ab und kratzte sich am Hinterkopf. »Brunke hat ein paar seiner Spielzeuge da drin, und wir müssen verhindern, dass die ein Opfer der Flammen werden.«

Jans Blick glitt zu der Scheune. Er wusste, dass Ulf Brunke, der reichste Immobilienbesitzer von Pellworm, wertvolle alte Wagen sammelte. Die »Spielzeuge«, von denen Knudsen gesprochen hatte, waren also vermutlich Oldtimer.

Er blies die Wangen auf. »Okay. Du hast am Telefon gesagt, dass es Brandstiftung ist.«

»Ja. Als wir angekommen sind, hat es noch stark nach Benzin gerochen. Würde mich wundern, wenn du es hier nicht schon wieder mit diesem Feuerteufel zu tun hast.«

Ich mich auch , dachte Jan. Der letzte Brand lag kaum anderthalb Tage zurück. Gerade als er das dachte, schlugen die ersten Flammen durch das Reetdach in den Himmel. Jan biss die Zähne zusammen. Das hier war kein kleiner Fall mehr mit irgendwelchen Jugendlichen, die ein wenig zündelten. Das war auch kein mit Benzin übergossener Traktorreifen auf einem nächtlichen Betriebsgelände. Das hier war größer. Wenn ihr Brandstifter tatsächlich auch hierhintersteckte, dann ließ er aus irgendeinem Grund die Sache ungewöhnlich schnell eskalieren.

Jan schickte eine rasche SMS an Laura, damit sie wusste, dass es spät werden würde. Er wollte Knudsen gerade etwas fragen, als sein Blick auf einen der Feuerwehrmänner an den Spritzen fiel. Der Mann nickte ihm mit dem typisch friesischen Enthusiasmus knapp zu. Jan nickte zurück.

»Moin, Tamme«, sagte er.

*

Tamme hätte Jan gern richtig begrüßt, aber zu mehr als einem Nicken hatte er gerade keine Zeit. Schließlich war er im Einsatz und musste mithelfen, dieses Feuer zu löschen.

Die Flammen fraßen sich durch Balken und Wände und machten dabei Geräusche, die Tamme an ein lebendiges Tier erinnerten. Der Schlauch in seinen Händen vibrierte. Tamme mochte die Kraft, mit der der Wasserstrahl aus der Mündung schoss. Er mochte das Zischen des Wassers in den Flammen und das Gefühl, hier etwas Sinnvolles zu tun.

»Hol wieder nah rechts!«

Ihm wurde bewusst, dass sein Nebenmann ihm etwas zugerufen hatte, das er nur am Rande mitbekommen hatte. »Hä?«, rief er.

»Halt weiter nach rechts«, wiederholte sein Kollege nun auf Hochdeutsch. Im Gegensatz zu Tamme hatte er schon etliche Lehrgänge absolviert und trug auf seinen Schulterklappen die beiden Pickel, die bewiesen, dass er sogar einen Truppführerlehrgang gemacht hatte. Ein echter Feuerwehrmann also und nicht so ’n Löschbüdel, wie Tamme selbst einer war.

Er umfasste den Schlauch fester und schwenkte den Wasserstrahl ein Stück nach rechts.

Das Feuer sank in sich zusammen. Ein paar Funken stoben auf und flogen in Tammes Richtung. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie Brandmeister Knudsen mit Jan sprach.

»Okay, Leute!«, rief einer der Kollegen kurz darauf. »Ich glaube, wir haben es so weit unter Kontrolle.« Tammes Nebenmann befahl ihm, sein Wasser abzudrehen.

Tamme gehorchte. Für den Fall, dass er noch mal gebraucht würde, ließ er den Schlauch einfach liegen.

»An allen Brandorten gab es Hinweise auf Benzin als Brandbeschleuniger«, sagte Knudsen gerade.

Jan hatte die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben. Er nickte gedankenverloren.

Tamme ahnte, was er dachte. »Der Typ macht Ernst, oder?«

Jans Blick richtete sich auf ihn. Dann grinste er, und Tamme fühlte sich genötigt, sich zu verteidigen. »Keine Sorge, ich bin nur als Feuerwehrmann hier!« Aus irgendeinem Tamme völlig unverständlichen Grund war es Jans größte Sorge, dass er, Tamme, sich in eine polizeiliche Ermittlung einmischte. Was komisch war, schließlich hatte er letzten September tatkräftig dabei mitgeholfen, den Mord an dem Maler aufzuklären. Sogar gedankt hatte Jan ihm dafür. Warum er seitdem immer noch der Meinung war, dass er nicht das Zeug zum Ermittler hatte, war Tamme schleierhaft.

»Schon klar.« Jan nahm eine Hand aus der Tasche und rieb sich müde die Stirn. »So begeistert, wie du seit Wochen Feuerwehrmann spielst, könnte man denken, dass du die Brände selbst legst.«

Tamme blieb die Spucke weg. Düwel ook! Glaubte Jan etwa wirklich, dass er der Feuerteufel …?

Jans Lachen unterbrach den Gedanken. »Keine Angst! Ich verdächtige dich nicht. Inka würde mir die Eingeweide rausreißen, wenn ich das tun würde.«

Inka war Tammes Lebensgefährtin und gleichzeitig auch die beste Freundin von Laura.

Weil Jans Spruch ihn geärgert hatte, beschloss Tamme zurückzuschießen. »Im Gegensatz zu dir bin ick avver nich nur passives Mitglied bei der Feuerwehr!«

»Stimmt«, mischte sich Knudsen ein. »Bringt aber auch anners nix, weil Jan sowieso immer arbeiten muss, wenn es irgendwo brennt.«

»Nu!«, brummelte Tamme. Irgendwie hatte Knudsen ja recht. Bei einem Brand kam automatisch die Polizei, und da Jan der einzige Polizist auf der Insel war, hatte er dementsprechend keine Zeit, bei den Löscharbeiten zu helfen. Tamme schenkte Jan ein knappes Grinsen, das allerdings reichlich schief geriet.

Der Gedanke, dass Jan ihn wirklich verdächtigte, der Feuerteufel zu sein, war ganz schön beunruhigend.

*

Das Feuer wirkte so schön aus der Entfernung. Friedlich.

Warm.

Es war das genaue Gegenteil dessen, was tief in ihm drinnen los war.

Da war es kalt. So kalt, dass er seit Tagen zitterte.

Das Feuer half nicht gegen die Kälte, auch wenn es diesmal viel größer war als die anderen, die er zuvor gelegt hatte. Es half einfach nicht.

Er fror schon seit Tagen. Seit seine Welt zerbrochen war und er sie nicht wieder hatte zusammensetzen können.

*

Jan merkte, dass er Tamme mit seinem lässigen Spruch von dem Brandstifter getroffen hatte, und es tat ihm leid. Tamme war nicht verkehrt, er war nur manchmal so nervig nordfriesisch, dass Jan davon ganz kribbelig wurde.

Er beschloss, es wiedergutzumachen, indem er Tamme in das Gespräch mit einbezog. »Okay. Dann hau doch mal einen raus: Was denkst du, wer der Feuerteufel ist?« Sein Blick glitt dabei über die Gruppe von ungefähr zwei Dutzend Schaulustigen, die sich eingefunden hatten, um den Löscharbeiten zuzuschauen. Jan hatte nicht besonders viel Erfahrung mit Brandstiftung, aber er wusste, dass es Täter dieser Art oft zu dem Feuer hinzog, das sie gelegt hatten. Es war also durchaus möglich, dass sich sein Feuerteufel unter den Neugierigen befand.

»Nu.« Tamme überlegte ein paar Sekunden lang. »Bisher sah es ja man so aus, als hätten wir es mit ein paar Jugendlichen zu tun, aber das hier …« Er wies auf das brennende Bauernhaus. »… ist schon ’n büschen mehr, oder?«

»Vielleicht wollten ein paar Jugendliche hier auch nur ein bisschen kokeln, und es ist aus dem Ruder gelaufen«, überlegte Knudsen.

Jan nickte vor sich hin. Möglich war das natürlich, aber er bezweifelte es trotzdem. Er wollte gerade etwas Entsprechendes sagen, als ein schwarzer Mercedes in die Auffahrt zum Hof einbog und gleich darauf neben ihm hielt. Ein Mann sprang heraus, bei dessen Anblick Tamme ein leises »Ts!« ausstieß. Bevor irgendjemand etwas sagen konnte, stürzte der Mann schon auf Knudsen zu. »Warum steht ihr hier nur rum? Ihr müsst das Feuer löschen!«

Knudsen schob seine Brille ein Stück höher die Nase hinauf, und Jan registrierte amüsiert, dass er es mit dem Mittelfinger tat. Laura hätte jetzt vermutlich von einer Freud’schen Fehlleistung gesprochen, aber Jan war sich ziemlich sicher, dass der Wehrführer die Geste mit voller Absicht gemacht hatte. Der Mercedesfahrer war Ulf Brunke, der Eigentümer der Oldtimer in der Scheune. Jan kannte keinen einzigen Inselbewohner, der Brunke mochte – von Brunke selbst natürlich abgesehen. Der Mann war großspurig und arrogant.

Was er auch jetzt wieder bewies. »Tu was!«, brüllte er Knudsen an.

