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Evelyn erwachte um halb acht. Sie hatte Kopfschmerzen und fühlte sich alles andere als ausgeschlafen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich erinnerte, dass auf dem leeren Platz neben ihr eigentlich Tillmann hätte liegen müssen.

Sie richtete sich auf und stellte fest, dass er sich nicht mehr im Wohnmobil befand.

Der Traum fiel ihr ein, den sie in der Nacht gehabt hatte. Ein Albtraum. Wieder einmal. Dieses Mal hatte sie ihren toten und furchtbar verstümmelten Bruder in einem offenen Grab liegen sehen.

Sie rutschte nach vorn auf die Bettkante, stand auf und ging zur Tür. Das lange Shirt, das sie auch zu Hause zum Schlafen trug, reichte ihr bis fast zu den Knien, so dass sie sich damit auch draußen zeigen konnte.

Als sie die Tür öffnete, musste sie für einen Moment geblendet die Augen schließen. Die Sonne stand noch so tief am wolkenlosen Himmel, dass sie direkt in die gleißenden Strahlen geblickt hatte.

»Guten Morgen«, sagte Tillmann und lächelte sie an. Er saß am fertig gedeckten Frühstückstisch und war schon beim Einkaufen gewesen. Auf dem Tisch standen ein Glas Marmelade und ein Glas Honig sowie eine Viererpackung Joghurt und eine Tüte Milch, daneben lagen auf Packpapier angerichtet roher Schinken und Scheibenkäse und ein weißer Papierbeutel, der vermutlich Brötchen enthielt. Teller, Tassen und Besteck aus dem Bestand des Wohnmobils hatte er ebenfalls bereits verteilt. Er musste dabei extrem leise gewesen sein, denn Evelyn hatte nichts davon mitbekommen.

»Wow«, sagte sie mit Blick auf den Tisch, »seit wann bist du auf?«

»Etwa eine halbe Stunde.« Er deutete auf sein Werk. »Ich hoffe, es fehlt nichts für dich zum Frühstück.«

»Nein, das sieht gut aus.«

»Das fühlt sich fast an wie ein richtiger Urlaub.« Er atmete tief durch. »Frische Luft, die Ruhe, frühstücken, wann und so lange man möchte … Ich glaube, an diese Art Camping könnte ich mich gewöhnen. Möchtest du dich nicht setzen?«

Evelyn schüttelte den Kopf. »Nein, ich gehe schnell duschen, und dann drehe ich eine Runde über den Platz. Jetzt sitzen die meisten Leute draußen und trinken Kaffee. Auch die, die wir gestern nicht gesehen haben.«

»Aber das können wir doch auch nach dem Frühstück machen.«

»Nein. Für mich fühlt sich das hier nämlich überhaupt nicht nach Urlaub an. Wir suchen meinen Bruder.«

Damit wandte sie sich ab, um ihren Kulturbeutel und ein Duschtuch aus dem Wohnmobil zu holen. Als sie gleich darauf an Tillmann vorbei in Richtung Sanitärhaus ging, sagte er: »Wir suchen einen Mörder.«

Fünfzehn Minuten später war Evelyn zurück und brach kurz darauf zu einem Rundgang über den Platz auf, zu dem Tillmann sie begleitete. Das Ergebnis war das Gleiche wie am Vorabend. Wie Evelyn richtig vermutet hatte, saßen die meisten Camper mittlerweile beim Frühstück, so dass sie die Gesichter der Männer im Vorbeigehen studieren konnte. Es war niemand darunter, der Fabian auch nur entfernt ähnelte.

Als sie schließlich zu ihrem Wohnmobil zurückkamen, setzte Tillmann heißes Wasser für Kaffee auf, kurz darauf saßen sie sich draußen in der Sonne gegenüber und frühstückten.

»Wohin wollen wir heute weiterfahren?«, erkundigte sich Tillmann zwischen zwei Bissen.

»Ich weiß es noch nicht. Nach dem Frühstück sollten wir uns noch mal alles anschauen, was wir zu den Campingplätzen wissen, auf denen er bisher gewesen ist.«

»Und gemordet hat«, fügte Tillmann hinzu.

Evelyn ignorierte die Bemerkung. »Ich bin überzeugt, dass in den Campingplätzen der Schlüssel liegt.«

Nachdem sie den Frühstückstisch gemeinsam abgeräumt hatten, wollte Evelyn das benutzte Geschirr spülen, doch Tillmann nahm ihr den Lappen aus der Hand. »Setz dich nach draußen und beschäftige dich schon mal mit den Campingplätzen, ich übernehme das hier.«

Ohne zu diskutieren, verließ sie das Wohnmobil, breitete erneut die Karte vor sich aus und begann damit, die einzelnen Campingplätze in ihrer App aufzurufen und Screenshots von den Info-Seiten zu Ausstattung, Lage und Sehenswürdigkeiten in der Nähe zu machen.

Als Tillmann sich wenig später ihr gegenübersetzte, sah sie von ihrem Handy auf. »Ich möchte dich mal was fragen und hoffe, du gibst mir als Freund eine ehrliche Antwort.«

»Nur zu«, sagte er und nickte aufmunternd.

»Du machst das alles nur wegen mir, stimmt’s? Du glaubst keine Sekunde lang daran, dass wir wirklich Erfolg haben könnten, und noch viel weniger glaubst du daran, dass es Fabian ist, den wir vielleicht finden.«

Ohne lange zu überlegen, erwiderte Tillmann: »Ja, das ist richtig, aber ich habe auch nie etwas anderes behauptet. Im Gegenteil, du weißt genau, wie ich dazu stehe. Ich begleite dich, weil ich bei dir sein und dafür sorgen möchte, dass dir nichts geschieht.«

»Aber ist das nicht ein Widerspruch? Du sagst, du begleitest mich, weil du mich beschützen möchtest. Wenn du aber nicht glaubst, dass ich den Täter finde, egal, wer es ist – wovor musst du mich dann beschützen?«

»Vielleicht vor allen Eventualitäten, vielleicht vor dem unwahrscheinlichen Fall, dass du doch auf den Kerl stößt. Vielleicht auch vor dir selbst.«

»Verstehe«, sagte sie und widmete sich wieder ihrer App.

