Als Evelyn aufwachte, dauerte es nur zwei, drei Sekunden, bis sie erschrocken nach ihrem Handy tastete, doch es lag nicht auf dem Nachttisch. Noch während die Erinnerung an den vergangenen Abend langsam wiederkehrte, schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf. Sie war im Schalander gewesen, einer schicken Bar, die so was wie ihr Stammlokal geworden war. Hier startete sie die meisten ihrer nächtlichen Streifzüge durch die Stadt. Hier trank sie die ersten Gläser Wein, bevor sie sich auf die Suche nach etwas machte, das nicht selten in einem fremden Schlafzimmer endete und in ihr stets am nächsten Morgen das fade Gefühl zurückließ, dass ihr Leben ihr entglitten war.
Evelyn ging ins Wohnzimmer, wo ihre Tasche stand. Dieses Mal hatte es nicht so geendet. Sie war im Schalander geblieben, hatte mit Tom, dem Barkeeper, über unwichtige Dinge geredet und dabei mehr Wein getrunken, als ihr guttat. Als sie um Mitternacht nach Hause gekommen war, hatte sie genug Alkohol intus gehabt, um innerhalb von Sekunden in einen traumlosen, bleiernen Schlaf zu fallen.
Ihr Handy befand sich tatsächlich in ihrer Tasche. Mit einem Blick auf das Display stellte sie fest, dass es keine Anrufe in Abwesenheit gegeben hatte und kurz vor acht Uhr war.
Tillmann würde also erst in einer Stunde bei ihr klingeln. Zeit genug für eine ausgiebige Dusche und zwei oder drei Tassen Kaffee.
Tillmann war fast auf die Minute pünktlich. Mit ernster Miene hielt er Evelyn einen silberfarbenen Tablet-PC entgegen, als sie ihm die Tür geöffnet hatte.
»Guten Morgen«, begrüßte sie ihn und nahm ihm das Gerät verdutzt aus der Hand. »Was ist das?«
»Ein Tablet. Da sind ein paar Fotos aus unserer Datenbank drauf«, erklärte Tillmann und deutete an Evelyn vorbei in die Wohnung. »Bekomme ich einen Kaffee, oder muss ich hier draußen warten, bis du fertig bist?«
Noch während Evelyn einen Schritt zur Seite machte, drückte sich Tillmann an ihr vorbei. »Ich habe das Passwort deaktiviert«, erklärte er und steuerte auf die Küche zu. »Wir müssen nur noch ein Foto von deinem Bruder hochladen.«
»Ja, ich …«, setzte Evelyn an, doch Tillmann war schon in der Küche verschwunden, wo er sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte.
Sie ging zu dem kleinen Tisch, der vor dem Fenster stand, und legte das Tablet darauf ab, während das Mahlwerk des Vollautomaten mit dem typischen Geräusch seine Arbeit begann.
»Möchtest du auch eine Tasse?«
Evelyn schüttelte den Kopf und setzte sich. Als der Kaffee fertig war, ließ sich Tillmann ihr gegenüber nieder und sah sie, die Stirn gerunzelt, an. »Du siehst nicht gerade fit aus. Hast du schlecht geschlafen?«
»Nein, ich …« Sie schaltete das Tablet ein und betrachtete die wenigen Apps auf hellgrauem Hintergrund. »Ich war gestern Abend noch was trinken.«
Tillmann stieß ein Schnauben aus und schüttelte den Kopf. »Evelyn, du …«
»Nein, nicht«, unterbrach sie ihn. »Ich weiß, was du sagen möchtest, aber das gehört jetzt nicht hierher. Es geht jetzt nicht um mich, sondern um Fabian.«
Erneut schüttelte Tillmann den Kopf. »Genau genommen geht es weder um dich noch um Fabian, sondern darum, dass ein Irrer auf Campingplätzen Menschen umbringt. Und darum, dass ich Informationen zurückhalte, die ich nicht verschweigen dürfte. Denn – und ich weiß, dass ich mich wiederhole – dass du glaubst, in dem Phantombild eine Ähnlichkeit mit deinem Bruder zu sehen, könnte ihn mit den Taten in Verbindung bringen, wenn sich dein Verdacht tatsächlich bestätigen sollte.«
Evelyn wollte schon zu einer Entgegnung ansetzen, ließ es aber sein und sagte lediglich mit leiser Stimme: »Erst muss ich wissen, ob die Möglichkeit besteht, dass Fabian tatsächlich noch lebt und von diesem Mann auf dem Campingplatz gesehen worden ist. Dann kann ich mir über alles andere Gedanken machen.« Erneut fiel ihr Blick auf das Display des Tablets. »Wo kann ich diese Fotos sehen?«
»Du musst auf die Foto-App klicken. Ganz oben rechts.«
Die App beinhaltete drei Porträts von Männern, die sich zwar nicht unbedingt ähnlich sahen, aber alle dem gleichen Typ entsprachen. Schmales Gesicht, dunkelblonde bis hellbraune Haare, das Alter zwischen vierzig und fünfzig.
