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Drei Stunden später – Jasper Kriebich war mittlerweile nach Hause gefahren, nachdem sie abgemacht hatten, sich am nächsten Tag wieder zu treffen – erhielt sie eine Nachricht aufs Handy. Sie kam über WhatsApp. Es war eine Sprachnachricht, und sie stammte von Tillmann.

Noch während sie sich fragte, wie das möglich war, erinnerte sie sich an Tillmanns Worte.

In den letzten Tagen ist viel passiert. Mehr, als du vielleicht glaubst. Du wirst es erfahren.

Würde sie es jetzt erfahren? Sie öffnete die Nachricht und ließ sie ablaufen.

 

Liebe Evelyn , hörte sie seine Stimme, und es versetzte ihr einen Stich ins Herz. Ich habe diese Nachricht mit einem WhatsApp-Terminplaner aufgenommen, damit ich nicht in deiner Nähe bin, wenn du sie abhörst. Ich gebe zu, ich bin zu feige, dir persönlich zu sagen, was ich dir sagen möchte.

Ich habe ein derart schlechtes Gewissen, dass ich nicht so recht weiß, wo ich mit meinem Geständnis anfangen soll. Aber ich muss jetzt reinen Tisch machen, ich halte diese Lügen nicht mehr aus.

Vielleicht beginne ich damit, dass ich dir versichere, dass alles, was ich getan habe, nur aus Liebe zu dir passiert ist und dass ich dir niemals weh tun wollte. Leider hat sich die ganze Geschichte aber verselbständigt, und ich habe mich in Situationen verstrickt, aus denen ich einfach nicht mehr herausgekommen bin.

Ich habe niemals aufgehört, dich zu lieben, aber du hast mich nach unserer Trennung nur noch als Kollegen und vielleicht als Freund gesehen. Weißt du, wie sehr es mich gequält hat, tagein, tagaus mit dir zu tun zu haben und dich nicht in den Arm nehmen zu dürfen? Ich kann dir versichern, es war die Hölle.

Dann passierte diese Sache mit dem Phantombild, und ab dem Moment, in dem du glaubtest, dein Bruder könnte vielleicht wieder aufgetaucht sein, warst du plötzlich anders zu mir. Du hast meine Nähe gesucht, es gab zärtliche Berührungen zwischen uns. Das hat mich so unglaublich glücklich gemacht. Dann fingst du an zu zweifeln, ob es sich wirklich um deinen Bruder handelt. Und was habe ich Idiot getan? In meiner Not dafür gesorgt, dass du rätselhafte Hinweise bekommst. Als ich auf dem Video gesehen habe, wie sehr dich Kleinbauers Aussagen aus der Fassung brachten, war ich bei ihm in der Zelle und habe nebenbei ein paar Informationen über Isabel fallenlassen. Ja, Evelyn, das war ich. Woher ich diese Dinge wusste, kann ich dir sagen, obwohl es darauf jetzt nicht mehr ankommt. Als wir noch zusammen waren, war ich eines Nachmittags allein in deiner Wohnung. Ich wusste, dass dein Tagebuch in der Schublade deines Nachtschränkchens liegt. Und ich habe es genommen und gelesen. Daher weiß ich so einiges.

Und wo wir schon dabei sind, das Gespräch mit Kleinbauer war auch keine Idee von Gersmann. Als ich am Telefon so tat, als habe er mich gefragt, ob ich mal mit Kleinbauer reden könne, hatte er schon aufgelegt.

Ja, und dann die Sache mit den Nachrichten und dem Anruf. Ich weiß, das ist unverzeihlich, aber die kamen von mir, Evelyn. Ich habe dafür ein Handy aus unserer Asservatenkammer benutzt, das wir einem marokkanischen Drogendealer abgenommen haben. Diese Dinger liegen dort zu Hunderten herum. So konnte ich sichergehen, dass bei Nachforschungen genau das herauskam, was ich dir auch erzählt habe. Frage mich bitte nicht, warum ich plötzlich auf die Idee kam zu behaupten, ich wüsste nichts von den Nachrichten. Vielleicht dachte ich, wenn du an deinem Verstand zweifelst, fühlst du dich so hilflos, dass du mir in die Arme sinkst. Ich weiß es nicht. Als du bei mir übernachtet hast, war ich vor dir auf, wie du ja weißt. Ich habe die Nachrichten und den Anruf einfach von deinem Handy gelöscht. Wie schon gesagt, irgendwann haben die Dinge sich verselbständigt. Und ich bin nicht mehr aus dieser Nummer rausgekommen und musste immer neue Lügen erfinden.

Evelyn, es tut mir unendlich leid, was ich dir angetan habe. Wahrscheinlich wirst du nie wieder ein Wort mit mir reden, aber ich musste dir einfach die Wahrheit sagen. Und ich fand, eine Sprachnachricht ist eine gute Form, denn ich weiß, wenn ich für mein Geständnis vor dir gestanden hätte, wäre mir kein Wort über die Lippen gekommen.