Der Brandmeister blieb ganz ruhig. »Du weißt so gut wie ich, dass man ein Reetdachhaus nicht löschen kann. Wir haben das Feuer unter Kontrolle, und du kannst sicher sein, dass deinen Babys nichts passiert.«

Brunke fuchtelte mit seinen Händen herum, öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu. Mit einem Ruck drehte er sich zu Jan. »Was stehen Sie hier einfach nur rum? Sie wissen doch bestimmt, dass Brandstifter sich ihr Werk gern anschauen! Warum nehmen Sie sich nicht die Gaffer vor und finden endlich den Kerl, der seit Tagen …«

»Jan weiß schon, was er tut!«, fiel Tamme Brunke hitzig ins Wort, und es rührte Jan, dass er ihn verteidigen wollte.

»Lass gut sein, Tamme«, beschwichtigte er seinen Möchtegernassistenten. Und dann wandte er sich mit einem Lächeln an Brunke. »Sie haben natürlich völlig recht, Herr Brunke«, sagte er honigsüß.

Der Immobilienbesitzer ging ihm tatsächlich auf den Leim. Zufrieden meinte er: »Na also! Geht doch.«

Jan tat, als habe er das nicht gehört. »Wenn ich mich recht entsinne, dann gehörte der Traktor, der neulich in Brand gesetzt wurde, einem Ihrer Lohnunternehmer, oder?«

»Ja. Umso schlimmer …«

»Und jetzt sind Sie hier, während das Gebäude noch brennt.«

Ganz langsam ging Brunke auf, worauf Jan hinauswollte. Seine Augen wurden so groß, dass man rings um die Iris das Weiße sehen konnte. »Sie meinen aber nicht …«

Erneut fiel Jan ihm ins Wort, diesmal mit diebischem Vergnügen. »Ich wüsste gern, wo Sie heute Abend waren, Herr Brunke.« Er wandte sich an Knudsen. »Wann genau seid ihr informiert worden?«

Auch der Wehrführer hatte begriffen, was Jan vorhatte. Er mühte sich redlich, nicht zu feixen, als er die Uhrzeit nannte. »Ungefähr zehn nach neun.« Und er lieferte die außerdem noch benötigte Information gleich mit. »Aber wenn du mich fragst, dann wurde das Feuer mindestens eine Stunde vorher gelegt, jedenfalls so, wie es sich uns dargestellt hat, als wir hier angerückt sind.«

Jan fasste Brunke fest ins Auge. »Gut. Wo also waren Sie gegen acht heute Abend, Herr Brunke?«

»Das ist doch … Sie verdächtigen mich, den Brand … Also wirklich …« Die Sätze kamen abgehackt und kurzatmig aus Brunkes Mund. Jan glaubte, an seiner Schläfe eine Ader pochen zu sehen. Gleich würde Brunke vor Empörung einen Schlaganfall erleiden.

»Ich würde vorschlagen«, sagte Jan überaus liebenswürdig, »Sie lassen mich jetzt meine Arbeit machen.« Er ließ Brunke stehen und wandte sich den Schaulustigen zu, deren Personalien er aufnehmen wollte. Bevor er jedoch damit begann, wandte er sich noch einmal an den Wehrführer. »Jens-Uwe, kann ich mir deinen Feuerwehrmann kurz ausleihen?«

Knudsen nickte. »Klar.«

»Gut.« Jan winkte Tamme heran, wartete, bis der fertig war mit Grienen, und befahl ihm: »Sorg dafür, dass keiner von denen da unten sich heimlich aus dem Staub macht, ja?«

Tamme stand regelrecht stramm vor ihm. »Wird erledigt, Herr Kommissar!«

Jan war gerade fertig geworden, die Personalien der Gaffer aufzunehmen, als Brunkes Selbstsicherheit zurückkehrte. Mit langen Schritten kam der Mann auf ihn zugestapft, und es war deutlich zu sehen, dass ihm ein ganz neuer, beunruhigender Gedanke gekommen war.

Mit einer weit ausholenden Armbewegung deutete er auf die Scheune mit seinen wertvollen Schätzen. »Vielleicht geht es bei den ganzen Bränden ja um einen Anschlag auf mich! Jeder auf der Insel weiß, dass ich hier meine Oldtimer verwahre …«

Nicht jeder , dachte Jan. Er musste sich beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen, weil der Immobilientycoon von Pellworm sich mal wieder für den Nabel der Welt hielt.

»Vielleicht ist das alles ja von Anfang an der Plan gewesen!«, ereiferte Brunke sich. »Der Feuerteufel hat erst kleinere Brände gelegt, damit es so aussieht, als hätten Jugendliche Dummheiten gemacht. Aber es ging von Anfang an um mich. Man will mir schaden, man …«

»Stopp!« Endlich gelang es Jan, seinen Redefluss zu unterbrechen. Brunke verstummte. Jan zwang sich zu einem beruhigenden Lächeln. Der Slogan Die Polizei, dein Freund und Helfer galt auch gegenüber Typen wie Ulf Brunke. »Wir wissen im Moment noch nicht genug darüber, wie der Brand entstanden ist, aber da, wie Sie sagen, offenbar jeder auf der Insel von Ihren Oldtimern in dieser Scheune wusste, hätte der Brandstifter vermutlich wohl eher die Scheune angesteckt, wenn er es auf Sie abgesehen hätte, oder meinen Sie nicht?«

Brunke glotzte ihn an, als würde ihm plötzlich Rauch aus den Ohren kommen. »Das ist doch Haarspalterei …« Er schüttelte den Kopf über diesen offenbar unfassbar dummen Einwand. »Wer sagt denn, dass der Brandstifter so helle ist wie Sie und ich?« Sein Blick glitt über Jans Schulter hinweg zu den Feuerwehrleuten, und Jan bemerkte, wem seine Aufmerksamkeit galt.

»Sagen Sie nicht, Sie verdächtigen Tamme der Brandstiftung?«, entfuhr es ihm.

Tamme, der seinen Namen gehört hatte, blickte zu ihnen herüber.

»Warum nicht?«, entgegnete Brunke. »Immerhin hat er mich erst kürzlich angegriffen und verprügelt! Er hat es auf mich abgesehen, Herr Benden! Der Mann ist gemeingefährlich, das habe ich Ihnen schon damals gesagt, er …«

»Stopp!«, unterbrach Jan ihn ein weiteres Mal. »Wenn ich mich richtig erinnere, dann hat Tamme Ihnen eins auf die Nase gegeben, ja. Aber meine Definition von verprügeln ist dann doch noch eine andere, Herr Brunke. Zumal Sie meiner Erinnerung nach bei der Sache damals fröhlich mitgemischt haben.« Er musste sich ein Grinsen verkneifen, als er daran dachte, wie die beiden Streithähne im September in der Schwarzen 8 aufeinander losgegangen waren. Seine Belustigung verging allerdings rasch, als er an seine eigene, eher unrühmliche Rolle in dieser Szene dachte. Er kratzte sich an der Wange. »Gut. Ich frage Sie noch mal: Was lässt Sie vermuten, der Brandstifter könnte es auf Sie abgesehen haben?« Er wusste, dass er sich auf eine längere, weinerliche Litanei gefasst machen konnte.

Und er täuschte sich nicht.

Geschlagene zwanzig Minuten später stand er immer noch da, fror und lauschte den erregten Ausführungen Brunkes über all die Menschen, die ihm seiner Meinung nach Böses wollten. Er war regelrecht erleichtert, als er Knudsen rufen hörte.

»Jan! Das hier solltest du dir unbedingt ansehen!«

»Sag nicht, du hast da drinnen eine Leiche gefunden!«, rief Jan zurück. Er blickte auf die angesengten Ziegel. Der Putz war vom Löschwasser durchtränkt und der Boden mit Batzen heruntergekommenen Reets bedeckt, die aussahen wie riesige Ladungen in Unordnung geratener Zahnstocher. Langsam wandte er den Kopf Tamme zu, der bei seiner nicht ernst gemeinten Frage zusammengezuckt war und nun einem Bären ähnelte, dem man einen Honigtopf vor die Nase hielt.

Auch der Feuerwehrmann, der bei Jans Ankunft direkt neben Tamme gestanden und gelöscht hatte, schaute verblüfft. Mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Schock starrte er erst die Brandruine und dann ihn an.

Jan winkte ab. »Das war ein Scherz, Mann!« Er hatte im vergangenen September gerade seinen Job auf der Insel angetreten, als ihm gleich die erste Leiche vor die Füße gefallen war. Seitdem wurde auf der Insel genau darüber gelästert, und Knudsen machte da keine Ausnahme. Dementsprechend sicher war Jan, dass er hier gerade gehörig verschaukelt werden sollte.

Zwei, drei Sekunden lang blieb der Wehrführer still. »Komm einfach her!«, schrie er dann mit zittriger Stimme.

Das allerdings klang nicht gut. Jan rann eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Er ließ sich eine Taschenlampe geben und umrundete das Gehöft, um auf diese Weise zu Knudsen zu stoßen. Eine Feuerwehrfrau riet ihm, ein wenig mehr Abstand zum Gebäude zu halten. »Vorsichtig!« Sie deutete auf einen schräg stehenden Balken vom Fachwerk. »Der hier ist nicht mehr ganz sicher.«

Jan bedankte sich bei ihr und ging auf Abstand zu dem Gebäude. Ein knirschendes Geräusch und ein Schnaufen direkt hinter ihm zeigten, dass ihm jemand auf den Fersen war. Tamme.

Der Nordfriese grinste breit.

