Ein Schweinebär im Kinderzimmer
Es gibt Schweine und es gibt Bären. Aber es gibt keine Schweinebären. Richtig?
Falsch.
Denn obwohl in keinem Tierlexikon der Welt auch nur ein Wort über Schweinebären geschrieben steht, gibt es sie doch. Vielleicht nicht überall, nicht zu allen Zeiten und auch nicht besonders oft. Aber zumindest einen Schweinebären hat es wirklich und wahrhaftig gegeben.
Und das war mein kleiner Bruder Sascha.
Seit Sascha alt genug war, um mit Mama, Papa und mir am Tisch zu essen, veranstaltete er jedes Mal eine Riesenschweinerei. Und das hörte auch nicht auf, als Sascha schon fast sieben war und anfing, zur Schule zu gehen.
Egal, ob Mama Spaghetti oder Pfannkuchen kochte – am Ende sah es immer wie im Schweinestall aus. Mal türmten sich die Nudeln unter dem Esstisch, mal bildeten sich Marmeladeseen. Und manchmal, wenn Mama chinesisch kochte, sah es beinahe so aus, wie wenn ich im Fasching Konfetti in die Luft werfe. Nur dass der Boden nicht mit Papierschnipseln, sondern mit Reis übersät war.
Aber nicht nur unser Esszimmer sah nach jedem Essen wüst aus, auch Sascha selbst. Wenn es Spaghetti gab, landete ein großer Teil der Tomatensoße in seinem Gesicht, auf seinem Pullover und seiner Hose. Wenn es Pfannkuchen gab, waren seine Haare danach mit Marmelade verklebt. Und wenn wir chinesisch aßen, musste man ihn erst einmal gründlich abklopfen, um ihn von sämtlichen Reiskörnern auf seiner Kleidung zu befreien.
Meinen Eltern gefiel das alles natürlich überhaupt nicht.
„Ach Sascha, du bist so ein Schweinebär!“, schimpfte Papa oft, wenn er mit Schäufelchen, Besen und Putzlappen anrückte, um Saschas Schweinerei zu beseitigen.
„Wenn du nicht so ein Schweinebär wärst, müsste ich nicht jeden Tag Wäsche waschen!“, beschwerte sich Mama immer. Denn obwohl Sascha noch einen Latz zum Essen trug, brauchte er danach jedes Mal etwas Neues zum Anziehen.

Jule sitzt mit ihrer Familie am Tisch. Sascha richtet eine gehörige Schweinerei an.

„Nimm dir endlich ein Beispiel an Jule“, schob Mama manchmal noch hinterher. „Die war nie so ein Schweinebär wie du.“
Jule, das bin ich. Jule Laimann, um genau zu sein. Saschas große Schwester, zehn Jahre alt, und im Gegensatz zu meinem Bruder nun wirklich kein Schweinebär.
Aber obwohl ich durchaus verstand, warum meine Eltern sauer auf Sascha waren, tat er mir auch ein bisschen leid. Schließlich war er nur etwas ungeschickt und unaufmerksam beim Essen.
Na ja, wenn ich ehrlich bin, stimmt das nicht so ganz. Genau genommen stellte sich Sascha beim Essen wirklich ziemlich blöd und tollpatschig an.  Eines aber muss man ihm lassen: Er richtete nie aus Absicht eine Schweinerei an. Er konnte es nur nicht besser.
Eigentlich ist mein Bruder nämlich ein ziemlich brauchbarer Bruder. Gemütlich, lustig und liebenswürdig. Und deswegen fand ich es auch immer ein bisschen ungerecht, wenn Mama und Papa ihn einen Schweinebären schimpften.
Wie es Sascha selbst dabei ging – darüber habe ich mir nie großartig Gedanken gemacht. Jedenfalls bis zu jenem Sonntagmorgen, an dem diese Geschichte ihren Lauf nahm.
Ich war gerade erst aufgestanden und lümmelte zusammen mit Fussel, unserer Stubenkatze, im Esszimmer herum, als aus dem Zimmer meines Bruders plötzlich ein lautes, seltsames Geräusch drang.
Papa hörte sofort auf, Marmeladenbrote zu schmieren und ging nachsehen. Kurz darauf drang ein weiteres, lautes Geräusch aus dem Zimmer meines Bruders. Doch diesmal stammte es von Papa. Er schrie.
„Was ist los?“, rief Mama, die gerade Kaffee kochte.
„Sascha…“ Papas Stimme versagte. „Sascha…“, setzte er ein weiteres Mal an, „er ist ein… Er ist ein Schweinebär!“
„Na, das ist ja nun nichts Neues!“, entgegnete Mama und klang dabei eher beruhigt als wütend.
„Nein! Also doch, ist es schon!“ Papa hörte sich sehr verwirrt an. „Diesmal“, rief er nach einer Weile, „diesmal ist Sascha ein echter Schweinebär!“
„Oh nein! Was hat er diesmal angerichtet?“ Jetzt war Mama nicht länger ruhig. Krachend stellte sie die Kaffeetassen auf dem Esstisch ab und polterte den Flur entlang.
Ich hörte auf, Fussel zu streicheln und stapfte hinterher. Neugierig steckte ich den Kopf ins Zimmer meines Bruders und sah, was Mama gesehen hatte. Und was Papa uns hatte sagen wollen.
Sascha war ein Schweinebär.
Und damit meine ich nicht, dass er wieder irgendeine Schweinerei veranstaltet hatte. Nein, in seinem Zimmer sah es ordentlich und aufgeräumt aus. Das Problem war Sascha selbst: Diesmal war er ein leibhaftiger Schweinebär!
Mit rosa Rüssel, braunem Zottelfell, spitz zulaufenden Ohren, Tatzen und einem Buckel über den Schultern.  An den alten Sascha erinnerte nur noch der blau-weiß gestreifte Schlafanzug, in dem er nach wie vor steckte.
Aber jetzt schlabberte er nicht länger an ihm herunter, sondern spannte mächtig über seinem neuen, massigen und haarigen Bauch. Und an seinem Hintern, zwischen Schlafanzughose und Schlafanzugoberteil, kringelte sich ein rosafarbener Ringelschwanz.

Jule kommt in Saschas Zimmer. Ihr Bruder hat sich in einen Schweinebären verwandelt!

Mein Bruder hatte sich über Nacht in ein Tier verwandelt. Und zwar in eines, das zur Hälfte Schwein und zur Hälfte Bär war!
Und dann machte Sascha den Mund auf. Oder besser gesagt: Sein Maul. Doch heraus kamen keine Wörter, sondern nur ein Laut, halb Brummen, halb Grunzen.
Es hörte sich an wie: „Broink!“