Ich habe die Nachricht schon gestern aufgenommen, als wir noch zusammen waren, weil ich mich gut genug kenne, um zu wissen, dass ich es mir sonst vielleicht doch wieder anders überlegt hätte. Aus Feigheit.

Wenn du irgendeine Möglichkeit siehst, dass wir jetzt noch miteinander reden können, dann lass es mich wissen. Denk bitte nicht zu schlecht über mich.

Ich bin immer für dich da.

Gerhard

 

Evelyn ließ das Telefon sinken und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.

Nein, du bist nicht mehr für mich da, dachte sie. Nicht für mich und nicht für sonst jemanden. Du bist tot. Weil du mich beschützen wolltest.

 

Eine ganze Weile hockte Evelyn da und dachte an ihre Zeit mit Tillmann zurück. An Dinge, die sie zusammen erlebt hatten, Momente, in denen sie gelacht hatten und glücklich zusammen waren. Dann war Fabian verschwunden, und mit ihm so vieles andere.

Etwa zwei Stunden später klingelte es an ihrer Wohnungstür, und als Evelyn öffnete, standen der Leiter der Forensischen Psychiatrie und Tillmanns Chef vor ihr.

»Fühlen Sie sich in der Lage für ein Gespräch?«, fragte Dr. Gersmann.

»Ja, sicher, kommen Sie doch herein.«

Nachdem sie im Wohnzimmer Platz genommen hatten, tauschte Hagemeier einen Blick mit Gersmann, dann sagte er: »Hauptkommissar Tillmann ist durch einen Stich ins Herz getötet worden. Nach dem, was wir bisher rekonstruieren konnten, hat Jürgen Rolfe – das ist der Name des Täters – ihm seine Dienstwaffe entrissen. Bei dem Gerangel um die Pistole haben sich mehrere Schüsse gelöst. Irgendwie muss der Täter es geschafft haben, seine Hand mit dem Messer freizubekommen.«

Hagemeier machte eine Pause, die Gersmann nutzte.

»Mittlerweile haben wir auch schon einiges über Rolfe herausgefunden. Wir haben seine Akten bekommen. Seine Taten sind schrecklich, aber ihm selbst ist auch Schreckliches widerfahren. Rolfe ist als Kind von zwei Männern entführt und wochenlang von einer ganzen Gruppe Pädophiler auf abscheulichste Weise missbraucht worden. Sie haben ihn misshandelt und gequält und …« Gersmann atmete tief durch. »Ihm wurden schlimme Verletzungen zugefügt. Das ist in einem Wohnmobil auf einem Campingplatz geschehen. Er konnte erst nach Wochen befreit werden. Es war wohl so, dass viele der Camper ihn gesehen haben, und der Junge hat anscheinend auch mehrfach versucht, auf seine Situation aufmerksam zu machen, aber das hat damals offensichtlich niemanden interessiert.

Er war danach massiv traumatisiert und hat seine gesamte Jugend und einen großen Teil seines Erwachsenenlebens in Psychiatrien verbracht. Nachdem er entlassen worden war, hat er sich ein altes Wohnmobil gekauft. Zu dieser Zeit hat er niemandem etwas zuleide getan. Er war ein sehr ruhiger und in sich gekehrter Mensch.

Irgendwann ist er dann auf einem Campingplatz von einer Gruppe Männer fast zu Tode geprügelt worden. Weshalb, das wissen wir nicht. Niemand ist ihm dabei zu Hilfe gekommen, obwohl der Platz sehr gut belegt war. Er hat schwere Verletzungen erlitten. So schwer, dass er fast daran gestorben wäre.

Wir gehen davon aus, dass ihn das getriggert hat. Er hat sich durch die Morde an den Campern stellvertretend an denjenigen gerächt, die damals zugesehen und ihm nicht geholfen haben, als er missbraucht wurde und als man ihn später zusammengeschlagen hat.«

»O mein Gott«, entfuhr es Evelyn. Sie hörte nicht zum ersten Mal von einem solchen Fall, aber dieser war besonders tragisch. Für Rolfe und für die Menschen, die er getötet hatte.

»Dass Rolfe dafür gesorgt hat, dass Herr Kriebich an diesem Abend zur Stelle war, können wir uns nur damit erklären, dass er in ihm das gesehen hat, was er sich so sehr gewünscht hätte: Jemanden mit Zivilcourage, der anderen hilft.«

»Fast könnte man Mitleid mit ihm haben«, sagte Evelyn leise. »Was ich aber noch nicht verstehe, ist, warum er sich für seine Taten Plätze mit vielen Dauercampern ausgesucht hat. Darüber habe ich ihn gefunden.«

»Wahrscheinlich, weil der Platz, auf dem er als Kind missbraucht worden war, ein Campingplatz für Dauercamper war. Ich schätze, er hat die beiden Ereignisse miteinander vermischt.«

»Letztendlich wirklich eine tragische Gestalt.«

»Ja.«

»Wie geht es Ihnen wegen Gerhard?«, erkundigte sich Hagemeier.

Evelyn zuckte mit den Schultern. »Er hat mich schlimm belogen. Aber er hat sein Leben dafür eingesetzt, um mich zu beschützen. Ich habe ihm vergeben.«