Schön, dass wenigstens einer von uns Spaß hat , dachte Jan. Durch die zur Hälfte eingestürzten Mauern warf er einen Blick in einen verwüsteten Raum, der offenbar früher einmal eine Wohnstube gewesen war. Eine in der kalten und windigen Nacht fast angenehme Wärme strahlte von den verbrannten Mauern und Balken ab, eine alte Couch stand inmitten der Trümmer und rauchte und kokelte vor sich hin, und eine antike Anrichte war von den Flammen sonderbarerweise überhaupt nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Sogar die Zierteller darin standen noch aufrecht da, was in Jans Augen surreal aussah. Mehrere Lehmwände hatten sich durch das Löschwasser halb aufgelöst. In der schmierigen Masse machten Jans Stiefel schmatzende Geräusche.

Knudsen stand auf der Rückseite des Hauses, auch er starrte in die Trümmer. Direkt vor ihm befand sich die Holzkonstruktion einer Wand. Der Lehm zwischen den Balken war durch das Löschwasser aufgeweicht und hatte sich zu einem Klumpen verformt, der im Licht von Jans Taschenlampe unheimlich aussah. Knudsen jedoch starrte auf etwas, das sich dahinter befand. Jan musste einen weiteren Balken und einen ganzen Haufen heruntergekommenes Reet umrunden, um zu erkennen, was es war.

Es war der bleiche, von violetten Totenflecken überzogene Arm eines Mannes, der unter dem Reethaufen hervorragte.

Tammes Gesicht erstarrte. »Düwel ook!«, murmelte er. Er nahm seinen Feuerwehrhelm ab und rieb sich die Stirn. »De wur mit Secherheit afmurkst.«

»Schon wieder ein Mord auf der Insel!«, sagte Knudsen trocken zu Jan. »Also wenn du mich fragst, dann muss das irgendwie an dir liegen.« Er blickte auf den Reethaufen und den Männerarm.

Jan, der sich niedergekniet hatte, um sich die Angelegenheit genauer anzusehen, murmelte ein nur halb verständliches »Witzbold!«.

Knudsen grinste. »Ich mein ja nur!«

Jan ignorierte den Spott. Er musste nicht nach dem Puls tasten, um sicher zu sein, dass der Mann unter dem Reet tot war. Die weiße Haut und die Totenflecken auf der Unterseite des Armes sprachen eine ebenso deutliche Sprache wie die Tatsache, dass mindestens eine Tonne brennendes Material auf dem Körper gelandet war. Jan hatte eine vage Vorstellung davon, wie der Leichnam darunter aussah. Der Arm musste als Einziges einigermaßen unversehrt geblieben sein. Der Tote lag so, dass die Handfläche nach oben wies. Die Finger waren gekrümmt, und die Fingernägel hatten die Farbe von reifen Auberginen. Am Ringfinger steckte ein goldener Ring, der in all der Asche glänzte, als sei das hier die Inszenierung eines epischen Fantasyfilmes.

Tamme stand ganz aufrecht da und versuchte vergeblich, sich einen professionellen Anstrich zu geben. Sein Gesicht allerdings hatte einen grünlichen Ton angenommen.

Einem Teil von Jan tat er leid. Der andere Teil dachte: Selbst schuld! Was taperst du auch hinter mir her? Er erhob sich wieder. »Wir wissen noch nicht, ob der Mann ermordet wurde.«

Wie erwartet nickte Tamme energisch. »Doch. Wissen wir.«

»Ach?«, fragte Jan. »Und woher?«

»Na, das sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass der einge…«

Jan unterbrach Tamme mit erhobenem Zeigefinger. Dann nahm er den Schlüssel des Streifenwagens aus der Jackentasche und reichte ihn dem Nordfriesen. »Hol mal den Einsatzkoffer mit der Kamera aus dem Wagen. Du kennst das ja noch vom letzten Mal.«

»Avver kloar!« Tamme machte auf dem Absatz kehrt und stolperte eilig davon. Jan war sich nicht ganz sicher, ob er sich freute, dass er wieder einmal Kriminalassistent spielen durfte, oder ob er einfach froh war, dem Anblick der Leiche zu entkommen. Vermutlich von beidem etwas, dachte er. Er warf einen Blick auf die Uhr. Inzwischen war es fast Mitternacht. Er zog sein Handy aus der Hosentasche, stimmte sich mit der Leitstelle ab und wählte dann die Nummer des Kriminaldauerdienstes in Flensburg.

Die Kollegin am anderen Ende hatte eine sehr helle Stimme, und automatisch fragte Jan sich, wie alt sie war. Er berichtete ihr von dem Brand des leerstehenden Bauernhauses und dem Leichenfund. Die Kollegin versprach, dafür zu sorgen, dass gleich morgen früh mit der ersten Fähre ein Team der Kripo auf die Insel kommen würde. Jan bedankte sich bei ihr. Er hatte gerade aufgelegt, als Tamme mit dem Ermittlungskoffer in der Hand zurückkehrte. Auch er hatte sein Handy am Ohr, und während er Jan den Koffer reichte, verabschiedete er sich mit einem knappen »Jo. Bis denn«.

»Wer war das?«, fragte Jan.

Tamme schaute ihn an, als sei das die dümmste Frage der Welt. »Na, der Doc.«

Jan runzelte die Stirn. »Welcher Doc?«

»Dr. Carstensen.«

»Aha.« Jan war nur allzu vertraut mit Tammes typisch nordfriesischer Angewohnheit, umso wortkarger zu werden, je wichtiger die Informationen waren, die man von ihm haben wollte. Er beugte sich zu seinem Koffer hinunter und nahm eine Rolle Absperrband heraus. »Und?«, hakte er nach, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte.

Tamme kratzte sich am Kinn. »Na, ich dachte mir, dann musst du den nicht anrufen. Wusste ich doch noch vom letzten Mal, dass der als Erstes kommen und die Leichenbekiekung machen muss.«

»Leichenbekiekung ?« Jan musste ein Schmunzeln unterdrücken. »Du meinst die Leichenschau!«

»Sach ich ja!«

»Nur dass der Doktor heute Nacht noch nicht allzu viel anzukieken haben wird.« Jan deutete erst auf den Arm, dann auf das Reet.

Tamme zupfte einen Stängel aus dem Haufen und betrachtete ihn mit schief gelegtem Kopf. »Du willst sagen, dass der Schiet erst weggeräumt werden darf, wenn deine Kollegen vom Festland gekommen sind, oder?«

Jan nickte. »Exakt. Der Brandort ist von dieser Sekunde an beschlagnahmt.«

Tamme warf den Stängel fort. »Der Arme«, konstatierte er. Und als ihm klar wurde, dass Jan nicht genau wusste, ob er von dem Arzt oder dem Toten sprach, ergänzte er: »Hier jetzt so offen die ganze Nacht rumzuliegen …«

Jan betrachtete die dunklen Verwesungsflecken auf dem Arm. »Ich glaube nicht, dass ihn das noch sonderlich stört.«

*

Während die Feuerwehrleute ihre Schläuche einrollten und Knudsen einteilte, wer die Nacht über den Brandort bewachen sollte, sah Tamme zu, wie Jan das gesamte Gebäude mit seinem Flatterband absperrte. Das Band reichte nicht, um es einmal ganz um das Haus zu winden, und dementsprechend ratlos stand Jan mit dem Ende der Rolle in der Hand da. Es fehlten nur knapp anderthalb Meter, aber die fehlten eben. Wie gut, dass er ihn hatte, dachte Tamme. Ohne ihn würde Jan manchmal wirklich auf dem Schlauch stehen.

»Tööv mol«, rief er, und weil Jan ja noch immer nicht so gut Platt konnte, wiederholte er auf Hochdeutsch: »Wart mal!« Er war mit dem eigenen Wagen – seinem guten alten VW T1 namens Fiete – zum Brandort gekommen, und das erwies sich jetzt als Glücksfall. Einen Augenblick lang kramte er zwischen Fietes Sitzen herum, und als er zu Jan zurückkehrte, hielt er stolz ein kleines Bündel in der Hand.

Jan blickte skeptisch drein. »Was soll denn das werden?«

»Na. Der Rest von deiner Tatortabsperrung!« Tamme entwirrte das Bündel, und unter Jans staunendem Blick knotete er eine alte Wäscheleine an die beiden zu kurzen Enden des Flatterbandes.

Jan fiel beinahe die Kinnlade runter. »Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?«

Tamme betrachtete zufrieden sein Werk. Weil die Wäscheleine allein nicht allzu respekteinflößend wirkte, hatte er einen alten Putzlappen aus dem Wagen daran festgeknotet, der jetzt im kalten Nachtwind flatterte. Mit einem Kugelschreiber hatte er Polizeiabsperrung darauf geschrieben, genau wie das gehörte. Schließlich stand das auf dem Flatterband ja auch.

Dass der Putzlappen eine von Tammes alten Unterbuxen war, war ja wohl kaum ein Grund, so fassungslos zu gucken. Und schon gar nicht musste man in so blödes Gelächter ausbrechen, wie es Knudsen und seine Leute jetzt taten.

»Wenn das so weitergeht«, prustete Knudsen an Jan gewandt, »dann ist von deiner polizeilichen Autorität bald nicht mehr allzu viel übrig.«

Jan sah aus, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen. Dann schoss er einen Blick auf Tamme ab, der ihn beinahe an der Kühlerhaube des Tanklöschfahrzeugs festgenagelt hätte.