Während sie die ernst dreinblickenden Gesichter betrachtete, wurde ihr wieder die Tragweite dessen bewusst, was sie sich für diesen Vormittag vorgenommen hatten. Der Gedanke an mögliche Antworten des Zeugen, wenn er das Foto von Fabian sehen würde, verursachte ihr ein unangenehmes Ziehen im Bauch.
»Also gut.« Tillmann trank seine Tasse leer und stand auf. »Dann schlage ich vor, du suchst ein Foto deines Bruders aus, das von der Art der Aufnahme halbwegs zu den anderen passt. Wir laden es hoch und fahren los.«
»Weißt du denn, wo wir den Mann finden?«
»Ja. Ich habe es zwar nicht geglaubt, aber er hält sich noch immer auf dem Campingplatz auf. Ich habe schon mit ihm telefoniert und ihm gesagt, dass wir kommen.«
Es dauerte eine Weile, bis Evelyn ein Foto von Fabian gefunden hatte, das ihn allein und von vorne zeigte und das zudem nicht zu alt war. Es war zwar in seinem Wohnzimmer aufgenommen worden, doch mit einem Fotobearbeitungsprogramm hatte Evelyn die Aufnahme schnell so zurechtgeschnitten, dass sie halbwegs zu den Fotos der Männer aus der Polizeidatenbank passte.
Die knapp einstündige Fahrt nach Großefehn verging für Evelyn wie im Flug, weil sie gleich, nachdem sie losgefahren waren, die Augen geschlossen hatte und kurz darauf eingeschlafen war.
Als Tillmann sie weckte, fuhr er gerade auf die Einfahrt des Campingplatzes zu, die mit einer Schranke gesichert war.
Evelyn richtete sich im Sitz auf. »Ich bin eingeschlafen, tut mir leid.«
»So ist das eben, wenn man nachts …«, setzte Tillmann an, beendete den Satz aber nicht, sondern parkte den Wagen auf einem Schotterplatz vor der Schranke und zog das Tablet aus der Spalte zwischen Sitz und Mittelkonsole hervor.
Der Wohnwagen von Hans-Jörg und Ilse Grövich stand auf einem etwa hundert Quadratmeter großen Platz unweit des Ufers. Der direkte Blick auf den See wurde fast vollständig von mannshohen Büschen versperrt, lediglich durch die schmale Schneise eines ausgetretenen Pfades war in etwa dreißig Metern Entfernung ein Streifen des sandigen Ufers zu erkennen.
Noch während Evelyn und Tillmann sich umsahen, trat ein Mann aus dem Vorzelt, dessen Alter Evelyn auf Ende sechzig schätzte. Seine noch vollen, aber fast weißen Haare waren kurz geschnitten, bis auf einen kleinen Bauchansatz war er noch recht schlank.
»Lass mich reden«, flüsterte Tillmann, bevor der Mann sie erreicht hatte.
»Sind Sie der Hauptkommissar aus Oldenburg, der mich angerufen hat?«, fragte Grövich an Tillmann gewandt, nachdem er Evelyn kurz gemustert hatte.
»Ja, der bin ich.« Tillmann streckte Grövich die Hand entgegen, doch der winkte ab. »Nee, lassen Sie mal. Seit Corona hab ich mir das abgewöhnt. Geht auch so.«
»Kein Problem.« Tillmann deutete auf Evelyn. »Das ist Frau Jancke. Sie ist forensische Psychologin und arbeitet mit uns zusammen.«
Hans-Jörg Grövichs buschige Braue schob sich ein Stück nach oben, während er Evelyn erneut von Kopf bis Fuß betrachtete. »Psychologin, aha.«
»Herr Grövich« – Tillmann lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf sich – »ich würde Ihnen gern ein paar Fotos zeigen, wenn das für Sie in Ordnung ist.«
»Schon wieder? Da waren doch gerade erst zwei Kollegen von Ihnen hier mit Fotos. Am Telefon sagten Sie nur, Sie hätten noch Fragen.«
»Ich weiß, dass die Kollegen schon bei Ihnen waren, aber wir würden Ihnen trotzdem gern noch ein paar Aufnahmen zeigen. Es geht ganz schnell, es sind nur vier.«
Grövich nickte. »Also gut, wenn es hilft, den Kerl zu finden.«
»Ist Ihnen an dem Mann, den Sie gesehen haben, etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«, fragte Evelyn einer Eingebung folgend und ignorierte den Blick, den Tillmann ihr zuwarf.
»Was Ungewöhnliches? Nee. Was soll das denn sein, was Ungewöhnliches?«
»Eine Tätowierung vielleicht oder eine Narbe?«
Grövich gab einen Zischlaut von sich. »Ich hab doch beschrieben, wie der Kerl aussieht. Glauben Sie nicht, ich hätte das gesagt, wenn der ’ne Narbe oder sonst was im Gesicht gehabt hätte?«
»Ich meinte auch eher an den Armen oder den Händen.«
Grövichs Unterlippe schob sich ein Stück vor, während er nachzudenken schien. »Nee, ich hab nichts dergleichen gesehen. Außerdem ging das alles ziemlich schnell. Ich bin froh, dass ich mir sein Gesicht so gut eingeprägt hab.«
»Apropos Gesicht.« Tillmann schaltete das Tablet ein, tippte zwei-, dreimal darauf herum und stellte sich so neben den Mann, dass der den Bildschirm sehen konnte. »Wollen wir uns die Fotos anschauen?«
Grövich betrachtete das erste Bild eine Weile, dann schüttelte er den Kopf. »Nee, der sah anders aus.«
»Beachten Sie bitte, dass die Fotos bereits etwas älter sein können. Das Aussehen des Mannes könnte sich also ein wenig verändert haben.«
»Trotzdem, der ist es nicht«, wiederholte Grövich.
