Evelyn legte das Telefon auf den Küchentisch und blickte zum Fenster.
Dieser Jasper Kriebich war tatsächlich sehr von sich überzeugt. So sehr, dass er glaubte, niemand könne oder wolle ihm widerstehen. Andererseits hatte er sich wirklich dafür interessiert, was in ihr vorging. Und er hatte eine außergewöhnlich gute Beobachtungsgabe. Zudem hatte er mehr Zivilcourage bewiesen, als sie es bisher je erlebt hatte. Kurzum: Sie fand diesen Mann interessant.
Dem stand allerdings gegenüber, dass es ihr widerstrebte, sich von einem Fremden derart überrumpeln zu lassen.
Und im Moment überforderte sie die ganze Situation. Ihre Erfahrung als Psychologin sagte ihr, dass die distanzlose, ja, fast übergriffige Art, die dieser Jasper Kriebich an den Tag legte, mit höchster Vorsicht zu genießen war. Genau hinter solchem Verhalten verbarg sich nicht selten ein psychopathischer Charakter.
Ihr Instinkt hingegen beruhigte sie und ließ sie zumindest in Betracht ziehen, dass Kriebich nichts Böses im Schilde führte und einfach nur übers Ziel hinausgeschossen war.
Ohne darüber nachzudenken und bewusst den Entschluss zu fassen, griff sie erneut nach dem Telefon und rief Tillmann an. Er saß im Auto, was unschwer an den Nebengeräuschen der Freisprechanlage zu hören war.
»Störe ich dich?«, fragte sie.
»Nein, ich bin unterwegs in die Klinik. Ich werde Dietmar den Gefallen tun und mich kurz mit Nils Kleinbauer unterhalten. Mal sehen, ob er danach bereit ist zu kooperieren. Falls nicht, werden wir einen plausiblen Grund finden, warum er einen anderen Gutachter braucht.«
»Darf ich dich kurz mit etwas anderem behelligen?«, fragte sie, obwohl auch das Thema Kleinbauer ihr Sorgen bereitete.
»Natürlich, was ist denn?«
»Ich hatte eben einen interessanten Anruf von Herrn Kriebich.«
»Kriebich? Ach … und was wollte er? Hat er seine Meinung zu dem Foto von Fabian etwa geändert? Und warum ruft er überhaupt bei dir an? Ich bin der Polizeibeamte, den er kontaktieren sollte, wenn er uns etwas zu sagen hat.«
»Er wollte wissen, was es mit Fabians Foto auf sich hat.«
»Wie, mit Fabians Foto? Ich verstehe nicht.«
»Es war eine … sagen wir mal interessante Unterhaltung.«
»Dann schieß los.«
Evelyn erzählte ihm das komplette Gespräch. Dabei ließ sie nichts aus, auch nicht ihre Gedanken zu dem, was Kriebich gesagt hatte.
»Hm …«, brummte Tillmann, als sie fertig war. »Kriebichs Verhalten finde ich ziemlich seltsam. Was will dieser Kerl von dir?«
»Ich finde es auch seltsam, und das habe ich ihm auch gesagt. Andererseits kann es sein, dass er einfach der Typ Mensch ist, der ohne Zögern tut, was er für richtig hält.«
»Ja, vielleicht. Allerdings glaube ich das nicht. Ich halte es für viel wahrscheinlicher, dass er gemerkt hat, dass du im Moment recht verzweifelt bist, und das zu seinen Gunsten ausnutzen will.«
»Ausnutzen? Wie meinst du das?«
»Na, um sich an dich ranzumachen natürlich. Sei vorsichtig, Evelyn. Ich glaube, der Kerl hat bei allem, was er tut, Hintergedanken.«
»Sag mal, bist du eifersüchtig auf Jasper Kriebich?«
»Quatsch. Ich versuche nur, dich zu beschützen. Lass uns später darüber reden. Ich bin jetzt da. Mal sehen, was Kleinbauer sagen wird, wenn ich ihm die Konsequenzen seines Verhaltens klarmache.«
»Rufst du mich danach an?«
»Ja. Bis nachher.«
Evelyn ging ins Badezimmer und ließ Wasser in die Wanne laufen. Als sie damals die Wohnung besichtigte, hatte sie die große Badewanne als unnötige Platzverschwendung empfunden.
Nachdem sie dann aber kurz nach ihrem Einzug ein Vollbad mit duftenden Essenzen genommen und bemerkt hatte, wie gut das Körper und Seele tat, war ein Vollbad zum regelmäßigen Ritual geworden. Sie freute sich darauf, ihren Körper in dem heißen Wasser zu entspannen, als sie sich kurz darauf auszog und vorsichtig in das dampfende Wasser stieg. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie, sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Doch bereits nach wenigen Sekunden ergriffen die aktuellen Ereignisse wieder Besitz von ihr. Fabian, Grövich, Kleinbauer, aber auch Lars Jensen und Jasper Kriebich schwirrten durch ihre Gedanken. Diese beiden konnte sie nicht einschätzen. Was hatte Jensen dazu gebracht, sie anzurufen? Ein Mann, der angeblich Fabians guter Freund gewesen war, den ihr Bruder aber ihres Wissens nie erwähnt hatte. Das schlechte Gewissen, dass er es versäumt hatte, sich nach Fabians Verschwinden bei dessen Schwester zu melden, die er noch nie gesehen hatte und die ihn gar nicht kannte?