Tamme zuckte mit den Schultern. Was hatten die nur? Da machte er nichts weiter als die Hälfte von Jans Job, und alle schienen sich köstlich darüber zu amüsieren. Zu seiner Erleichterung fuhr in diesem Moment Dr. Carstensen unten an der Warft vor.

*

Der Inselarzt war ein warmherziger, immer zu einem Schwatz aufgelegter Mann in den Sechzigern. Mit vollem Namen hieß er Archibald Carl Carstensen, aber niemand nannte ihn Archibald. Nur Jan hatte das zu Anfang ein paarmal getan, bis er gemerkt hatte, dass Carstensen es hasste. Jetzt empfing er den Arzt an der Absperrung und begrüßte ihn mit Handschlag. Carstensens Blick fiel auf Tammes Bömper an der Tatortabsperrung, und er verschluckte sich fast an seiner eigenen Spucke. Nachdem er ausgiebig gehustet hatte, meinte er grinsend: »Schick!«

Tamme schien immer noch nicht verstanden zu haben, warum seine Konstruktion alle so erheiterte. Jan schoss einen verdrießlichen Blick auf ihn ab. »Wenn diese Buxe nicht in zehn Sekunden verschwunden ist«, knurrte er, »dann verdonnere ich dich die nächsten zwölf Monate zum Streifenwagenputzen.«

»Mit der Buxe?«, grummelte Tamme, machte sich dann aber missmutig daran, sie von der Leine abzuknoten.

Unterdessen wandte sich Carstensen an Jan. »Man könnte meinen, du hättest die Kriminalstatistik aus Nordrhein-Westfalen hierher mitgebracht. Zwei Morde in nicht mal sechs Monaten! Junge, Junge.«

»Wir wissen nicht, ob wir es mit Mord zu tun haben«, erklärte Jan seufzend auch ihm. »Unser lieber Tamme ist mal wieder ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen, und diesmal bist du der Leidtragende. Es bestand nämlich überhaupt keine Veranlassung, dich um diese Zeit noch hierherzurufen.« Um zu demonstrieren, was er meinte, führte er den Arzt zu der Leiche. Knudsen hatte mittlerweile Befehl gegeben, einen Scheinwerfer aufzustellen, ihn an das Notstromaggregat auf dem Löschfahrzeug anzuschließen und auf die Szenerie zu richten.

Beinahe eine Minute lang stand Carstensen regungslos da und blickte auf den Arm nieder.

»Irgendeine Idee, wie lange der hier schon liegt?«, fragte Jan.

»Dazu müsste ich ihn einmal kurz abtasten«, sagte Carstensen.

Jan überlegte. Das Feuer hatte sämtliche Spuren ohnehin vernichtet, also konnte es vermutlich nicht allzu viel Schaden anrichten. Trotzdem hatte er ein mulmiges Gefühl, als er nickte. »Mach!«

Carstensen stellte seine Arzttasche neben sich auf den Boden, öffnete sie und entnahm ihr ein Paar Einweghandschuhe, die er überzog, und eine lange Pinzette. Er griff sie an den Zangen und drückte sie mit dem Griff gegen die violett verfärbte Haut an der Unterseite des Armes. Ein kaum sichtbarer weißer Fleck entstand, verschwand aber innerhalb einer Sekunde sofort wieder.

»Totenflecken entstehen ungefähr zwanzig Minuten nachdem der Tod eingetreten ist«, erklärte Carstensen. »Bis zu sechs Stunden nach dem Tod verschwinden sie und tauchen an anderer Stelle wieder auf, wenn der Tote bewegt wird. Ungefähr sechsunddreißig Stunden lang lassen sich diese Flecken mit dem Finger wegdrücken, danach nur noch durch äußerst starken Druck wie zum Beispiel hiermit.« Er hielt die Pinzette hoch.

»Also ist unser Mann hier seit mindestens sechsunddreißig Stunden tot«, wiederholte Jan.

Carstensen nickte. »Aber nagel mich nicht drauf fest. Ich habe keine Ahnung, was die Hitze des Feuers in einer Leiche anstellt, darum würde ich vorsichtig formulieren und sagen, dass der Mann hier auf jeden Fall länger als einen Tag tot ist.«

»Danke«, sagte Jan. Wie lange der Tote hier gelegen hatte, würde die Rechtsmedizin in Kiel rausfinden. Und hoffentlich würde sie den Toten auch identifizieren, sodass sich Ermittlungsansätze für die Kollegen von der Kripo ergaben. Jan sah zu, wie sich Carstensen über den Arm beugte und den Kopf so dicht über die Erde brachte, als wolle er die Oberseite des Ringes betrachten. Durch eine Ungeschicklichkeit von ihm geriet der Reethaufen in Bewegung und fiel mit einem leisen Knistern ein Stück in sich zusammen.

Carstensen jedoch schien es nicht einmal zu bemerken. »Was zum …?«, murmelte er, und ohne Jan erneut um Erlaubnis zu bitten, packte er das Handgelenk des Toten und hob die Hand etwas an.

Auch Tamme riss erschrocken die Augen auf. »Ach du …«, murmelte er.

»Was habt ihr?«, fragte Jan mit einem ziehenden Gefühl im Magen.

»De kenn ick!«, sagte Tamme.

Carstensen ließ die Hand los und erhob sich mit einem Ächzen. Er war blass.

»Du auch?«, fragte Jan ihn.

Der Arzt nickte. »Der Ring.« Er deutete auf die Hand, die wieder mit dem Rücken nach unten auf dem Boden lag. Die Ringschiene auf der Innenseite des Fingers bot Jan keinen Hinweis darauf, was der Arzt meinte, also bat er ihn, die Hand noch einmal anzuheben. Der Tote trug einen Siegelring mit einem dicken schwarzen Stein, in den zwei verschlungene Buchstaben eingraviert waren:

A & S

Jan knirschte mit den Zähnen, auch er hatte diesen Ring schon einmal gesehen. Er gehörte einem Inselbewohner.

Carstensens Kehlkopf ruckte heftig. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist das hier Sönke Lürsen.«

»Sönke wohnt am Kaydeich«, erklärte der Inselarzt. Jan stand mit ihm und Tamme am Fuß der Warft. Durch das Licht des Feuerwehrscheinwerfers, das in langen, grellen Lanzen durch die geborstenen Wände stach, wirkte das Haus wie ein Ufo, das aus Versehen in der Marsch gelandet war. Der Wind hatte in der letzten halben Stunde noch einmal an Intensität zugenommen. Das Absperrband flatterte hörbar.

»Hat er Familie?«, fragte Jan. Er kannte Sönke Lürsen von einem gemeinsamen Bootsausflug mit den Gebrüdern Hellmann, auf dem sie sich gegenseitig das Du angeboten hatten. Besonders viel wusste er über ihn allerdings nicht.

»Elli«, sagte Tamme. »So heißt seine Frau.«

Wenn ein Opfer Familie hatte, war es immer doppelt schlimm, dachte Jan.

Tamme überlegte kurz. »Sie ist zugezogen, wenn ich mich nicht irre.«

Zugezogener oder alteingesessener Inselbewohner? Das war die wichtigste Information, die es über jemanden auf der Insel zu sagen gab. Zugezogene waren meist ehemalige Urlauber, die sich hier irgendwann ein Häuschen gekauft hatten – oder solche, die während eines Aufenthalts auf der Insel die große Liebe gefunden hatten. Jan und Laura selbst waren natürlich auch Zugezogene, weshalb man sie immer noch kritisch beäugte. Die Pellwormer hatten schon viele Menschen auf die Insel kommen und wieder gehen sehen, weil sich das Leben auf einer Nordseeinsel in der Realität eben doch anders darstellte, als viele dachten. Ein alter Pellwormer hatte einmal zu Jan gesagt, dass man erst als Ur-Pellwormer galt, wenn die Familie bereits seit etlichen Generationen auf der Insel lebte. »In diesem Sinne sind wir fast alle Zugezogene«, hatte er gesagt.

»Kinder?«, fragte Jan.

»Einen Sohn«, sagte Tamme.

Carstensen bestätigte das. »Tilmann. Müsste so um die sechzehn sein, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt. Ein sonderbarer Junge.«

»Warum sonderbar?«, fragte Jan.

»Er leidet an einer Art Mutismus, deren Ursache unklar ist.«

»Mutismus«, wiederholte Jan.

»Ja. Er kann nicht mit Fremden reden. Selektiven Mutismus nennt man das. Wenn er mit seiner Mutter oder Sönke zusammen ist, hat er keine Probleme, aber kommt jemand anderes dazu, verstummt er total.«

»Behandelst du ihn?«

»Nein. Elli geht mit ihm zu einem Spezialisten in Husum. Genau genommen ist Tilmann übrigens nur Sönkes Stiefsohn, Elli hat ihn mit in die Ehe gebracht. Sie war bereits einmal verheiratet.«

»Wie heißt Tilmann mit Nachnamen?«

»Auch Lürsen. Sönke hat ihn adoptiert, und wenn ich richtig informiert bin, sind die beiden sehr eng miteinander.«

Tilmann Lürsen , dachte Jan. In seinem Hinterkopf klingelte etwas. Er hatte erst kürzlich einen Tilmann Lürsen verwarnt, weil er ohne gültigen Führerschein mit einem aufgemotzten Mofa auf der Insel herumgefahren war. Vom Alter her kam das ungefähr hin, und der Junge neulich war auffällig maulfaul gewesen, sodass Jan vermutete, dass es sich um ein und dieselbe Person handelte.

