XXIII

Der Tod ist jetzt überall. Auf den öffentlichen Plätzen mitten in den großen Städten, weit weg von den Städten; da, wo es voller Menschen ist, da, wo es gar keine Menschen gibt, hier.

Auf unseren kleinen Feldern, in unserem guten kleinen Land, wo man es nicht glaubte, wo man es nicht glauben konnte, so ruhig war alles hier; tja, und doch!

Auch hier, hier wie überall, mit schnellen oder nicht so schnellen Schritten, wie es ihm gerade passt, dem Tod, nicht wie es uns passt.

Man fragt ihn: «Wer bist du?» Man fragt nochmal: «Wer bist du?»

Man hat Zeit, ihn zu befragen; man hat sogar zu viel Zeit. Zeit, ihm die Frage zu stellen, sie ihm noch einmal zu stellen, und noch einmal; und keine Antwort.

Sehr oft und in sehr vielen Situationen, alle Zeit, die es braucht, und sogar mehr, als es braucht. Auge in Auge, er und ihr. Niemand außer ihm in der großen Stille, der Stille, die jedes Mal ein bisschen größer wird, wenn die Antwort ausbleibt.

Unter dem Himmel, zwischen vier Wänden. Zwischen vier Wänden, in diesem kleinen Zimmer; und darin passiert nichts, außer dass der Tod kommt, aber Gavillet ist allein, während er ihn kommen sieht.

Gavillet ist da, Gavillet horcht: Er hört nur ihn. Was er anschaut, ist Gavillet, der nicht länger Gavillet sein wird. Er betrachtet Gavillet im Spiegel; außer ihm gibt es nichts mehr zu sehen, wenn er sich anschaut und sich sieht. Schon gibt es keine Zeit und keinen Raum mehr. Nur diesen winzigen Raum des Zimmers und den noch kleineren Raum von sich selber. Alles ist verkümmert bis auf Gavillets eigene Kümmerlichkeit, die ungefähr einen Meter fünfundsechzig auf sechzig Zentimeter misst. Keine Zeugen außer ihm selber; er und er. Er, der sich selber zuhört, der sich selber sieht, und der andere, den man nicht sieht, der aber da ist. Ob er herantritt und näher zu seinem Abbild geht, ob er weit von ihm zurückweicht, es ist immer nur er selber. Er ist gerührt von sich. Wird abwechselnd angezogen und abgestoßen. Er beginnt, sich zu hassen, dann wieder liebt er sich. Er beschuldigt sich, bemitleidet sich; er flieht vor sich, er verfolgt sich selber. Ein kleiner Junge in der Zeit von damals: Und er macht ein Feuer, aber das Feuer geht aus; er kocht Kartoffeln unter der Asche, das schmeckt gut, aber sie sind schnell gegessen; er hat sie aufgegessen. Wohin er sich auch wendet, alles vergeht. Nirgendwo gibt es Zuflucht, weil sich alles verrückt. Man hatte in der Zeit gebaut; jetzt sieht man, dass es der Zerfall der Zeit selber ist, der alles zerfallen lässt. Da drüben lacht noch eine, sie sitzt mit einer Flasche Limonade unter den Platanen, hat schwarze Augen und Haare und ein weißes Musselinkleid, braune Haut, einen Gürtel aus roter Seide, einen nackten Hals – sie lachte wegen allem und über alles, was man ihr sagte; man sagte etwas, man sagte nichts, sie lachte; da waren die fünf Musiker oben auf der Holzbühne, geschmückt mit Tannenzweigen, Wappenschildern und Papierrosen: Die Musik hat wieder eingesetzt; er hat zu ihr gesagt: «Bist du dabei?» Sie hat gelacht, er hat ihr den Arm hingehalten, sie waren auf die Tanzfläche gestiegen; es gab eine Posaune, ein Kornett, zwei Bügelhörner und eine Klarinette; plötzlich waren seine Arme voll, er drückte die Arme zusammen – er will sie wieder zusammendrücken, sie sind leer.

Plötzlich ist er zurückgeworfen, worauf? Auf nichts, das heißt, auf sich. Er hat die Schultern bewegt, da sieht er die blauen Blumen auf der grauen Tapete, was ihn für einen kurzen Moment tröstet. Er redet sich gut zu. Er sagt sich: «Ganz ruhig! Das sind Halluzinationen, das ist die Hitze, wahrscheinlich habe ich Fieber, ich bin krank!» Er hat die Tür geöffnet, er hat gerufen. «Ich bin doch erst zweiunddreißig», hat er gesagt. Er ist aus dem Zimmer gegangen, er geht von Raum zu Raum, alle sind leer. Er ist zurückgekehrt. «Man hat doch nichts Böses getan, oder? Ich habe niemandem etwas zuleide getan, ich habe nie jemandem Unrecht getan, ich habe nie jemanden bestohlen, ich bin immer ehrlich gewesen!» Es ist Wasser im Wasserkrug, er nimmt den Wasserkrug mit beiden Händen; er trinkt. «Niemandem! Niemandem, oder nicht? … Aber nein, nie; ich garantiere es euch, ich schwöre es euch …» Man hört ihn nicht, er wird nicht gehört. Wieder wurde das Urteil vor ihm an die Wand geschrieben, an der er es gelesen hat; er hat ihm den Rücken zugedreht: Es steht auch auf der anderen Wand geschrieben. Er schließt die Augen; es ist in ihm. Die Augen schließen, die Augen öffnen; mit offenen Augen, mit geschlossenen Augen; immer das, und er davor. Gavillet vor Gavillet, und dann wird es keinen Gavillet mehr geben. Eine Stirn, zwei Augen, eine Nase: und dann keine Stirn, keine Nase und keine Augen mehr – da denkt und fühlt noch etwas hinter dieser Stirn, und dann ist nichts mehr hinter dieser Stirn, was denkt oder fühlt. Man geht in den Tod aus Angst vor dem Tod. Das ist so unbegreiflich! So ist der Mensch gemacht, dieses Nichts, das alles ist, und dann ist alles nichts mehr. Gavillet sieht, dass er nichts mehr sein wird, und er hat solche Angst, nicht mehr zu sein, dass er denkt: «Lieber bin ich nicht mehr!» So sind die Menschen gemacht. Sie gehen in den Tod aus Angst vor dem Tod. Sie glauben, sie entfernen sich von ihm, dabei gehen sie ihm entgegen; sie werden von der Leere selber angezogen – wie in den Bergen an einem Abgrund, wenn der Schritt, den man macht, um sich davon zu entfernen, einen zu ihm hinträgt, und es ist die Angst vor dem Sturz, die einen herunterstürzen lässt.

Gavillet öffnet die Schublade seiner Kommode; er nimmt den Revolver heraus.