Beim nächsten Foto zögerte er und verengte die Augen zu Schlitzen. Evelyn spürte, dass sich ihr Puls beschleunigte. Zeigte Tillmann ihm gerade das Foto von Fabian?
»Hm … der könnte vielleicht …« Dann schüttelte er jedoch den Kopf. »Nein. Nein, das ist er nicht. Auch nicht, wenn das Foto schon älter ist. Die Nase passt nicht, und die Augen auch nicht.«
Evelyn sah fragend zu Tillmann hinüber, doch der schüttelte kaum merklich den Kopf. Es war nicht das Foto ihres Bruders.
Aber das nächste zeigte Fabian, wie der Blick ihr sagte, den Tillmann ihr zuwarf.
Evelyn hätte Grövich am liebsten gedrängt, etwas zu sagen, als der eine Weile schweigend auf das Display starrte. Dann aber schüttelte er erneut den Kopf. »Nein. Der hat zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Kerl, aber …« Er richtete den Blick noch mal auf das Display. »Ich sag’s mal so. Von allen Fotos, die ich bisher gesehen habe, gleicht der da dem Typen noch am ehesten, aber ich glaube nicht, dass er es ist.«
»Sie glauben nicht?«, hakte Tillmann nach. »Heißt das, er könnte es vielleicht sein?«
Grövich sah Tillmann an, als hätte der etwas Obszönes gesagt. »Das heißt, er gleicht ihm, aber ich glaube nicht, dass er es ist.«
Evelyn hielt es nicht mehr aus. »Schauen Sie sich das Bild bitte genau an«, forderte sie Grövich auf. »Die Aufnahme ist schon etwas älter. Vielleicht sieht er nicht mehr genauso aus wie auf dem Foto.« Als Grövich ihr einen ähnlichen Blick zuwarf wie zuvor Tillmann, wiederholte sie: »Bitte.«
Grövich rollte mit den Augen, betrachtete das Foto aber trotzdem eine ganze Weile, bevor er den Kopf schüttelte. »Es ändert nichts. Eine Ähnlichkeit ist da, aber meiner Meinung nach ist er es nicht. Etwas anderes kann ich nicht sagen. Aber ich habe eine Frage: Sie sagten, das Foto sei schon älter. Woher wissen Sie, welches Foto ich mir gerade angeschaut habe?«
»Weil ein Foto dabei ist, bei dem ich auch eine Ähnlichkeit mit dem Phantombild gesehen habe, das nach Ihren Angaben erstellt worden ist, und ich weiß, wer der Mann ist.«
Evelyn bemerkte den warnenden Blick, den Tillmann ihr zuwarf, doch sie kam gar nicht erst in die Verlegenheit, zu erläutern, woher sie den Mann kannte, denn Grövich schien sich mit ihrer Erklärung zufriedenzugeben.
Den Mann auf dem nächsten Foto schloss er schon nach dem ersten Blick aus, doch das interessierte Evelyn nicht mehr. Obwohl ihr von Anfang an klar gewesen war, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es sich tatsächlich um Fabian handelte, den Grövich in der Tatnacht gesehen hatte, verschwindend gering war, war sie enttäuscht. Eine Leere breitete sich in ihr aus, die ihr alle Kraft aus dem Körper zu ziehen schien. Sie hatte das Bedürfnis, sich hinzusetzen und die Augen zu schließen, und war Tillmann dankbar, als er sagte: »Das war’s auch schon, Herr Grövich. Alles andere haben Sie ja den Kollegen bereits erzählt. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Schon gut.« Grövich deutete auf den Tablet-PC in Tillmanns Hand. »Ich hätte Ihnen gern bestätigt, dass es einer dieser Männer gewesen ist. Aber bis auf diesen einen gleichen sie dem Kerl nicht annähernd. Kann ich das Foto noch mal sehen?«
»Ja, sicher.« Tillmann hielt ihm das Tablet wieder hin.
»Hm …«, brummte Grövich. »Es ist schwierig. Ich denke nach wie vor, dass das nicht der Kerl ist, aber hundertprozentig ausschließen kann ich es auch nicht. Vielleicht, wenn ich ihn mal live sehen könnte …«
»Das geht leider nicht«, erklärte Tillmann, und bevor Grövich nachfragen konnte, warum das nicht ging, fügte Tillmann hinzu: »Wie gesagt, wir danken Ihnen.« Dann nickte er Evelyn zu.
»Fahren wir.«