»Sönke …« Kopfschüttelnd knetete Tamme immer noch seine Unterhose in den Händen. »Wer würde den wohl afmurksen wollen, der ist doch ein total Netter?«

Jan atmete durch. Noch wussten sie nicht einmal sicher, ob der Tote dort drinnen wirklich Sönke Lürsen war, auch wenn der Ring natürlich darauf hindeutete. Vor allem aber wussten sie nicht, was dem Mann passiert war. Er konnte genauso gut Opfer eines Unfalls geworden sein. Aus diesem Grund hielt Jan es für besser, seinen übereifrigen Möchtegernermittler erst mal wieder einzufangen. »Tamme?«

»Jo?«

»Muss ich dir noch mal erklären, dass du dich aus meinen Ermittlungen raushalten sollst?«

Tamme verzog das Gesicht zu einer ziemlich komisch aussehenden Grimasse. »Avver, du hest secht …« Ihm ging auf, dass er professioneller wirkte, wenn er nicht Platt sprach, darum wechselte er ins Hochdeutsche. »Du hast gesagt, ich soll den Koffer holen. Ich bin also doch dein Assistent …«

Jan hob eine Hand, aber Tamme redete einfach weiter. »Ich kann dir doch …«

»Tamme!«, unterbrach Jan ihn scharf.

Der hünenhafte Nordfriese klappte den Mund zu und blinzelte. »Jo?«

Jan war klar, dass es noch schwieriger als letztes Mal werden würde, Tamme vom Ermitteln abzuhalten, wobei er zugeben musste: Wenn Tamme in seinem letzten Fall nicht gewesen wäre …

Jan verscheuchte den Gedanken. Das war Vergangenheit. Aber als kleine Anerkennung für Tammes Hilfe damals beschloss Jan, ihm jetzt ein wenig entgegenzukommen. »Assistent ist okay«, sagte er und ignorierte die Befürchtung, dass er hier gerade einen Riesenfehler machte. »Aber du machst nur das, was ich sage, verstanden? Keine Extratouren diesmal!« Er zählte die Sekunden, die Tamme brauchte, um über seine Worte nachzudenken.

… fünf … sechs … sieben.

» Herrgott noch mal! Habe ich mich klar genug ausgedrückt, Tamme?«

»Is ja gut«, murmelte Tamme. »Hast du.«

Carstensen, der die letzten Minuten damit beschäftigt gewesen war, sein Grinsen unter Kontrolle zu halten und gleichzeitig eine Todesbescheinigung auszufüllen, reichte Jan ein DIN -A4-Blatt. Jan warf einen Blick auf die wenigen ausgefüllten Stellen darauf. An der Todesursache blieb sein Blick hängen. Ungeklärt stand dort.

Jan ließ das Blatt sinken. Sein Blick glitt über die Feuerwehrfahrzeuge, die sich zum Abzug bereit machten, und ihm ging auf, dass die arme Elli Lürsen mindestens drei Anrufe erhalten und auf diese Weise von der Leiche erfahren würde, noch bevor die Sonne aufging. Besser also, er fuhr zu ihr und informierte sie über den Leichenfund, bevor sensationslüsterne Inselbewohner es taten. Die Buschtrommeln auf dieser Insel funktionierten einfach zu zuverlässig.

*

Die Buschtrommeln auf der Insel funktionierten wie ein Uhrwerk, dachte Laura gegen halb zwölf. Nachdem Jan zu seinem Einsatz aufgebrochen war, hatte sie in einem Buch gelesen, bis er ihr eine Nachricht geschickt hatte: Der Deikehof brennt. Ich habe ein paar Schaulustige hier und muss Personalien aufnehmen. Kann dauern. Warte nicht auf mich! Also hatte sie sich schlafen gelegt, aber sie war nicht wirklich zur Ruhe gekommen. Da war immer noch diese sonderbare Nervosität, jenes Gefühl, dass etwas passieren würde. Als ihr Handy eine neu eingehende Nachricht ankündigte, schreckte sie aus einem unruhigen Halbschlaf hoch. Es gab nur zwei Menschen, deren Anrufe und Nachrichten zugestellt wurden, auch wenn Laura das Telefon auf Nachtmodus geschaltet hatte. Der eine war natürlich Jan, aber diese neue Nachricht stammte nicht von ihm. Sie stammte von Inka Folkert, Lauras bester Freundin, die ihre Mutter vor ein paar Wochen verloren hatte. Auch wenn Inka eine robuste Frau war, die mit beiden Beinen im Leben stand, hatte Laura das Gefühl, für ihre Freundin da sein zu müssen.

Heute Nacht jedoch ging es Inka nicht um ihre tote Mutter.

Hast du schon gehört, was passiert ist? , hatte sie geschrieben. Der Deikehof brennt.

Gähnend deaktivierte Laura den Nachtmodus. Warum schläfst du nicht? , schrieb sie zurück. Als Antwort auf die Frage schickte Inka nur ein Zwinker-Emoji. Sie war Bildhauerin und Malerin, Kategorien wie Tag oder Nacht galten für sie nur eingeschränkt. Darüber hinaus war ihr vor Kurzem aus Versehen eines ihrer überdimensionierten Kunstwerke auf den Fuß gefallen, wobei sie sich alle drei Mittelfußknochen gebrochen hatte. Und seitdem sorgte der Schmerz zuverlässig dafür, dass Inka zurzeit noch schlechter schlief als sonst. Dementsprechend ahnte Laura, dass noch etwas kommen würde.

Sie täuschte sich nicht. Inka schreibt , informierte sie das Telefon. Sie richtete den Blick aus dem Schlafzimmerfenster. Draußen war es stockfinster, und ein kräftiger Wind heulte um das Haus. Armer Jan! , dachte sie. In so einer Nacht da draußen rumzuturnen war nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung. Mit der flachen Hand strich sie über das Kopfkissen ihres Ehemannes, und der schwache Duft von seinem Duschgel stieg auf.

Kurz darauf ging Inkas Nachricht ein. Tamme ist nicht da . Er musste mit zu dem Einsatz. Und offenbar haben sie eine Leiche gefunden!!!!!!!

Laura zählte die Ausrufezeichen. Sieben Stück.

Weißt du das von Tamme? , schrieb sie.

Ja.

Laura schnaufte. Jeder auf der Insel wusste, dass Tamme Hansen davon überzeugt war, ein großer Mordermittler zu sein. Vor allem aber wusste jeder, dass er immer wieder Leichen sah, wo es gar keine gab. Laura hatte schon angefangen, Inka genau das zu schreiben, als eine Nachricht von Jan eintraf.

Leichenfund am Brandort . Mehr nachher. Ist niemand, den du kennst. KJ

Das KJ stand für »Kuss, Jan«.

Laura hob den Kopf und starrte auf den Kleiderschrank, dessen Tür einen Spalt breit offen stand. Der Ärmel einer Bluse lugte vorwitzig daraus hervor.

Niemand, den du kennst.

Sie war erleichtert.

Hallo???? , schrieb Inka. Bist du noch da?

Laura biss sich auf die Unterlippe. Natürlich wollte Inka von ihr erfahren, ob sie schon mehr wusste. Aber sie würde Jan nicht in den Rücken fallen und Informationen ausplaudern, die intern waren. Darum löschte Laura die Nachricht wieder, die sie schon angefangen hatte, und schrieb stattdessen nur: Tamme ist begeistert, oder?

Diesmal reagierte Inka mit Emojis, die Tränen lachten.

Laura zählte auch diese. Es waren fünf.

*

Sönke Lürsen wohnte mit seiner Frau und seinem Sohn in einem der kleinen Einfamilienhäuser am Kaydeich, die direkt an der leicht erhöhten Straße lagen und hinten raus einen Garten besaßen. Die Straßenbeleuchtung war um diese Zeit längst ausgeschaltet. Das war hier auf der Insel immer noch üblich, obwohl die Laternen erst kürzlich umgerüstet worden waren, weil Pellworm von der International Dark-Sky Association als Sternenpark anerkannt worden war, also als Region, in der wenig bis keine Lichtverschmutzung herrschte.

Als Jan durch die niedrige Gartenpforte trat, ging über der Haustür allerdings eine Lampe an. Ihr Schein fiel auf eine ganze Batterie Tontöpfe, die vermutlich im Sommer bunt bepflanzt waren, jetzt im Februar aber nur halb vertrocknete und vergammelte Stängel beinhalteten. Ein paar bemalte Steine lagen in der Fensterbank rechts neben der Haustür. Einer davon sah aus wie ein Marienkäfer. Das Klingelschild war mit einfachem Kugelschreiber beschriftet, dessen Farbe ganz leicht verlaufen war.

Jan warf einen Blick zu seinem Streifenwagen zurück und wappnete sich.

Das hier war mit Abstand der schlimmste Aspekt seiner Arbeit.

Bleib cool! , ermahnte er sich selbst. Wir wissen noch gar nicht, ob der Tote wirklich Sönke ist. Vielleicht macht er ja gleich auf und steht quicklebendig vor dir.

Er blies Luft durch die zusammengepressten Lippen. Sowohl Carstensen als auch Tamme hatten den Siegelring eindeutig als den von Sönke Lürsen identifiziert. Zögernd legte Jan den Finger auf die Klingel.

