Ein Schweinebär im Aufzug
Zunächst einmal stellte sich die Frage, wie wir überhaupt ins Erdgeschoss gelangen sollten. Über die Treppe oder mit dem Aufzug?
Ich entschied mich für den Aufzug. Zum einen wohnten wir im fünften Stock und bis ins Erdgeschoss waren es ganz schön viele Stufen. Zum anderen konnte Sascha im Aufzug schon mal nicht ausbüxen. Ich drückte auf die große silberne Taste an der Wand und lauschte. Irgendwo unter uns setzte sich der Aufzug rumpelnd in Bewegung.
Währenddessen schnupperte der Schweinebär an der Haustür der Hartensteins, die wie wir im fünften Stock wohnten. Durch die Tür drang ein angenehmer Duft, der wahrscheinlich daher rührte, dass Frau Hartenstein bereits das Mittagessen kochte. Im Gegensatz zu meiner Familie waren die Hartensteins nämlich auch sonntags Frühaufsteher. Und damit auch Frühmittagesser.
„Mach jetzt bloß nicht Stinker“, zischte ich Sascha zu. „Und Broink auch nicht.“
Die Hartensteins waren schließlich so ziemlich die letzten, die etwas von unserem Schweinebären wissen durften. Frau Hartenstein war ein ganz schöner Drache. Und Herr Hartenstein unser Hausmeister.Als sich ratternd die Aufzugtüre öffnete, fiel mir ein Stein vom Herzen. Erleichtert steckte ich unseren Wohnungsschlüssel in die Hosentasche, um beide Hände frei zu haben. Ohne einen ordentlichen Schubser würde ich Sascha wohl kaum in die Aufzugkabine bekommen.
Aber was spürte ich da in meiner Tasche? Ich zog meine Hand heraus und begutachtete die Überbleibsel meines gestrigen Kinobesuchs: Popcorn. Ziemlich zerbröseltes Popcorn, aber doch Popcorn.
Ich schmunzelte. Vielleicht musste ich meinem Bruder ja doch keinen Schubser verpassen.
„Hier Sascha, riech mal.“ Ich hielt dem Schweinebären das Popcorn hin. Sofort schnupperte er daran. Doch bevor er es fressen konnte, zog ich die Hand ein Stück zurück und ging rückwärts in Richtung Aufzug. Der Schweinebär, der trotz Blähungen Appetit auf einen kleinen Nachtisch hatte, folgte mir auf dem Fuß.
Als wir beide im Aufzug waren, ließ ich ein wenig Popcorn auf den Boden fallen und drückte schnell auf die Taste E. Wir – oder besser gesagt ich wollte schließlich ins Erdgeschoss, damit Sascha sein Geschäft auf dem kleinen Grünstreifen vor unserem Haus verrichten konnte.
Während der Schweinebär das Popcorn auf dem Boden verputzte, rumpelte der Aufzug los. Sascha broinkte und wollte auch den Rest seines Nachtischs haben, doch ich steckte meine Hand augenblicklich in die Hosentasche.
Der Schweinebär pupste und schob seinen Rüssel in meine Tasche. Er schlabberte meine Finger an, doch die hielten das restliche Popcorn wie einen Schatz umschlossen.
Ich brauchte es schließlich noch, um ihm Beine zu machen.
Quietschend kam der Aufzug zum Stehen. Doch auf der Anzeige leuchtete kein E, sondern eine 2. Ich erschrak. Wir waren nicht im Erdgeschoss, sondern erst im zweiten Stock! Und das bedeutete, dass jemand von dort ebenfalls nach unten wollte. Zusammen mit dem Schweinebären und mir! Ich bekam einen dicken Kloß im Hals.
Die Aufzugtüre ging auf und davor stand eine ältere Dame, die einen braunen Mantel, Hut und Hornbrille trug.
Ich schaffte es, den Kloß in meinem Hals herunter zu schlucken. „Hallo, Frau Klimpinski“, sagte ich nervös.
„Ah, du bist es, Jule“, sagte Frau Klimpinski. „Hab dich an der Stimme erkannt.“ Vorsichtig tastete sie sich mit ihrem Gehstock in den Aufzug vor. Frau Klimpinski wohnte im zweiten Stock, war aber nicht mehr gut zu Fuß und sah nur noch schlecht, weswegen sie stets den Aufzug und nicht die Treppen nahm.
Doch ihre Nase funktionierte noch ziemlich gut. „Puh, hier stinkt’s aber“, sagte Frau Klimpinski und fächerte sich mit der freien Hand Luft zu. Dann fiel ihr glasiger Blick auf den Schweinebären.
„Was ist denn das?“, fragte sie entgeistert.
„Das? Äh, das… Das ist…“ Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich sagen sollte.
Die Türe schloss sich, der Aufzug rumpelte wieder los und Frau Klimpinski beugte sich über den Rüssel des Schweinebären. „Seit wann habt ihr denn einen Hund?“, sagte sie fassungslos.
„Seit… ähm… heute“, log ich. Zum ersten Mal seit ich Frau Klimpinski kannte, war ich froh, dass sie trotz ihrer dicken Hornbrille fast nichts mehr sehen konnte. Wenn sie den Schweinebären für einen Hund hielt, war das wohl das Beste.
„Aber in diesem Haus sind keine Hunde erlaubt!“, empörte sich Frau Klimpinski.
Ups, das hatte ich doch glatt vergessen. Herr Hartenstein duldete ja nur Stubenkatzen, Meerschweinchen, Hamster und Wellensittiche als Haustiere. Eben solche Tiere, die in der Wohnung ihr Geschäft verrichteten, in Katzenklos oder Käfigen. Tiere, die womöglich auf den kleinen, sorgsam gepflegten Grünstreifen vor dem Haus machen könnten, waren hingegen strengstens verboten.
„Das… ähm… ist eigentlich gar kein Hund“, sagte ich. „Sondern Fussel, unsere Katze.“
„So ein Quatsch! So groß kann eine Katze gar nicht sein!“ Frau Klimpinski schaute mich böse an. „So viel sehen meine alten Augen schon noch. Das hier“, sie deutete auf den Schweinebären im Schlafanzug, „ist eindeutig ein Hund!“
„Ähm, nein“, versuchte ich zu erklären, „eigentlich ist es ein Schweinebär. Wissen Sie, mein Bru-.“
Aber Frau Klimpinski ließ mich gar nicht erst ausreden. „Ein Schweinebär! Pah, dass ich nicht lache!“, schnaubte sie. „Da haltet ihr heimlich einen Hund und du bist auch noch so dreist, dich über mich lustig zu machen!“
In diesem Moment öffnete sich die Aufzugtüre. Wir waren im Erdgeschoss angelangt.
„Ich werde den Hausmeister informieren“, keifte Frau Klimpinski, während sie den Aufzug verließ, mit ihrem Gehstock klapperte und vorsichtig Fuß vor Fuß setzte. „Herr Hartenstein muss dringend erfahren, was seine Nachbarn so treiben! Und das gleich, wenn ich von der Kirche zurück bin!“