»Was tust du da gerade?«, wollte Tillmann wissen.

»Ich vergleiche die Campingplätze miteinander, auf denen er bisher war«, erklärte sie. »Irgendeine Gemeinsamkeit muss es geben.«

»Okay.« Tillmann stand auf und verschwand im Inneren des Wohnmobils. Eine Minute später war er wieder zurück, in der Hand einen dicken orangefarbenen Ordner, den er gleich darauf auf den Tisch warf.

»Alles, was wir bisher über die Taten haben. Ich habe es vorsichtshalber mal eingepackt.«

Er setzte sich und klappte den Ordner auf. »Gehen wir’s an.«

Sie verbrachten den ganzen Vormittag mit ihren Recherchen und sprachen in dieser Zeit kaum miteinander. Evelyn fertigte eine handgeschriebene Tabelle an, in der sie alle markanten Informationen zu den Campingplätzen eintrug, so dass sie sie anschließend miteinander vergleichen konnte. Schon während des Studiums hatte sie den Stoff am schnellsten behalten, wenn sie ihn nicht nur las, sondern sich direkt Stichpunkte handschriftlich notierte.

Hier und da machten sie eine Bemerkung zu dem, was sie gerade lasen, doch nichts davon erschien von Relevanz. Zwischendurch standen sie auf und vertraten sich für ein paar Minuten die Beine oder kochten frischen Kaffee.

Und immer mal wieder drifteten Evelyns Gedanken ab zu den anonymen Nachrichten; zu den Gesprächen, die sie glaubte, mit Tillmann darüber geführt zu haben; zu der Frage, ob sie sich selbst noch über den Weg trauen konnte.

Es war bereits Mittag, als Tillmanns Telefon klingelte. Es war sein Chef, und nachdem Tillmann ihm einige Sekunden zugehört hatte, wurde er blass und sagte: »Scheiße!«

Evelyn ahnte, was Hagemeier ihm gerade mitteilte.

»O Gott«, stieß Tillmann als Nächstes aus, dann hörte er eine ganze Weile nur zu. »Damit durchbricht er seine Serie, das ist die erste Frau … Das stimmt allerdings.«

Evelyn spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte. Eine Frau … »Vielleicht hat er aus irgendwelchen Gründen eine Ausnahme gemacht … Ja, da haben Sie recht. Verflixt nochmal. Wo genau ist das passiert? … Okay, ja … Nein, das geht im Moment nicht, ich bin nicht zu Hause … Ja, das müsste gehen … Ja, okay.«

Tillmann legte das Telefon ab.

»Er hat wieder zugeschlagen. Auf einem Campingplatz in der Nähe von Neuharlingersiel. Dieses Mal ist das Opfer eine Frau.«

»O mein Gott. Hört dieser Albtraum denn nie auf? Wo liegt das?«

Tillmann tippte auf seinem Smartphone herum, dann sagte er: »Ungefähr eine Stunde von hier, direkt am Meer.«

Evelyn beugte sich über die Karte und hatte den Ort schnell entdeckt. Er lag nur wenige Kilometer von Bensersiel entfernt, einem Hafen, von dem aus sie schon mit der Fähre nach Langeoog übergesetzt hatte.

»Die Frau war allein unterwegs. Er ist zu ihr in den Wohnwagen gestiegen und hat ihr dort den Bauch und die Kehle aufgeschlitzt.«

»Wie furchtbar«, sagte Evelyn, und zum ersten Mal betete sie, dass sie sich täuschte und Fabian nicht zurückgekehrt war.

»Damit können wir alle Theorien, die mit männlichen Opfern zusammenhängen, vergessen. Hagemeier meint, dass es sich um denselben Täter handeln muss, da die Art, wie sie getötet wurde, die gleiche war wie bei den anderen Opfern.«

»Aber er ist vorher noch nie in einen Wohnwagen eingedrungen, oder?«

»Ich schätze, das hängt damit zusammen, dass diese Frau im Gegensatz zu allen bisherigen Opfern allein gereist ist.«

Tillmann sah sie an. »Was denkst du gerade?«

»Ich wünsche mir, dass es nicht Fabian ist.«

»Du weißt, dass ich das sowieso nicht glaube.«

»Ja. Ich aber schon.« Evelyn beugte sich über die Karte vor sich auf dem Tisch, setzte einen dicken Punkt neben den Ort Neuharlingersiel und verband ihn mit dem letzten Tatort.

»Er kehrt in einer Kurve wieder nach Westen zurück«, sagte sie dann. »Erst hat er sich im Zickzack Richtung Osten bewegt, nun geht es offenbar zurück. Das muss doch etwas zu bedeuten haben.« Sie fand den Campingplatz auf ihrer App und machte ebenso wie bei allen anderen einen Screenshot von den Informationen.

»Da ist noch was«, sagte Tillmann nach einer Weile. »Hagemeier möchte, dass ich morgen zurückkomme. Er braucht mich.«

»Okay«, antwortete Evelyn nur und horchte im selben Moment in sich hinein. Tat es ihr leid, dass Tillmann schon bald wieder abreiste? Oder war sie erleichtert?

Verblüffenderweise fühlte sie nichts. Es war ihr egal.