Der Glockenton, der durch das Haus hallte, kam ihm grausam laut vor. Ein kleinerer Hund schlug einmal kurz an, verstummte dann wieder.

Die Sekunden verstrichen, aber nichts rührte sich.

Es kostete Jan Überwindung, ein zweites Mal zu klingeln. Diesmal öffnete sich direkt über seinem Kopf ein Fenster. »Wer ist da?« Eine Frauenstimme.

»Frau Lürsen?«, sagte er. »Ich bin’s. Jan Benden.« Jeder auf der Insel kannte seinen Namen, es war nicht nötig, sich als Polizist vorzustellen.

»Jan?« Vibrierte Angst in der Stimme? Jan hätte es nicht sagen können, aber sicher hatte Elli Lürsen sofort begriffen, dass er mitten in der Nacht nicht als Privatperson bei ihr klingelte. Und noch etwas registrierte er: Sie duzte ihn. Er zuckte die Achseln. Zwar war Elli damals auf diesem Ausflug mit den Gebrüdern Hellmann dabei gewesen, aber anders als bei ihrem Mann konnte er sich bei ihr nicht daran erinnern, dass sie das Du vereinbart hatten.

Egal.

»Können wir kurz reden?«, bat er.

»Natürlich. Komm einfach rein. Ich bin sofort unten.« Das Fenster wurde einen Tick zu heftig zugeschlagen.

Jan legte die Hand auf die Türklinke und drückte sie herunter. Die Tür schwang widerstandslos auf. Er trat in eine Diele, die vollgestellt war mit Gummistiefeln, Turnschuhen und Halbschuhen. Eine Garderobe gab es nicht. Jacken, Mützen und Schals waren einfach in einem unordentlichen Haufen auf einem Korbstuhl drapiert. In einer Ecke lehnte eine Angelrute an der Wand. Es roch nach Hund, aber ein Körbchen stand nicht auf dem Flur.

»Du bleibst, Jacky«, sagte Frau Lürsen im Obergeschoss. Gleich darauf knarzte die Treppe, und eine Frau um die fünfzig kam barfuß und in einem hastig übergeworfenen Bademantel nach unten. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie Jan ins Gesicht. Er konnte die bange Frage in ihrer Miene lesen.

Er räusperte sich. Wie sollte er anfangen? Das übliche Ich fürchte, ich muss dir eine schlechte Nachricht überbringen taugte ja hier nicht so recht – jedenfalls noch nicht. Er hüstelte. »Es geht um deinen Mann.«

Ein Schatten flog über ihr Gesicht. »Sönke? Was ist mit ihm?« Sie überlegte. Dann fügte sie vorsichtig hinzu: »Ich fürchte, er ist nicht zu Hause.« Jan konnte beinahe zusehen, wie die Erkenntnis zu ihr durchsickerte, weswegen er hier war. Er grub die Fingernägel in seine Handflächen.

Okay. Mach es kurz und so schmerzlos wie nur möglich.

»Elli, wir haben eine Leiche gefunden, und es ist möglich, dass es dein Mann ist.«

Sie wurde kreidebleich, und sie brauchte fast eine Minute, bevor sie reagierte. Eine Minute, in der Jan die Gedanken hinter ihrer Stirn förmlich rotieren sah. Oben im Schlafzimmer winselte der Hund und kratzte an der Tür. Endlich schüttelte Elli energisch den Kopf. »Sönke? Unmöglich! Ich habe doch vorhin noch mit ihm telefoniert. Er …« Sie zögerte, und als sie weitersprach, wirkte sie eher verlegen als schockiert. »Er ist … na ja, wir haben einen kleinen Streit gehabt, und er ist aufs Festland gefahren. Hat sich dort ein Zimmer genommen, um sich über ein paar Dinge klar zu werden.« Die Sache war ihr sichtlich peinlich.

»Weißt du, wo er ist?«, fragte Jan.

»Nein. Nur dass er sich in irgendeiner kleinen Pension eingemietet hat.«

»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«

»Na, als er losgefahren ist. Das war, Moment … vergangenen Mittwoch.«

Mittwoch. Das war fünf Tage her, dachte Jan. So klein konnte der Streit also nicht gewesen sein, wenn Sönke danach fast eine Woche lang nicht nach Hause gekommen war – und seiner eigenen Frau nicht gesagt hatte, wohin er gefahren war.

Elli rieb sich den linken Nasenflügel, wo sie ein deutlich sichtbares Muttermal hatte. »Telefoniert habe ich aber mit ihm.«

»Wann war das?«

»Vor zwei Stunden oder so.«

Das war ein gutes Zeichen. Jan entspannte sich ein wenig. Wenn Elli wirklich vor zwei Stunden noch mit ihrem Mann gesprochen hatte, dann konnte der Tote unter dem verkohlten Reethaufen unmöglich Sönke sein.

»Können wir versuchen, ihn zu erreichen?«, fragte er.

»Natürlich! Warte, ich hole mein Handy.« Sie wirkte nun doch ein wenig beunruhigt. Als sie die Treppe nach oben eilte, um ihr Telefon zu holen, stolperte sie über eine Teppichkante und wäre beinahe gestürzt.

»Es ist alles gut, Schatz«, hörte Jan kurz darauf ihre Stimme von oben. »Geh ruhig wieder schlafen.« Aber derjenige, den sie angesprochen hatte, schien nicht auf sie zu hören, denn nun erschien das Gesicht eines jungen Mannes oben an der Treppe. Jan sah lange, strubbelige Haare und den Abdruck einer Bettlakenfalte auf einer Wange, die einen ersten, noch kindlich wirkenden Bartschatten aufwies. Tilmann. Schweigend blickte er Jan an, und sowohl sein Blick als auch seine ganze Haltung hatten etwas Starres, Unheimliches an sich. Er trug nur eine Unterhose und ein T-Shirt, das deutlich erkennen ließ, wie kräftig gebaut er war.

»Geh wieder ins Bett!«, befahl Elli. Tilmann jedoch reagierte nicht. Erst als seine Mutter ihn mit einem strengen »Tilmann!« ermahnte, wandte er sich ab und verschwand in seinem Zimmer. Die Tür fiel mit einem leisen Klicken hinter ihm ins Schloss.

Jan beschloss, Laura zu fragen, was genau Mutismus war, wurde aber von dem Gedanken abgelenkt, als Elli die Treppe wieder heruntergeeilt kam. Diesmal stieg sie über die lose Teppichkante hinweg. Ihre Zehennägel waren knallrot lackiert, bemerkte Jan. Sie hielt ihm das Telefon vor die Nase. Er griff reflexartig danach, aber da zog sie es wieder weg, und er kam sich ein bisschen dämlich vor. Sie rief ihre Anrufliste auf und tippte auf einen Eintrag. Während die Verbindung aufgebaut wurde, schaltete sie den Lautsprecher ein.

Jan lauschte dem typischen Geräusch des Freizeichens. In seiner Fantasie klingelte es jetzt irgendwo in den Trümmern des abgebrannten Hauses am Junkersmitteldeich.

Elli ließ es sechs Mal läuten, doch niemand nahm ab. Sieben Mal. Mit jedem neuen Klingeln wurde sie ein bisschen blasser. Nach dem achten endlich ging eine Mailbox ran. »Hallo. Ich kann gerade leider nicht ans Telefon. Hinterlasst einfach eine Nachricht, dann rufe ich zurück.« Jan erkannte die Stimme von dem Bootsausflug wieder. Sönke Lürsen sprach in einem weichen, hell klingenden Tonfall.

Elli ließ das Handy sinken. Sie schwankte. »Er schläft bestimmt. Er stellt das Handy immer auf lautlos, wenn er sich hinlegt. Darum geht er nicht ran, er …« Hilflos wanderte ihr Blick zu ihrem Sohn, der stumm wie ein Geist erneut am oberen Treppenabsatz aufgetaucht war und sich immer noch nicht darum scherte, dass er halb nackt war.

Mehrere Sekunden lang lastete die Stille schwer auf allen Anwesenden.

Jan knirschte mit den Zähnen. »Okay«, sagte er mit fester Stimme. »Der Tote, den wir gefunden haben, konnte bisher nicht identifiziert werden. Aber Dr. Carstensen und auch Tamme glauben, dass es sich um Sönke handelt. Darum bin ich hergekommen, damit du nicht mitten in der Nacht von irgendwelchen Leuten von der Sache erfahren musst. Aber wenn es stimmt, was du sagst, wenn du wirklich vor zwei Stunden noch mit Sönke telefoniert hast, dann handelt es sich bei der Leiche um jemand anderen.«

Mit jedem Satz, den er sprach, wurden Tilmanns Augen größer und größer. Es war deutlich zu erkennen, dass das Gesagte ihn zutiefst aufwühlte. Kein Wunder, dachte Jan. Und dann dachte er an das, was Carstensen ihm gesagt hatte: Wenn ich richtig informiert bin, sind die beiden sehr eng miteinander.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Elli, die ihn in diesem Moment fragte: »Wieso bist du dir da so sicher?«

»Weil der Mann, den wir gefunden haben, nachweislich länger tot ist als zwei Stunden.« Er hörte sich selbst reden und hatte ganz kurz den Eindruck, dass Laura sich über den sachlichen Tonfall lustig gemacht hätte, hinter dem er sich verschanzte. Aber sowohl Elli Lürsen als auch ihr Sohn taten ihm leid. Die Ungewissheit, die er den Menschen hier gerade zumutete, war schlimm. Vielleicht sogar schlimmer als das Wissen, dass Sönke aus irgendeinem Grund wirklich etwas zugestoßen war.