Und Jasper Kriebich? Ein in vielerlei Hinsicht beeindruckender Mann. Aber warum rückte er ihr, einer ihm völlig fremden Frau, so auf die Pelle?
Sie öffnete die Augen und richtete sich auf. Es hatte keinen Zweck. Das heiße Wasser hatte ihr gutgetan, aber entspannen, wie sie es sonst in der Badewanne tat, konnte sie nicht. Also gab sie auf.
Vierzig Minuten später meldete Tillmann sich bei ihr. Wieder saß er im Auto.
»Und? Wie war es?«, fragte sie ohne Umschweife.
»Nicht spektakulär. Im Gegenteil. Ich habe Kleinbauer klargemacht, dass die Konsequenzen für ihn immer schlimmer sind als für dich, wenn er weiterhin so unkooperativ ist und versucht, Spielchen mit dir zu treiben. Konkret habe ich ihm gesagt, dass du ab jetzt sofort abbrichst, wenn er sich dir gegenüber weiterhin so verhält wie bisher.« Er räusperte sich. »Ich sagte ihm, dass ich persönlich der Meinung bin, dass du viel zu gutmütig bist und ich nicht verstehen kann, dass du ihm immer noch helfen möchtest. Wenn es nach mir ginge, würde er für den Rest seines Lebens im Knast landen, wo es eine Menge Leute gibt, die auf Frischfleisch wie ihn nur gewartet haben. Er hat mir daraufhin sehr gern das Versprechen gegeben, dir gegenüber ab jetzt kooperativ zu sein und alles zu tun, was du von ihm erwartest.«
»Denkst du nicht, dass dich das in Schwierigkeiten bringen kann, wenn Kleinbauer es erzählt?«
»Dann steht die Aussage eines Frauenkillers gegen die eines Polizisten.«
»Aber die Videoaufnahmen …«
»Welche Videoaufnahmen?«
»Na die, die bei den Gesprächen immer …« Evelyn stockte. »Moment. Ihr habt die Aufzeichnung abgeschaltet?«
»Wie schon gesagt, ich bin zuversichtlich, dass Kleinbauer ab jetzt kooperieren wird«, erklärte Tillmann und überging die Frage.
Evelyn akzeptierte es, sie hatte verstanden. Und sie wunderte sich ein weiteres Mal, was Tillmann bereit war zu tun, um Schaden von ihr abzuwenden.
»Ich weiß, in den letzten Tagen habe ich diesen Satz schon fast inflationär oft gesagt, aber es ist auch angebracht. Deshalb noch einmal: Ich danke dir. Du tust sehr viel für mich. Ich hoffe nur, du wirst dadurch keine Schwierigkeiten bekommen. Das könnte ich mir nicht verzeihen.«
»Dank mir nicht zu früh. Warte dein Gespräch morgen Vormittag ab, dann sehen wir, ob es wirklich etwas gebracht hat oder ob Kleinbauer seine Spielchen trotz aller angedrohter Konsequenzen auch mit mir gespielt hat.«
Beim Gedanken an die Unterhaltung mit Nils Kleinbauer am nächsten Morgen war Evelyn alles andere als wohl, aber sie wusste auch, dass Tillmann recht hatte. Sie durfte sich auf keinen Fall von Kleinbauer dazu bringen lassen, aufzugeben. Im Gegenteil – sie musste ihm klarmachen, dass sie so oder so am längeren Hebel saß.
»Ja, ich bin sehr gespannt. Aber selbst wenn er wieder versuchen sollte, mich aus der Fassung zu bringen, wird ihm das nicht mehr gelingen. Ich weiß ja jetzt, woher er seine Informationen hat und was er alles wissen kann. Damit wird er mich also nicht so kalt erwischen wie bei unserem letzten Gespräch.«
»Sehen wir uns danach?«
»Natürlich.«
»Gut. Was hast du heute noch vor?«
»Nichts mehr, ich werde früh schlafen gehen, damit ich morgen ausgeruht bin.«
»Das ist gut. Was ist mit Jasper Kriebich?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Na, wie stehst du zu ihm?«
»Das weiß ich noch nicht. Darüber mache ich mir später Gedanken.«
Nach einigen Sekunden des Schweigens sagte Tillmann: »Ich wünsche dir einen ruhigen Abend. Und schlaf gut.«
Dann legte er auf.