»Gut«, murmelte Elli. »Das ist gut.« Sie war immer noch bleich.

»Der Grund, warum Dr. Carstensen den Toten für deinen Mann hält …« Jan fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, dann nahm er sein Handy heraus und wischte durch die Fotos, die er zur Sicherung des Leichenfundortes gemacht hatte, nachdem Tamme seine absurde Unterhose abgenommen hatte. Ein paar dieser Fotos hatte er von der Polizeikamera für Ermittlungszwecke auf sein Handy gezogen. Bei einem davon, das in Nahaufnahme die Hand des Toten mit dem auffälligen Ring zeigte, hielt er kurz inne. Der Anblick der dunkel angelaufenen Finger erschien ihm nur schwer zumutbar, darum wischte er zum nächsten Bild. Darauf war nur noch der Ring zu sehen – leicht verschwommen zwar, weil er das Foto aus sehr kurzer Distanz aufgenommen hatte, aber es erfüllte seinen Zweck: Die Initialen darauf waren gut zu erkennen.

Jan drehte das Handy so, dass Elli das Bild betrachten konnte.

Wieder brauchte sie ziemlich lange, bevor sie reagierte. Wieder konnte Jan es in ihr arbeiten sehen. »Ja«, murmelte sie endlich. »Ja. Sönke hat so einen Ring.«

Während sie das Bild anstarrte, kam Tilmann die Treppe halb nach unten. Er bewegte sich vorsichtig, wie eine Katze, die dem Besucher nicht so recht traute. Eine Hand hatte er um das Treppengeländer gekrampft. Seine Lippen teilten sich, und Jan hatte den Eindruck, dass er etwas sagen wollte, aber dann entschied er sich doch dagegen und presste die Lippen fest aufeinander.

»Tilmann, ich glaube …«, begann Elli, doch er schüttelte in einer verblüffend zornigen Bewegung den Kopf. Erneut suchte er Jans Blick, aber diesmal hielt er den Augenkontakt nur kurz, bevor er auswich. Sein Mund öffnete sich, als wolle er etwas sagen, doch es kam kein Laut heraus. Dafür traten Tränen in seine Augen.

Elli hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut. Der Mann, den Jan gefunden hat, kann nicht dein Paps sein. Du musst dir keine Sorgen machen, Tilmann. Paps geht es gut.«

Tilmann nickte, aber er sah nicht überzeugt aus.

Entschuldigend schaute Elli Jan ins Gesicht. »Tilmann ist ein wenig verstört.«

Jan nickte. »Das ist wohl verständlich.«

Elli wählte noch einmal die Nummer ihres Mannes. Wieder ging nur die Mailbox ran. Diesmal sprach Elli ein paar kurze Sätze darauf und bat Sönke, sich dringend zu melden, sobald er die Nachricht abgehört haben würde. Als sie auflegte, hatte sie sich wieder vollständig gefangen. »Der Tote kann auf keinen Fall Sönke sein.«

Jan hoffte für sie, dass sie recht hatte. »Wenn Sönke anruft, gib mir bitte sofort Bescheid, ja?«

»Natürlich.« Sie zwängte sich an Jan vorbei und öffnete die Haustür.

Jan lächelte erst Tilmann und dann ihr zu. »Tut mir leid, wenn ich dich unnötig in Aufruhr versetzt habe.«

»Schon gut.« Sie zwang ihre Mundwinkel nach oben. »Gute Nacht!«

»Gute Nacht«, erwiderte Jan. Er wollte sich gerade abwenden und zu seinem Wagen gehen, als im Nachbarhaus Licht anging und ein Fenster geöffnet wurde.

»Ist was passiert, Elli?«, fragte eine sonore Männerstimme. »Was macht die Polizei bei dir?«

Jan konnte das Gesicht des Sprechers nicht sehen, denn eine Lampe in dessen Rücken verwandelte seine Gestalt in einen Schattenriss.

Elli blinzelte in das Licht. »Nein! Nichts! Es ist … schon gut!«

Doch der Nachbar ließ sich so leicht nicht abwimmeln. »Warte, ich komme runter!«

Es dauerte keine drei Sekunden, dann öffnete sich die Haustür des Nachbarhauses und ein schlanker weißhaariger Mann in den Sechzigern kam heraus. Er hatte sich offenbar eilig einen seidenen Morgenmantel über den Pyjama geworfen. Noch im Gehen verknotete er die Enden des Gürtels. »Also? Was ist passiert?«, fragte er mehr in Jans Richtung als in die von Elli.

Im ersten Moment sah Elli so aus, als wolle sie erneut abwiegeln, aber dann sackte sie ein Stück in sich zusammen. »Ach, Heinrich«, murmelte sie nur.

Der Mann fackelte nicht lange. Er zog sie an seine Brust und hielt sie fest. Über ihren Kopf hinweg stellte er sich Jan vor: »Heinrich Dorsen. Ich bin ein Nachbar und Freund der Familie.«

Jan nickte. »Gut, dass Sie da sind.«

Elli machte sich aus Dorsens Umarmung frei. Sie wirkte gleichfalls froh darüber, dass er da war, darum beschloss Jan, sich endgültig zu verabschieden. »Also dann«, sagte er und ging zu seinem Streifenwagen.

*

Er stand mitten in seinem Zimmer, und sein Gehirn setzte die Dinge zusammen, die der Polizist eben zu seiner Mutter gesagt hatte. Ein Toter war gefunden worden. Offenbar in dem Haus vom Deikehof.

Dem Haus, das er angesteckt hatte, weil er doch so furchtbar fror.

Und schlimmer noch: Der Polizist glaubte, dass der Tote sein Paps war.

Wimmernd warf er sich aufs Bett, packte sein Kopfkissen und presste es auf sein Gesicht. Der Geruch von Weichspüler stieg ihm in die Nase, im Gegensatz zu sonst allerdings tröstete er ihn heute nicht. So fest es ging, kniff er die Augen zusammen, aber die Bilder tanzten hinter seinen Lidern, und er wurde sie einfach nicht los.

Seine Mutter mit hochgeschobenem Rock, der fremde Mann zwischen ihren Schenkeln … Die Flammen, die hochschlugen, aber ihn nicht wärmen konnten … Das Schiff mit geblähten Segeln …

Er presste das Kissen fester auf sein Gesicht, doch es nutzte nichts. Da war nur eine einzige Frage, die wieder und wieder in ihm hallte.

Was hast du getan?

Was hast du getan?

Was?

*

Einen Moment lang blieb Jan hinter dem Steuer sitzen und rieb sich nachdenklich das Kinn, sodass seine Bartstoppeln leise knisterten. Es war mittlerweile nach ein Uhr. Er war noch nicht eine Minute im Bett gewesen, aber bevor er sich auf den Weg nach Hause machen konnte, musste er erst noch eine Sache überprüfen. Er startete den Wagen und fuhr zurück zum Deikehof.

Die Feuerwehr war inzwischen abgerückt – nur Fiete stand noch beim Haus auf der Warft. Tamme saß darin und hielt Brandwache. Jan parkte direkt neben ihm und stieg aus. »Alles paletti?«

»Kloar!«, brummelte Tamme.

»Sehr gut. Sag mal, hat bei der Leiche eben eventuell ein Handy geklingelt?« Es war ein Schuss ins Blaue, aber wenn Tamme die Anrufe von Elli gehört hatte, dann wäre das ein weiteres Indiz dafür, dass der Tote dort oben in der Ruine doch Sönke Lürsen war.

»Nö«, sagte Tamme jedoch.

»Sicher?«

»Jo.«

»Okay. Danke fürs Gespräch.« Jan rieb sich die müden Augen und gab sich für einen Moment lang seiner Erleichterung hin, bevor ihm bewusst wurde, dass es etliche Gründe dafür geben mochte, dass dort in der Ruine kein Handy geklingelt hatte. Sönkes Apparat konnte durch das Feuer irreparabel beschädigt sein. Oder der Akku war leer. Oder der Tote hatte sein Handy schlicht und ergreifend nicht dabeigehabt, als er gestorben war …

Vielleicht aber war der Tote wirklich nicht Sönke, und es gab eine plausible Erklärung dafür, dass er diesen Ring trug. Wie viele solcher Ringe mochten wohl existieren? Die Initialen A & S. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Männer unabhängig voneinander denselben Ring besaßen und einer davon zufällig ganz in der Nähe vom Wohnort des anderen tot in einer Brandruine aufgefunden wurde?

Jan gab sich einen gedanklichen Tritt in den Hintern. Heute Nacht kam er hier nicht weiter, und in wenigen Stunden würden sowieso die Kollegen von der Kripo eintreffen. Dann würde man den Reethaufen über dem Toten entfernen, und sie würden mehr wissen.

»Jan?«, sagte Tamme mitten in seine Gedanken hinein.

»Ja?«

»Ich hab nachgedacht.«

»Oha«, sagte Jan, fand das dann allerdings der Situation unangemessen. Tamme war nicht dumm, nur eben manchmal nervenaufreibend bedächtig. »Worüber?«, schob Jan also nach, so neutral, wie er es eben hinbekam.

Vor Eifer verfiel Tamme ins Plattdeutsche. »Ick wull di dat al vörhin seggen, avver du hest mi nich utsnacken laten. Hest du sehn, dat de Dode inmuert wer?«

Jan glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Eingemauert? Hast du eben gesagt, dass der Tote eingemauert war?«

Tamme nickte, und auf Hochdeutsch wiederholte er noch einmal: »Ich wollte dir das ja schon vorhin sagen, aber du hast mich nicht ausreden lassen.«

Jan schnaubte. Im ersten Moment wollte er Tamme dafür zurechtweisen, dass ihm schon wieder einmal die Fantasie durchging. Aber dann tauchte der Tote vor seinem geistigen Auge auf, und er zögerte. Konnte es sein, dass Tamme recht hatte? Noch einmal versuchte er, sich den Leichenfundort so genau wie möglich vor Augen zu rufen, und als das nichts brachte, umrundete er erneut die Brandruine. Langsam ließ er seinen Blick über die vom Löschwasser ramponierten Hauswände und die aufrecht stehende Ziegelmauer daneben gleiten. Es sah tatsächlich so aus, als habe der Tote sich vor dem Brand in einer Art Nische befunden, einer kleinen Kammer vielleicht, aber aus der Auffindesituation ging Jans Meinung nach nicht eindeutig hervor, dass diese Kammer wirklich zugemauert gewesen war. Dazu war der Fundort nach dem Feuer einfach viel zu unübersichtlich.

»Tamme, Tamme«, murmelte Jan. Er stapfte zu seinem Assistenten zurück. »Du könntest recht haben«, sagte er, »aber genau muss das der Erkennungsdienst feststellen. Es kann auch sein, dass …«

Aufgeregt fiel Tamme ihm ins Wort. »Dann ist ja alles kloar, oder?«

»Was ist klar?«

»Na, wer den afmurkst hat.«

»So? Na, jetzt bin ich aber gespannt, was dein kriminalistisch geschultes Gehirn ausgeheckt hat.« Jan machte sich auf einiges gefasst, und er wurde nicht enttäuscht.

»Na, der wurde von der Mafia ermordet!«

Ein trockenes Lachen explodierte in Jans Kehle, aber er schaffte es gerade noch, es als Husten zu tarnen.

»Denkst du nich?«, fragte Tamme und kratzte sich am Kopf. »Ich tippe auf Cosa Nostra.«

»Nein«, sagte Jan. »Denke ich nicht.« Er klopfte auf das Dach von Fiete und verabschiedete sich rasch. Besser, er suchte schleunigst das Weite, bevor Tamme auch noch die Yakuza und die Triaden ins Spiel brachte.

*

Tamme saß hinter Fietes Lenkrad und starrte durch die Windschutzscheibe auf die Trümmer des ausgebrannten Wohnhauses. Im schwachen Licht des Mondes konnte man nur erahnen, dass noch immer Rauch von den verkohlten Balken aufstieg. Der Geruch von kokelndem Holz und Reet lag in der Luft, und er hing auch in Tammes Kleidung. Sein Rücken juckte, er brauchte dringend eine Dusche. Er schubberte sich an der Lehne des Fahrersitzes, aber das Jucken wurde nicht besser. Also versuchte er, sich zu kratzen, doch die Stelle saß natürlich genau da, wo er weder von oben noch von unten hinkam. War ja klar! Er schubberte sich noch mal, heftiger diesmal, und dabei stieß er gegen die Thermoskanne mit Tee, die er in die Ritze zwischen Fahrer- und Beifahrerbank geklemmt hatte. Ein paar Tropfen spritzten heraus und landeten auf dem Leder vom Beifahrersitz. Mit dem Daumen wischte Tamme sie weg.

Seine Gedanken wanderten dabei zu Jan und seiner komischen Frage. War doch klar, dass das Handy des Toten nicht mehr klingeln konnte! Immerhin hatte die Leiche mitten im Feuer gelegen! Da konnte man doch drauf kommen, dass ein Handy die Hitze nicht überstanden hätte.

Kopfschüttelnd nahm Tamme einen Schluck Tee direkt aus der Kanne. Ein wohliger Schauder rann über seinen ganzen Körper. Eine Leiche im Feuer. Das war ’n büschen was anderes als ein toter Maler auf dem Deich. Das hier war krass. Und verstörend. Genau wie in dem Buch, das er gerade las. Er konnte nicht verhindern, dass er grinsen musste. Mit der flachen Hand schlug er sich gegen die Stirn: Da in der Ruine lag ein Mensch. Es war völlig unangemessen, dass er sich darüber freute.

Aber er konnte einfach nicht anders: Die Aussicht darauf, erneut mit Jan zusammen in einem Mordfall zu ermitteln, fühlte sich an wie Weihnachten und Ostern an einem Tag. Und dass Brunke in der Sache irgendwie eine Rolle spielte, war sozusagen das Sahnehäubchen. Brunke. De ole Gnadderkopp . Wie oft hatte der schon versucht, ihm seinen Fiete abzukaufen und ihn seiner Sammlung einzuverleiben? Aber daraus wurde nix! Selbst wenn Tamme mit dem Gedanken gespielt hätte, sich von Fiete zu trennen – was natürlich völlig undenkbar war –, hätte er ihn nie im Leben ausgerechnet an dieses Ekel Brunke verkauft.

Schade eigentlich, dass das Feuer die Angeberkarren des Kerls nicht verschlungen hatte.

Tamme seufzte tief und versuchte, eine bequemere Sitzposition einzunehmen. Das hier würde eine verflixt lange Nacht werden. Zu allem Überfluss begann jetzt auch die Stelle auf seinem Rücken wieder zu jucken.

»Verdori!«, fluchte er.

*

Obwohl Jan so leise wie nur möglich die Wohnung betrat, bemerkte Lilly ihn. Sie hob den Kopf vom Rand ihres Körbchens und klopfte zweimal schwach mit dem Schwanz auf den Boden – ihre Version von: Du kommst ganz schön spät, aber schön, dass du wieder da bist!

Er tätschelte ihr den Kopf, dann schlüpfte er leise ins Schlafzimmer und schlich, ohne Licht zu machen, zu seiner Seite des Bettes.

»Du riechst nach Rauch«, murmelte Laura.

Er hielt inne. »Ich wollte dich nicht wecken. Sorry.«

»Schon gut.« Sie setzte sich auf und knipste die Nachttischlampe an. Ihr schulterlanges blondes Haar war verwuschelt, und ihre Augen blinzelten verschlafen ins Licht. Der weite Ausschnitt ihres Schlafshirts war ihr über eine Schulter nach unten gerutscht. Sie sah zum Anbeißen sexy aus. »Inka hat mich sowieso nicht schlafen lassen«, fügte sie an, während Jan aus seiner Jeans schlüpfte.

Auf einem Bein balancierend, hakte er nach: »Inka?«

»Ja. Tamme hat sie angerufen und ihr erzählt, dass ihr eine Leiche gefunden habt. Ich glaube, sie wollte Genaueres von mir wissen.«

Jan legte die Jeans über den Stuhl neben seinem Bett. »Und da ruft sie dich mitten in der Nacht an?«

»Du kennst Inka.«

Das tat er tatsächlich. »Tag und Nacht – nichts als bürgerliche Kategorien?«, zitierte er einen von Inkas Lieblingssprüchen.

Laura lachte. »Genau! Und: Schlafen können wir, wenn wir tot sind.«

Auch das war ein typischer Inkaspruch. Lauras beste Freundin war völlig unkonventionell, was von ihrer Arbeit als freie Bildhauerin bis zu der Tatsache reichte, dass ausgerechnet der etwas behäbige Tamme ihr Lover war. Darüber, dass die scharfzüngige, kluge und leicht verrückte Inka und sein behäbiger Möchtegernassistent zusammen ein Bett teilten, wunderte sich Jan immer wieder.

Laura lehnte sich in die Kissen zurück. »Als du geschrieben hast, dass es eine Leiche gab, dachte ich, du kommst die Nacht gar nicht mehr.«

Jan zuckte mit den Schultern und zog sich den Pulli über den Kopf. Himmel, war er erschossen! In möglichst knappen Worten erzählte er Laura von dem Toten im Feuer und davon, dass sie erst noch rausfinden mussten, ob es wirklich Sönke Lürsen war.

»Sönke Lürsen.« Laura überlegte, ob sie den Namen kannte. Offenbar nicht, denn sie schüttelte den Kopf.

»Ich war mal zusammen mit ihm auf Norderoogsand«, erklärte Jan. »Aber ich kenne ihn auch nur flüchtig.«

»Wer bewacht den Leichenfundort?«, fragte Laura.

»Die Leiche liegt diesmal nicht unter freiem Himmel. Tamme hält Brandwache, und da ich den Leichenfundort schon detailliert abfotografiert und dokumentiert habe …«

»Tamme bewacht den Leichenfundort?«

»Den Brandort.«

Sie krauste die Nase. »Ich bin sicher, er rotiert vor Begeisterung.«

»Möglich.« Jan machte Anstalten, zu Laura ins Bett zu schlüpfen.

Sie wehrte ihn ab. »Du riechst nach Rauch!«, beschwerte sie sich ein zweites Mal.

Er seufzte theatralisch. »Duschen?«

»Duschen … und Zähne putzen!«

Sie schenkte ihm ein verführerisches Lächeln, das ihm bis in den Unterleib fuhr.

»Wenn ich dann in mein eigenes Bett darf«, sagte er.

»Darfst du. Und vielleicht darfst du ja auch noch ein bisschen mehr.«